Sitzung Nr.23-a : Wenn Helden weinen...
„Manche sagen, wir wären Engel. Andere behaupten, wir wären Monster. Und jene, die uns noch nie zu Gesicht bekommen haben, halten uns für die Ausgeburt einer regen Fantasie.
Sie wissen nicht, wie das ist, wenn einen diese unbegreifliche, immer präsente Macht durchfließt, die wie eine andere Person im gleichen Körper sitzt. Ihn für sich einnimmt und eigene Befehle an den Verstand erteilt. Diese Präsenz droht einen zu verschlingen. Sie vibriert im Inneren, einem ständigen Stromfluss gleich. Selbst in der Nacht. So etwas wie Ruhe oder Schlaf kenne ich nicht. Am schlimmsten ist der Gedanke an diese Macht. Sich dessen bewusst zu sein, dass man anders ist als andere. Dass man über jeden Menschen auf dieser Welt die absolute Kontrolle haben könnte. Wie soll ich Ihnen das erklären? Wie soll ich Ihnen begreiflich machen, was ich fühle, wenn nicht einmal ich selbst alles verstehe? Der Sinn. Wo liegt der Sinn?
Ich werde verehrt. Ich werde angespieen. Diejenigen, die mich herbeisehnen, werden eingesperrt, da sie an mich glauben. Verrückte und Spinner nennt man sie. Die anderen sehen in mir nur eine gezeichnete Figur, die von Zeit zu Zeit einige Sprechblasen in die Luft spuckt. Sie erhalten keine Bezeichnung. Sie sind normal.
Ich darf mich nicht zeigen, soll aber immer präsent sein. Meine Taten dürfen nicht bekannt werden, sollen aber immer groß sein.
Langsam beginne ich zu verzweifeln. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll, denn diese Gabe, dieses Geschenk, das ich erhalten habe, vielleicht von Gott selbst, ist nicht mehr das, was es einmal war. Ich will helfen, aber darf nicht.“
Durch das große Glasfenster an der Südseite konnte man direkt hinaus in den Sommer sehen. Wenn der Blick hindurchfiel, war es, als schaute man der Jahreszeit selber ins Gesicht. Die Sonne funkelte am blauen Himmel. Vögel flogen umher und sangen ihre Lieder. Das Lachen von Kindern, die wild herumtoben. Eltern, die stolz auf ihre Sprösslinge blicken und dabei an einem kalten und einladenden Eis lecken.
Und es war, als hätte die Praxis mittlerweile exakt die gleiche Temperatur wie dieses Eis erlangt. Ununterbrochen lief die Klimaanlage auf der höchsten Stufe und das ständige Summen war der Begleiter der gesamten Sitzung.
Dr. Diaz saß auf einem ledernen Schreibtischstuhl und hielt eine kleine Schreibunterlage in der Hand, auf der sich bereits zahlreiche Notizen angesammelt hatten. Er erfüllte so ziemlich jedes Klischee eines Therapeuten. Gräuliche Haare, runde Brille, ein immerwährend nachdenkliches Gesicht und die obligatorischen Turnschuhe, die ihre besten Tage auch schon hinter sich hatten.
Der Patient war da anders, denn er ließ sich in kein bekanntes Schema einordnen. Er trug schwarze Lederschuhe zu einer kurzen braunen Jeanshose. Darauf ein T-Shirt mit dem Schriftzug einer bekannten Getränkefirma. Und auf seiner Nase thronte eine Designerbrille, die wohl den drastischsten Kontrast zur übrigen Kleidung darstellte. Sein Gesicht war merklich angespannt und kleine, schwarze Locken fielen ihm in die Augen. Hinter jenen spielten sich eigenartige Dinge ab. Es war, als würden feine Schatten darin einen exotischen Tanz aufführen. Dr. Diaz versuchte immer wieder, in die Tiefen seiner Augen vorzudringen, die von einer unheimlichen Unruhe durchzogen wurden, doch bei jedem Blickkontakt drehte der Patient sich weg, Nur die Augen, nicht den Körper, der ruhig und gelassen in einem roten Ohrensessel saß.
„Hmmmm.“ Ein langes, bedeutungsschwangeres Geräusch entfuhr dem Munde von Dr. Diaz, gefolgt von einer kurzen Pause, welche die Intensität des Augenblicks noch steigerte.
„Lassen Sie mich das noch einmal kurz zusammenfassen. Sie behaupten von sich selbst, so etwas wie ein Held zu sein. Nur einer von vielen. Und Sie wollen helfen, dürfen das aber aus mir unbekannten Gründen nicht. Mit dieser Situation kommen Sie nicht zurecht und nun erwarten Sie von mir, dass ich Ihnen helfe, mit dem Status eines Helden zurechtzukommen.“
Die Mimik des Patienten änderte sich nicht, als er nach kurzem Zögern antwortete.
„Ich erwarte von Ihnen nichts, denn ich setze keinerlei Hoffnungen in dieses Gespräch.“
„Warum tun Sie das nicht und warum sind Sie dann hier?“
„Weil Sie mir nicht glauben und weil ich nur jemanden brauche, der mir zuhört.“
„Sie haben recht. Ich glaube Ihnen nicht. Versuchen Sie doch, mir das Gegenteil zu beweisen.“
Nun tat sich etwas in seinem Gesicht. Man konnte sehen, wie die Gedanken in seinem Kopf rastlos umherwanderten. Seine Nase zuckte und seine Mundwinkel verzogen sich zu einer unbestimmten Grimasse.
„Wie bitte soll ich das machen?“ Der Patient wurde ungehalten. „Ich habe Ihnen gesagt, dass ich nichts erzählen darf, dass ich im Dunkeln verweilen muss, wie ein Tier, das sich in der Nacht versteckt.
Aber gut. Mein richtiger Name ist Andre Picard und ich kontrolliere die Kräfte der Erde.“
Dr. Diaz blickte über seine Brille hinweg in das Gesicht des Patienten. Er holte zischend Luft und legte seinen Stift zusammen mit den Notizen neben sich auf dem Boden ab. Die Brille verschwand komplett von seiner Nase, als er seinen Körper auf dem Stuhl entspannte, um ebenso gelassen auf sein Gegenüber einreden zu können.
„Und um welche Kräfte genau handelt es sich dabei?“
„Kennen Sie Newton?“
Diaz reagierte nicht.
„Ich kann die Gesetze außer Kraft setzen. Wenn ich will, wiegen Sie plötzlich hundert Kilo mehr, oder ich lasse die Anziehungskraft so stark auf Sie wirken, dass Sie sich selbst am Boden zerquetschen. Ich besitze eine gesteigerte Wahrnehmungskraft und eine entsprechende Reaktionszeit. Nicht einmal eine Gewehrkugel könnte mich töten. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich blute und ich altere, aber bevor mich etwas treffen könnte, oder bevor mir auch nur jemand zu nahe käme, würde ich ihn oder es stoppen.“
Dr. Diaz versteifte sich wieder und krümmte seinen Rücken nach vorn, sodass sich ihre Gesichter nun direkt gegenüber standen.
„Haben Sie keine Angst, dass ich Sie einweisen lasse? Sie machen mir eigentlich einen intelligenten Eindruck, aber sie kommen freiwillig hierher und erzählen mir solche Dinge.“
„Ich glaube nicht, dass Sie mich in irgendeiner Weise verletzen würden. Und solch eine Einweisung, wie Sie sie eben nannten, würde mich verletzen.“
„Wie kommen Sie darauf, dass ich dies nicht machen würde? Was macht Sie so sicher?“
„Weil ich Ihnen nicht nur drohen müsste, sondern ich wäre gezwungen, auch zu handeln. Ich sagte Ihnen ja, dass nichts über mich herauskommen darf.“
Jetzt verzog sich das Gesicht von Dr. Diaz zu einer Grimasse. Er wusste nicht genau, wie er sich verhalten sollte, denn Nervosität und Unsicherheit spiegelten sich in seinen Augen wieder.
„Ich glaube, dass Sie mir gerade gedroht haben.“
„Wenn Sie meinen.“
„Und was würden Sie tun?“
„Ich weiß es noch nicht und ich möchte zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht darüber nachdenken.“
„Dann bekräftigen Sie doch mal Ihre Drohung und führen Sie mir Ihren Angriff auf Newton vor.“
„Das kann ich nicht, aber ich kann Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Es gibt immer wieder kleine Zeichen und Ungereimtheiten, die auf Menschen wie mich aufmerksam machen.“
Diaz schaute nun mehr verachtend als interessiert. Nach dieser Drohung war es, als sei sein berufliches Engagement einfach weggewischt.
„Gibt es ein solches Beispiel denn auch in Ihrem Fall?“
„Erinnern Sie sich an diesen Großbrand letzte Woche? An diese Frau, die aus Angst vor den Flammen aus dem zehnten Stock sprang und unverletzt überlebte?
Ich war dort. Ich hielt ihren Sturz auf.“
Die Brille des Therapeuten saß mittlerweile wieder auf seiner Nase und der Notizblock war auch wieder zurückgekehrt. Aber seine Schreibbewegungen hatte sich geändert. Er schrieb sich nicht länger die Eigenheiten und Erfahrungen seines Patienten auf, sondern überlegte bereits, wie ihm zu helfen sei.
„Ich dachte, Sie dürften nichts erzählen? Warum eigentlich? Und warum tun Sie es dennoch?“
„So viele Fragen auf einmal? Wieso beantworten Sie nicht meine Fragen?“
„Sie haben keine gestellt. Ich soll Ihnen doch nur zuhören. Also erzählen Sie schon.“
Die tanzenden Schatten verschwanden aus Picards Augen und wurden von einem ärgerlichen Blick ersetzt. Seine Haltung und seine Stimme schienen sich auch zu ändern, so als wäre er jemand anderes.
„Sie wollen, dass ich Ihnen etwas erzähle. Nun gut, aber es wird Ihnen nicht gefallen. Und es wird Ihnen noch viel weniger gefallen, was Sie dadurch erleben werden.
Es ist ein ungeschriebenes Gesetz. Jeder von uns kennt es und jeder von uns wird es befolgen. Wird dieses Gesetz gebrochen, folgen Konsequenzen, die von den anderen festgelegt werden. Aus Engeln werden Monster. Engel töten Engel. Monster töten Monster. Ja. Wir helfen Menschen. Aber was ist, wenn wir unseren Launen ausgesetzt werden? Auch Sie haben schon einmal auf den Tisch gehauen. Wenn ich jedoch umgangssprachlich auf den Tisch haue, passieren andere Dinge als bei Ihnen. Wir brauchen dieses allumfassende Gesetz, um solche Ausbrüche zu verhindern. Wenn wir also große Taten vollbringen, welche die Menschen zur Kenntnis nehmen, oder wenn wir anderen von uns erzählen, wird eine Grenze überschritten. Und dieser erste Schritt ist der Beginn einer langen Reise, in der wir vollkommen die Kontrolle verlieren.
Wir sind auch nur Menschen und jeder Mensch verliert irgendwann mal die Kontrolle. Konsequenzen, wie gesagt, folgen. Wollen Sie wissen, wie diese Konsequenzen aussehen? Wir töten uns gegenseitig, denn niemand ist von jenseits der Grenze wieder zurückzuholen. Ich selbst habe schon unzählige Helden getötet. Ich habe sie am Boden zerdrückt; ich habe sie einfach vernichtet. An meine Händen klebt Blut. Sie haben mehr Leben ausgelöscht als gerettet und die Tendenz wird steigen. Kennen Sie das Sprichwort: Reich ist das Land, das seine Helden hat, doch arm ist das Land, das Helden braucht? Ihr braucht uns, doch reich macht euch das nicht. Jeden Tag danke ich für diese Gabe, besonders dann, wenn sie mich einmal wieder überwältigt.“
Diaz schmiss den Block zu Boden.
„Ich denke, das reicht jetzt. Bitte bleiben Sie eine Weile hier sitzen. Ich muss einen Anruf tätigen. Sie leiden unter Wahnvorstellungen und einer gespaltenen Persönlichkeit und Ihnen muss geholfen werden.“
Als der Arzt diesen Satz beendet hatte, begann das Gebäude leicht zu beben. Risse klafften wie Wunden in den Wänden auf. Es war, als würde das Haus in sich zusammenfallen. Vielmehr in sich zusammengedrückt.
„Ein Erdbeben. Wir müssen hier raus!“ Diaz verfiel in Hektik und Angst. Er griff Picard am Handgelenk und zog diesen von seinem Stuhl, in dem er noch immer regungslos saß.
„Denken Sie wirklich, dass es sich hierbei um ein Erdbeben handelt?“
Die Augen des Doktors wurden groß und blickten starr auf seinen Patienten.
„Glauben Sie wirklich, dass dies hier ihr Werk ist?“
„Ich wollte es nicht. Aber ich musste es tun. Verstehen Sie nun endlich mein Dilemma?“
„Ich verstehe, dass Sie vollkommen verrückt sind!“ Er schrie gegen das Brechen des Gebäudes an. Überall brach Stein und Stahl. Feuer begehrten auf. Menschen flüchteten lautstark.
Als Diaz die Tür erreichte, kam ein Teil der Decke hinunter und sperrte die beiden ein. Schützend zog er seine Armen über den Kopf und lief wieder tief in seine Praxis hinein.
„Na, sehen Sie jetzt endlich?! Niemals würden Sie sich selbst einsperren. Wir werden jetzt beide sterben!“
Neben der Angst in seiner Stimme konnte man auch einen Hauch von Genugtuung heraushören. Er hatte bewiesen, dass Piccard nicht eine lebendig gewordene Comicfigur war.
Glas splitterte und das große Fenster, das hinaus in den Sommer zeigte, zerbrach in tausend Stücke. Der Patient schritt fast wie in Hypnose darauf zu und sprang mit einem einzigen Satz hinaus. Ungläubig blickte Diaz dem Springenden hinterher, der sich nun im freien Fall aus dem zwölften Stock befand.
Tränen liefen Picard aus den Augen, die sofort vom Wind in alle Richtungen verteilt wurden, als das komplette Gebäude neben ihm zusammenbrach. Der Boden näherte sich schnell, als den ungläubig dreinschauenden Passanten, die das Unglück aus weiter Ferne betrachteten, die Antwort gegeben wurde, ob es sich bei dem Patienten um einen Verrückten oder einen Helden handelte. Er selbst wusste aber eins bestimmt. Er war ein Monster. Kein Engel.