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Skandal!
Die Kanzlerin tritt aus dem Fahrstuhl, umgeben von den üblichen Anzugträgern. Alle schwitzen, es ist ein heißer Tag. Selbst der so unkörperlichen, politischen Erscheinung rinnt das Wasser die Nasenspitze hinab. Doch ist es nur die Hitze, die für solche Anspannung sorgt?
Nein, natürlich nicht. Es ist das Thema, das die Republik seit Tagen umtreibt. Die Medien sind sich zum ersten Mal seit Watergate absolut einig: eine Katastrophe für die politische Welt. Und heute wird das Statement der Regierungschefin erwartet. Die letzten Stunden waren von heftigen Diskussionen geprägt. Ein Brennpunkt wurde ausgestrahlt, in den Talkshows machten die Parteienvertreter erste zögerliche Ansätze hin zu einer Aussage. Doch den Wählern ging das nicht weit genug – und der gesellschaftliche Widerstand formierte sich. Die sozialen Einflussnehmer haben sich bereits zahlreich zu Wort gemeldet. Die Hashtags beherrscht die deutschen Twittertrends, während Internetvideoplattformen wie YouTube von den entschlossenen Forderungen der engagierten „Influencer“ prall gefüllt sind. Sie fordern Reaktion und reagieren selbst auf die Reaktionen ihrer Mitwettbewerber – und andere wiederum reagieren darauf. Alles reagiert.
Doch bis jetzt haben sich die großen da oben bedeckt gehalten. Es ist Wahlkampf, jeder fürchtet den falschen Schritt. Der Konkurrent der Kanzlerin hatte einen gewagt. Und war fehlgetreten. Er hatte das Thema weggewischt, gesagt, dazu wolle und werde er keinen Kommentar abgeben. Es sei der politischen Diskussionskultur nicht angemessen. Doch was ist politisch, wenn nicht die Debatte aus der Mitte der Gesellschaft? Natürlich wurden sein Auftritt und diese Aussage bereits medial auseinandergenommen. Satiriker der ganzen Republik haben sich köstlich amüsiert, die jungen Videomacher von YouTube und ähnlichen Plattformen sind empört und es existierten bereits die kuriosesten Zusammenschnitte des Auftritts mit glücklos herumtollenden Katzen. Der Konkurrent der Kanzlerin ist am Ende, die gestrige Sonntagsfrage sah seine Partei auf unter 10% fallen.
Aber jetzt liegt die Aufmerksamkeit bei der Kanzlerin. Sie hat mittlerweile den Weg vom Aufzug zum Rednerpult genommen, durch silberne Korridore, deren nüchterne Aufmachung der Brisanz dieser Situation Hohn spricht. Der Regierungssprecher unterbindet bereits erste Zwischenrufe der unruhigen Reporter, bis seine Chefin ans Pult tritt. Dann beginnt ein Moment der Stille, während dem selbst dieser emotionslose Mann nervös auf seinem Bleistift zu kauen beginnt. Ein Knistern liegt in der Luft – was wird sie sagen?
Es geht um die größte politische Debatte dieses Wahlkampfs. Die von den Parteien angeführten großen Plakate sind dahin! Soziale Gerechtigkeit, Wirtschaftswachstum, Maximalbeschäftigung, Sicherheit und Freiheit, die Einheit der internationalen Gemeinschaft – alles dahin, entlarvt als die Worthülsen, die sie nun mal sind. Nun wird im Kleinen plakatiert, jetzt spricht das Volk!
Und es ist gnadenlos. Kein Fehler bleibt unbemerkt, kein Skandal unkommentiert. Die Zeit der Wattebäuschchen ist vorbei. Nun geht es um die wirklichen, großen und zukunftsweisenden Fragen, die die Politiker an der Spitze beantworten müssen. Es geht vor allem um diesen Konflikt.
Es war vor nicht wenigen Tagen, am 13. September, da geschah es auf dem großen Platz der Hauptstadt. Sicherheitskameras haben es aufgenommen, Zeugen gesehen und die schnellsten unter ihnen rasch mit dem Handy bildliche Beweise hergestellt. Man sieht bereits auf diesen Videos das Chaos, das aus der Situation heraus entstand – das Entsetzen und den Schock der Beistehenden, auf deren rasche Genesung wir alle hoffen.
Ein Mann mittleren Alters und bereits deutlich zurückgegangener Haarlinie stand da, wischte sich den Schweiß vom Gesicht, blickte sich um… und dann das Unfassbare, das Grauen: er blies beim Ausatmen mehr Luft aus dem linken Nasenloch als aus dem rechten.
Bei den wenigen aber natürlich sehr verlässlichen Aufnahmen ist deutlich zu sehen, wie sofort der Schrecken ausbrach. Die unschuldigen Spaziergänger schlugen sich die Hände vor den Mund, ein kleines Kind begann lauthals zu weinen und eine alte Dame fasste sich nur noch an die Brust – dann musste sie ins Krankenhaus gebracht werden; wurde gerade noch vor dem plötzlichen Herzstillstand gerettet.
Seitdem drängt die Republik auf Antwort: wie konnte das geschehen? Unter den Hashtags #Nasenloch und #Nasengate forderten breite Schichten der Gesellschaft Stellungnahme, während der ungleichmäßig atmende Mann in Schutzhaft genommen wurde.
Jetzt – endlich – ist es so weit. Die Kanzlerin steht am Pult und sie legt nun die Hände zusammen, wie sie es immer tut, wenn es bedeutsam wird. Die Luft funkelt bereits vor Anspannung, das Flair des Schicksals umwallt uns Journalisten allesamt, wir spüren die Bedeutsamkeit des Moments.
„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger“, beginnt sie mit fester und ruhiger Stimme zu sprechen. „Wir erleben gerade eine große Krise. Es hat uns unerwartet getroffen, was mitten im Herzen unserer Republik geschehen ist. Bisher ist noch nicht vollständig geklärt, wie es zu dieser asynchronen Exspiration kommen konnte.“ Sie macht eine kurze Pause, während der mein Nachbar nickt und andächtig die Augen schließt. Es ergreift uns alle.
„Doch wir leben in einer starken und guten Republik mit entschlossenen und wunderbaren Menschen!“, setzt sie ihre Rede dann fort und der Tonfall sorgt für Stirnrunzeln bei meinem Nachbar. „Deshalb bin ich überzeugt und freue mich angesichts dieser Katastrophe sagen zu können: Wir schaffen das!“
Der Tumult bricht los! Wir Journalisten springen allesamt auf, rufen und brüllen durcheinander – während unsere Handys bereits vibrieren. Die sozialen Netzwerke glühen, die Empörung ergießt sich wie eine Sintflut! Wie leichtfertig die Kanzlerin das abtut!
Wütend fordern wir weitere Erklärungen, brüllen nach der Antwort, die wir haben wollen! Doch die Kanzlerin gab keine, sie wird von breit gebauten Bodyguards abgeschirmt und aus dem Raum geführt, als bereits der erste Schuh fliegt. Wir wollen doch eine Antwort! Worauf? Auf Alles natürlich!
Doch dies ist nun die größte aller Katastrophen. Fassungslos sinke ich auf meinem Stuhl zusammen. Das Vertrauen in die politische Führung unseres Landes ist dahin – die Hoffnung auf eine gute Zukunft: verloren.