Skylla
Ich war einst sehr schön. Meine Spielgefährtinnen sagten es mir oft und auch meine Familie. Ich war ein liebes kleines Kind, schön wie der junge Morgen. Und doch war mir Glück nicht vergönnt.
Ich liebte das Leben. Ich liebte meine Freunde und meine Familie. Wir spielten fangen oder sangen gemeinsam. Die Welt zeigte mir ihre schönen Seiten. Am allerliebsten war mir das Meer. Meine Freundinnen mochten es auch, aber keine von ihnen teilte meine beinahe religiöse Begeisterung. Ich hätte stundenlang nur schwimmen können. Mich von den Wellen treiben lassen. Ich vermisse es, mit den Delphinen zu schwimmen. Mein Leben war einfach und doch lag darin eine gewisse Vollkommenheit. Aber das sollte sich ändern.
Eines Tages tauchte ein Mann aus dem Meer auf, als ich auf einem Felsen saß, mein Haar kämmte und verträumt mit den Zehen in den Wellen spielte. Er hatte blaue Haut und grünes Haar, doch war mehr an ihm als nur ein ungewöhnliches Aussehen.
Er war ein Gott. Sein Name war Glaukos und seine Haut war wie das Wasser, sein Haar wie der Seetang. Er sah ungewöhnlich aus, aber nicht hässlich. Ich mochte ihn.
Jedes Mal, wenn ich an den Strand kam, war er schon da, um mich zu begrüssen. Manchmal brachte er mir ein Geschenke mit. Perlen aus den Tiefen des Meeres, eine Kette aus Bernstein, glänzende Muschelschalen. Er schmeichelte mir. Verglich mich mit einem Sonnenaufgang, einem Korallenriff, selbst mit exotischen Fischen.
Ich habe es erst bemerkt, als es zu spät war. Er liebte mich. Vielleicht hatte ich ihn ermuntert. Vielleicht hat der Mangel an Ermunterung ihn dazu getrieben. Oh, welchen Schmerz es mir bereiten sollte.
Er wandte sich an Kirke, die Zauberin. Er wollte, dass ich seine Gefühle erwidere. Hätte er mich doch nur gefragt. Vielleicht hatte ich es einst getan und seine Tat wäre unnötig gewesen.
Kirke wollte Glaukos nicht helfen. Sie liebte ihn und wollte ihn für sich allein haben. Ich war in ihren Augen ein Störenfried, ein hassenswertes Ding. Ich sollte aus ihrem Leben verschwinden.
Sie hätte mich töten können. Ich frage mich, warum sie es nicht getan hat. Warum war sie so grausam?
Mein Schluchzen hallt über die Klippen. In der Ferne kann ich das Gurgeln von Charbydis hören. Sie saugt das Wasser ein; dreimal am Tag tut sie das. Seit ich hier an diesem Strand hause, ist es nie anders gewesen. Ich bin dem Mensch Charbydis niemals begegnet. Die wenigen Möwen, die sich in meine Nähe wagen, erzählten mir, dass sie einen Frevel begangen hatte. Sie hatte die Rinder des Helios gestohlen und wurde von Zeus mit einem Blitz erschlagen. Ihre Seele und ihre Gefräßigkeit leben jedoch fort und verschlingen alles.
Ich hasse sie. Sie ist eine gefräßige Sünderin gewesen und verdient ihr Schicksal. Doch ich habe niemals etwas getan, um das meinige zu verdienen. Niemand leistet mir Gesellschaft. Sie fürchten mich. Bezeichnen mich als Monster. Nur die Möwen kommen mir nahe, doch auch sie fliehen schon nach kurzer Zeit.
Und das habe ich nur Kirke zu verdanken. Sie gab sich nicht damit zufrieden Glaukos gegen mich aufzubringen. Sie nahm mir nicht nur den Mann – sie nahm mir noch viel mehr. Nur die Götter wissen, wie es ihr gelang.
Als ich an jenem schicksalsschweren Tag baden gehen wollte, hatte sie das Meer vergiftet. Zuerst spürte ich kaum etwas. Ich trat in das herrlich kühle Nass und wartete ob Glaukos erschien. Doch er kam nicht. Ich ging tiefer ins Wasser, bis zum Bauchnabel umspülten mich die Wellen. Und dann geschah es.
Das Wasser schien zu brennen. Meine Beine und mein Unterleib verwandelten sich in Schmerz. Ich schrie, lief zurück. Doch schon nach kurzer Zeit spürte ich meine Beine nicht mehr. Aber ich spürte etwas anderes. Ich stürzte aus dem Wasser. Oberhalb meines Bauchnabels war ich Mensch geblieben. Eine wunderschöne Frau, der Liebling eines Gottes. Doch wo einst meine Hüften und Beine waren, erhoben sich nun die Köpfe von Hunden und die Tentakeln eines Oktopus.
Mein Herz setzte aus, doch es schlug bald umso schneller. Ich stieß einen Schrei aus, doch in meiner Stimme lag nichts Menschliches mehr. Ich brachte nur noch ein donnerndes Heulen zustande, wie ein Seehund nur verzerrter und dunkler. Ich wollte um Hilfe rufen, doch auch jetzt kamen keine menschlichen Worte über meine Lippen.
Ich kroch an Land, schlug auf meinen deformierten Körper ein, als könnte ich ihn wieder in eine Form zurück zwingen, die man als menschlich bezeichnen konnte. Doch was gerade begonnen hatte, endete bald. Die Hundeköpfe stimmten in meinen Schrei ein. Ich begann sie zu fühlen. Und dann sah ich durch ihre Augen. Die Welt durch mehrere Augen zu sehen. Vielleicht ein Traum, doch es entsetzte mich. Einer der Köpfe sah mir in das Gesicht und ich sah mich selbst. Bleich wie der Mond war ich geworden. Sämtliche Farbe war aus meinem Körper verschwunden. Meine einst strahlenden Augen waren nur noch kleine schwarze Punkte, mein dichtes schwarzes Haar war nur noch eine weiße zerzauste Mähne. Ich schrie entsetzt und die Hundeköpfe – meine Köpfe! – stimmten ein!
Die Transformation war bald abgeschlossen und ich lernte mich zu bewegen. Mit den Tentakeln konnte ich mich über das Land bewegen, indem ich langsam vorwärts kroch. Ich wollte nach Hause gehen und um Hilfe bitten. Doch als mich meine Familie, meine Freunde, sahen, halfen sie mir nicht. Sie erkannten mich nicht. Sie sahen nur das Monster. Mit Steinen trieben sie mich fort. Meine Haut war fest geworden und die Steine prallten an mir ab. Jedoch ich konnte den Schmerz nach wie vor spüren. Er trieb mich fort. Er und der Ausdruck in ihren Augen. Ich sah pure Angst. Sie fürchteten mich.
Ich floh zurück zu meinem Felsen. Ich weinte bitterlich. Doch meine Tränen waren nicht mehr klar. Nun waren sie rot und bitter. Und selbst mein Schluchzen klang nicht mehr einnehmend und verwundbar, sondern wie das Lachen einer Irren. So sah mich Glaukos.
Er erhob sich aus den Wellen, die mich entstellt hatten. Ich hatte mich im Schatten verborgen, aber ich wagte mich vor ihn. Er liebte mich. Er würde mir doch sicherlich helfen!
Doch als er mich sah, wich er entsetzt zurück. Ich streckte meine Hand nach ihm aus, wollte mit ihm reden. Doch er hob einen Felsbrocken – oh, wie stark er doch war! – und schleuderte ihn mir an den Kopf. Ich schrie, dass er aufhören sollte, doch meine Kehlen betrogen mich. Alles was Glaukos hörte, war das zornige Brüllen eines Ungeheuers und so warf er noch einen Felsen. Und dann griff er zu seinem Speer. Ich wollte es nicht…
Doch als er mich angriff, schlug ich nach ihm. Ich wollte ihm nicht wehtun. Ich wollte doch nur, dass er aufhört mich anzugreifen. Ich wollte, dass er aufhört, mir Schmerzen zuzufügen. Mein Schlag schleuderte ihn in das Meer zurück. Meine Tentakeln waren stärker als ich erwartet hatte.
Entsetzt schrie ich auf. Ich wollte Glaukos folgen. Ich wollte ihm sagen, dass ich es nicht so gemeint hatte. Dass es mir leid tat. Doch auch dies war mir verwehrt. Als ich das Wasser berührte, spürte ich wieder den brennenden Schmerz und ich wich zurück. Zitternd streckte ich meine Hand nach dem Wasser aus. Noch bevor ich es berühren konnte, begann es zu brodeln.
Kirke hat mir alles genommen. Meine Schönheit, den Mann und nun auch noch das Meer. Ein letztes Mal schrie ich und die blutigen Tränen rannen über mein Gesicht. So sah mich Glaukos das letzte Mal, bevor er wieder in das Wasser hinab tauchte. Ein Monster das scheinbar lachte.
Nun sitze ich jeden Tag auf diesem Felsen. Schon mehrmals habe ich versucht mich ins Meer zu stürzen, um von ihm verbrannt zu werden. Doch es tötet mich nicht. Es foltert mich nur und wirft mich danach zurück an Land. Ich rief nach Poseidon, doch nie ist er erschienen. Ich flehte zu Zeus, doch er beendete mein Leib nicht. Und nun sitze ich gegenüber von Charbydis und beobachte die wenigen Schiffe, die zwischen uns hindurch fahren. Sie meiden uns beide, bewegen sich auf einem schmalen Pfad. Ich rufe manchmal nach ihnen, doch sie hören nur das Bellen eines Ungeheuers. Ich will doch nur Hilfe. Aber sie hören nur die Drohungen der Bestie.
Und das bin ich letztendlich geworden. An meinem Felsen gibt es keine Nahrung. Und ich kann das Wasser nicht betreten, um mir einen Fisch zu fangen. Ich hungere Tage und Wochen. Und wenn sich dann ein Schiff zu nahe an meinen Felsen wagt, bettel ich um Nahrung. Doch sie hören es nicht. Mein Flehen klingt wie das Grollen eines Raubtiers. In meinen bittend ausgestreckten Tentakeln sehen sie nur das Biest das nach ihnen greift.
Ich wollte es nicht! Ich will es immer noch nicht. Doch wenn ich bettel und sie mich attackieren, überwältigen mich Schmerz und Hunger. Ich tue es doch nicht, weil ich es so will! Sondern weil ich so hungrig bin!
Kirke hat mir nicht nur meine Gestalt genommen. Meine Stimme. Meine Freude. Sie nahm mir auch die Menschlichkeit.