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Sirenen

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22.03.2015
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Sirenen

Hastig zog ich mir mein T-Shirt über und warf einen Blick auf die Uhr. 09:12 Uhr. Noch beinahe 45 Minuten. Es war bereits ungewöhnlich warm für diese frühe Tageszeit. Ich ging ans Fenster und warf einen prüfenden Blick hinaus. Ein wolkenverhangener Himmel hinderte die Sonne größtenteils an ihrer Aufgabe. Doch die Straßen waren trocken, und das reichte mir. Ich blickte mich in meinem Zimmer um, doch ich konnte meine Schuhe nirgends entdecken. Demnach würde ich sie entweder in der Diele oder auf der Veranda finden. Eilig griff ich noch nach Geldbeutel und MP3-Player und steckte beides in die hintere Hosentasche.

Ich verließ mein Zimmer und ging die Treppe hinunter. Aus Richtung des Wohnzimmers ertönte überdrehtes Gequatsche und verspielte Musik. Klara, meine (bedeutend) jüngere Schwester, war anscheinend wieder in ihrem Cartoon-Marathon versunken, den sie jeden Sonntag absolvierte. In der Diele standen meine Schuhe. Ich schlüpfte hinein und betrat dann die Küche. Das Radio lief leise und die Kaffeemaschine enthielt eine volle Kanne frischen Kaffee. Meine Eltern waren bereits wach, aber weit und breit war niemand zu sehen.
Ich hatte Hunger doch zum Frühstücken war es inzwischen bereits zu spät. Zuversichtlich öffnete ich den Kühlschrank und fand ein paar Pfannkuchen unter Alufolie verpackt. Ich griff mir einen davon und eilte dann über die Küche die Garage.

Mein Fahrrad hing an der Wand. Ich selbst hatte es am Vorabend lediglich achtlos an die Hauswand gestellt. Also musste mein Vater es dort aufgehängt haben. Er hasste Unordnung in der Garage und ich war mir sicher, dass es dafür später eine Standpauke hageln würde. Erst jetzt band ich mir die Schuhe zu in die ich zuvor eilig hinein geschlüpft war. Ich zwängte mich an unserem (gigantisch großen) Auto vorbei und öffnete das Garagentor. Auch wenn die Sonne ausblieb, war es doch angenehm warm. Die Wärme passte so rein gar nicht zum Grau, welches der Himmel abwarf doch ich war dankbar.

Ich setzte mir meine Kopfhörer auf und startete den MP3-Player. Mein Wohnviertel versank in einem Gitarrensturm. Ich nahm das Fahrrad von der Wand und schwang mich auf den Sattel. Es war nicht nötig meinen Eltern zu sagen, wohin ich fuhr. Sie wussten es schon seit Langem. Seit Jahren.
Die Nachbarhäuser zogen rasend an mir vorbei und mein T-Shirt flatterte im Fahrtwind. Wir hatten uns an der letzten Kreuzung vor dem Bahnübergang miteinander verabredet und bis dahin ging alles bergab. Mit ein paar wenigen Bissen schlang ich den Pfannkuchen hinab, den ich hatte mitgehen lassen. Eines meiner Lieblingslieder hallte durch meinen Kopf:
„There are so many things i hold beyond their reach. The doom you promised me, may come, i´m not afraid. You cannot save me. I am the counterwheigt.“

Ich sah Mark schon von Weitem. Er war allein. Ich hatte gehofft er würde seine Schwester mitbringen. Sie war 2 Jahre älter als wir, verbrachte aber viel Zeit mit uns Jungs. Sie war das, was man allgemein als cool bezeichnete. Ganz anders als die meisten anderen Mädchen, die ich kannte. Ich mochte sie wirklich sehr. Die Kreuzung kam näher und ich begann abzubremsen. Sonntags warnormalerweise kaum bis gar kein Verkehr in unserem Ort. Was diesen speziellen Sonntag betraf, war ich mir allerdings nicht so sicher.
Ich vergewisserte mich, dass mich weder von links noch rechts ein Auto auf die Hörner nehmen würde und fuhr über die Kreuzung. Mit einer viel zu späten Vollbremsung kam ich knapp vor Mark´s Vorderreifen zum Stehen. Lässig nahm ich meine Kopfhörer ab.
„Angeber!“ sagte er gelangweilt.
„Wartest du schon lange?“
„Nö. 5 Minuten vielleicht. Scheiße echt, ich hätte beinahe verschlafen, wenn mein Vater nicht auf die grandiose Idee gekommen wäre, um 9 Uhr den Rasen zu mähen.“

Ich sah auf meine Uhr. Es war bereits nach halb zehn. „Wo bleibt der Idiot Columbus?“ fragte ich leicht nervös. Mark zuckte nur mit den Schultern. Columbus hieß eigentlich Christopher. Eines Tages hatte er jedoch, beim umher streunen in den umliegenden Wäldern, einen kleinen See mit einer Insel in der Mitte entdeckt. Diese Insel beanspruchten wir drei seitdem als unser Grundstück und Eigentum. Im Sommer verbrachten wir dort manchmal den ganzen Tag.
So wurde aus Christopher Columbus.

„Vielleicht ist sein Fahrrad unter ihm zusammengebrochen!“ kicherte Mark (Columbus hatte ein paar Kilos zu viel auf den Rippen).
Ich grinste kurz und sah dann nach oben. Hier und da waren die Wolken noch dunkler geworden als zuvor. „Wehe, wenn es regnet!“ drohte ich.
„Meine Ma meinte es hält sich.“ Mark gähnte lautstark und schüttelte seinen Kopf. „Da ist er“, rief ich und zeigte die Straße hinunter. Von Weitem sahen wir Columbus in die Pedale treten. Er ließ sich von 2 Autos (die im Schneckentempo fuhren) überholen, bevor er endlich die Kreuzung erreichte. Die Anstrengung war ihm deutlich anzusehen. Schweißflecken hatten sich auf seinem Shirt gebildet und seine Stirn glänzte. „Sorry Leute“, sagte er und rang nach Luft, „meine Eltern haben mich den ganzen Morgen bequatscht und wollten es mir ausreden. Wollten mich fast nicht gehen lassen.“
„Kommt mir bekannt vor“, sagte ich. Columbus spuckte aus. „Lasst uns losfahren“, sagte Mark und rollte
bereits vom Gehsteig herunter. Columbus ließ sich zwar anmerken, dass er gerne noch 5 Minuten durch geschnauft hätte, sagte aber nichts.

Es war nicht weit bis hinaus zu den Feldern, und bis dahin ging es wieder fast nur bergab. Der Weg dorthin führte uns durch ein kleines Waldstück. Ein leichter Wind kam auf und zog durch das Herbstlaub der Bäume. „Wollte Julie nicht mit?“, fragte ich Mark. Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass ich sie nur zu gern dabei gehabt hätte.
„Sie ist wahrscheinlich schon dort!“, antwortete Mark desinteressiert.
Der Wald um uns herum rauschte und bewegte sich. Mehrere Autos überholten uns. Wir waren nicht die Einzigen auf dem Weg raus aus der Stadt.

Wir ließen das kleine Waldstück hinter uns und fanden uns bald von Maisfeldern umringt wieder. Riesige Erntemaschinen pflügten sich durch die hochgewachsenen Felder. Columbus fuhr ganz dicht am Straßenrand entlang und versuchte mit einer Hand einen der Maiskolben zu greifen. „Hast du etwa schon wieder Hunger?“, rief Mark und stieß ein hohles Lachen aus. Columbus streckte ihm den Mittelfinger entgegen:
„Wenn ich einen erwische, landet er zwischen deinen Speichen!“
Ich trat in die Pedale und überholte die Beiden. Eine Gruppe Jugendlicher höheren Alters kickte mitten auf der Straße mit einem Maiskolben umher. Sie hatten dasselbe Ziel wie wir, doch sie ließen sich Zeit. Wahrscheinlich war es nicht ihr erstes Mal.
Wir fuhren an der alten (und auch verlassenen) Autowerkstatt vorbei und schon bald wichen die Felder einer großen, umzäunten Weide.
Auf den Seitenstreifen tummelten sich etliche Menschen. Wir wurden langsamer. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es bereits Viertel vor zehn war. Wir mussten uns beeilen, wenn wir nicht in der letzten Reihe stehen wollten.

Wir kamen an der verfallenen, kaum noch als solche zu erkennenden Tankstelle vorbei. Jemand hatte sich davor gestellt und verkaufte vom Kofferraum seines Wagens aus Wassereis. „Leute“, rief Columbus, „wie wär´s mit Eis?“ „Keine Zeit mehr“, rief ich. Immer mehr Leute füllten die Straße, sodass wir inzwischen aufpassen mussten mit niemandem zu kollidieren. Ich erwischte mich dabei, wie ich in der Menge nach Julie Ausschau hielt. Wir waren eine kleine Stadt und ich erkannte viele Gesichter. Die meisten davon aus der Schule.

Nicht mehr lange und wir hatten die große Masse erreicht. Auf unseren Fahrrädern bewegten wir uns nun auch nicht mehr schneller als die Menschen zu Fuß neben uns. Ich stieg als Erster ab. Columbus und Mark taten es mir gleich, und wir schoben unsere Räder neben uns her. Es war laut. Die Leute um uns herum unterhielten sich aufgeregt. Ein paar Meter hinter uns wurde ein Knallfrosch gezündet. „Krieg!“, schrie jemand und 2 weitere Kracher ertönten im Abstand von wenigen Sekunden.
„Mist ich hab auch noch ´ne ganze Kiste von dem Zeug zu Hause“, Columbus verzog enttäuscht das Gesicht, „habe ich nicht dran gedacht.“
Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken ihm zu sagen. dass dies eigentlich kein Tag zum Feiern war, lies es dann aber doch sein. Denn schließlich war ich ebenso hier. War wie die anderen extra früh aufgestanden, um einen guten Blick zu erhaschen. Und ich entschied für mich, dass es letztlich wohl keinen großen Unterschied machte, ob ich nun mit oder ohne Knallfrosch mitmarschierte.

Die Menschenmenge vor uns wurde dichter und kam schließlich vor uns zum Stehen. „Ist es da vorne?“ Mark reckte den Hals.
„Sie kontrollieren uns erst noch.“, antwortete ich.
Am Wegesrand entdeckte ich ein paar Fahrräder, die mit einem Schloss miteinander verbunden waren. Einige hatten sich wohl bereits ihres fahrbaren Untersatzes entledigt. Die Menschenwand bewegte sich langsam weiter vorwärts. Hinter uns stauten sich bereits die Nachzügler. Wir ließen uns einfach treiben. „Wann sollen wir die Räder loswerden?“, fragte Columbus.
„Keine Ahnung. Weiter vorne!“
Ich merkte die Aufregung langsam in mir aufsteigen. „Weiter! Weiter!“ hörte ich eine Männerstimme durch die Masse vor uns rufen. „Hey wir sind nah dran.“ Columbus sah uns aufgeregt an. „Ja. Wir sind ja nicht taub.“ Mark verdrehte die Augen.

Instinktiv überprüfte ich noch einmal meine Hosentaschen. Doch außer meinem Geldbeutel und dem MP3-Player befand sich natürlich nichts darin. Nicht einmal meinen Hausschlüssel hatte ich dabei. Spitze oder scharfe Gegenstände jeglicher Art waren verboten. Keine Handys. Keine Fotoapparate. Ich hatte mich lange Zeit im Voraus informiert, was erlaubt war und was nicht. Im Grunde sahen es die Wächter am liebsten, wenn man nichts bei sich trug, außer die eigene Kleidung.
Es ging weiter voran. Aus der Masse vor uns quetschte sich plötzlich ein Junge hervor. Ich schätzte ihn auf 2 Jahre jünger als mich selbst. In seinem Gesicht spiegelten sich Frust und Enttäuschung. „Da hat wohl jemand Schiss bekommen.“, stichelte Mark.
„Der ist noch zu jung.“, korrigierte Columbus ihn.
„Ja, so wie du beinahe auch noch!“ Mark stieß Columbus an. Das stimmte. Columbus hatte erst Mitte September seinen dreizehnten Geburtstag gefeiert. Jetzt war es Ende Oktober. Mark und ich hatten beide im Januar Geburtstag. Ich erinnerte mich daran als wäre es keine paar Stunden her.

Es war ein Donnerstag gewesen und der Schnee lag ausgesprochen hoch. Ich hatte kaum ein Auge zugetan und spielte ein paar Mal mit dem Gedanken an diesem Morgen die Schule zu schwänzen. Dann aber wurde mir wieder klar, dass ich es kaum erwarten konnte nach unten zu gehen. Um ein Geschenk auszupacken welches im Grunde keine Verpackung benötigte.
Ein Stockwerk tiefer hörte ich meine Mutter in der Küche hantieren. Nach einer kurzen Dusche schmiss ich mich in meine Klamotten und lief die Treppe hinunter. Ich hatte mir noch nicht einmal die Mühe gemacht, mir die Haare zu trocknen. Es roch nach Waffeln und heißer Schokolade. Ein paar Luftballons und eine Papiergirlande mit der Aufschrift HAPPY BIRTHDAY zierten die Diele.
Meine Schwester kam aus der Küche gerannt und warf mir einen blauen Luftballon entgegen. „Alles Gute zum Geburtstag!“, kreischte sie, drehte sich um und rannte wieder zurück. Ich versuchte sie zu packen, verfehlte sie aber um ein paar Zentimeter.
Dann betrat ich die Küche und blieb im Türrahmen stehen. Der Küchentisch war bunt gedeckt. Konfetti und Smarties lagen wild verstreut darauf. Meine Schwester hatte ihren Platz eingenommen und trommelte gegen die Tischkante. Dann, endlich, kam meine Mutter auf mich zu und schloss mich in die Arme.
„Alles Gute zum Geburtstag mein Schatz.“, sagte sie leise und drückte mich feste an sich. „Danke Ma.“ Sie lächelte mich an und strich mir über den Kopf.
„Deine Haare sind ja klatschnass!“
„Ach lass, ich trockne sie später!“
Ich löste mich von ihr. Mein Blick fiel an meiner Mutter vorbei auf den Küchentresen hinter ihr. Dreizehn Kerzen brannten dort auf einem Kuchen und daneben standen verpackt, meine Geschenke. Das Gesicht meiner Mutter verhärtete sich. „Das zuerst!“, quietschte meine Schwester und zeigte natürlich auf das größte der Geschenke. Doch meine Wahl war bereits getroffen. Langsam, ja beinahe ehrfürchtig, ging ich auf den Gabentisch zu. Meine Mutter hatte sich abgewandt und begann das Frühstück aufzutragen. Sie hätte damit warten können. Doch sie brauchte etwas um sich abzulenken.
Da war er. Der Brief. Ein pechschwarzer Umschlag zwischen kunterbuntem Geschenkpapier. Ich hob ihn hoch. „Nein das da!“ Aber ich hörte meine Schwester kaum. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Weiße Buchstaben formten meinen Namen und meine Adresse auf dem schwarzen Papier. Alles war plötzlich ganz weit weg. Plötzlich waren da nur noch ich und dieser Brief. Mit dreizehn Jahren wurde man registriert und mit achtzehn Jahren konnten sie einen erwählen. Meine Registrierung brachte mir
gleichzeitig mein Recht ein, zuzusehen. Ich war nun Teil der dunklen Geschichte. Ein Teil des Systems. Langsam riss ich den Umschlag auf.

In kleinen Schritten bewegten wir uns mit der Masse weiter nach vorne. „Was ist jetzt mit den Rädern?“, hakte Columbus nach, „hat jemand an ein Schloss gedacht?“
„Hab eins!“ rief ich.
Ich klimperte mit meinem Fahrradschloss. Ein kühler Wind strich mir durch die Haare. Es war warm geworden inmitten all der Menschen. Der Himmel zog sich weiter zu. „Hey, da!“, rief Mark und zeigte auf den Seitenstreifen. Ein Wächter lief neben der Menschenmenge her. Ich musterte ihn respektvoll.
Es waren Soldaten, die einmal im Jahr für den Sondereinsatz während der Opfertage eingezogen wurden. Seine Uniform war rabenschwarz. Im Holster steckte jederzeit griffbereit, eine Pistole. Zusätzlich dazu hatte er ein imposantes Maschinengewehr umgeschnallt. Eine metallische, feinmaschige Maske bedeckte sein gesamtes Gesicht. Sie gewährleistete die Anonymität der Soldaten. Bedächtig schlich der Wächter neben der Straße umher und warf suchende Blicke in den Menschenstrom. Er war keine 3 Meter von uns entfernt.

„Hey Columbus, leihst du mir mal kurz deine Machete?“, rief Mark und fügte ein künstliches Lachen hinzu. „Nur wenn ich dafür deine Schrotflinte kriege!“
„Haltet die Klappe!“ zischte ich. Der Wächter hatte sich von den Kindereien nicht stören lassen. Wahrscheinlich war er es gewohnt.
„Weiter durchgehen!“ kam es von vorne. Wir schoben unsere Fahrräder nebeneinander und ketteten sie an den Vorderreifen mit meinem Fahrradschloss zusammen. Columbus und Mark brachen aus der Menge aus und trugen die Fahrräder auf die Wiese neben dem Straßenrand. Dann kamen sie zurück. Ein älterer Mann nuschelte verärgert vor sich hin, als sich die beiden zurück zu mir drängten. Ich sah auf die Uhr. Noch 8 Minuten. Dann sah ich, wie sich der schwarze Handschuh eines Wächters auf die Schulter des Mannes vor mir legte. Er wurde nach vorne gezogen. Wir hatten den Kontrollpunkt erreicht.

Der Mann wurde angewiesen, sich aufrecht hinzustellen und Arme und Beine zu spreizen. Der Wächter tastete ihn gründlich von oben bis unten ab. Er forderte den Mann auf einen Gegenstand vorzuzeigen, welcher sich in seiner Hosentasche befand. Ich beobachtete, wie er seinen Geldbeutel zückte. Der Wächter nahm die Geldbörse etwas genauer in Augenschein und gab sie dann zurück.
„Durchgehen!“
Ich erkannte die Straßensperre, wenige Meter vor uns. In einem Abstand von etwa einem Meter, gab es Öffnungen innerhalb der Absperrung, durch die man hindurchgehen konnte. Der Mann steckte seinen Geldbeutel ein und ging durch die Absperrung. „Na dann bis gleich!“ hörte ich Columbus noch sagen, bevor mich eine starke Hand an der Schulter packte und noch vorne zog.

Ich bekam weiche Knie und hoffte niemand würde mein leichtes Zittern bemerken. Der Wächter, der vor mir stand, war hochgewachsen und von breiter Statur. „Arme und Beine auseinander.“ Ich tat, was er verlangte. Ein anderer Wächter stand neben mir und ließ mich nicht aus den Augen. Selbst durch die Maske konnte ich seinen stechenden Blick spüren.
Grob tasteten sich die Hände des Soldaten von meinen Schuhen aus aufwärts. Ich fragte mich wie weit Mark und Columbus inzwischen gekommen waren. Von meiner Position aus konnte ich sie nicht sehen.
Der Wächter tastete noch meinen Oberkörper und die Schultern ab und baute sich dann wieder vor mir auf. „Diese Tasche leeren!“, sagte er und zeigte auf meine rechte Hosentasche. Ich griff hinein und holte den MP3-Player sowie meine Geldbörse hervor. Der Wächter nahm beides entgegen und unterzog sie einer kurzen Prüfung. Dann wandte er sich wieder mir zu und stierte mich einen Moment wortlos lang an. Mir wurde heiß.

„Nummer!“, sagte er bloß.
„Im...ist in meinem Geldbeutel!“
„Rausholen!“
Ich nahm den Geldbeutel entgegen und holte das Schreiben hervor, welches ich vor 9 Monaten aus einem schwarzen Umschlag gezogen hatte. Ich faltete es auseinander und überreichte es dem Wächter. Dieser warf einen kurzen Blick darauf und gab es mir dann zurück.
„Okay. Weiter durchgehen!“
Ich bekam noch meinen MP3-Player überreicht und der Wächter schob mich in Richtung der Straßensperre. Ich passierte den Durchgang und blieb auf der anderen Seite stehen. Ich war durch. Schnell verstaute ich meine Sachen wieder in den Taschen und sah mich um. Mark kam mir entgegen. Ein breites Grinsen zierte sein Sommersprossengesicht. „Sie haben dich tatsächlich nach der Nummer gefragt?“
Ich nickte nur und zuckte dann mit den Schultern. Columbus kam durch die Absperrung und rückte sich das Oberteil zurecht. Die Wächter hatten ihn ordentlich durchforstet. „Hey Columbus“, rief Mark neugierig, „musstest du deine Nummer zeigen?“
Kopfschüttelnd blieb Columbus vor uns stehen.: „Nö. Aber ich dachte irgendwann der Typ ist in mich verknallt, sowie der an mir rumgefummelt hat!“
Mark prustete los. Ich war ein wenig sauer. Columbus sah bedeutend jünger aus als ich. Und ich war sogar größer als er. Auch größer als Mark. Aber nur mich hatten sie nach meiner Nummer gefragt.

Mark klatschte in die Hände. „Auf geht’s. Gleich geht’s los!“ Wir setzten uns in Bewegung. Nach nur wenigen Metern erreichten wir dann den großen Zaun. Ich musste den Kopf in den Nacken legen, um zu sehen, wie weit er in die Höhe ragte. Stacheldrähte schlängelten sich hoch oben am Rande des Zaunes entlang. Wie gebannt blickten wir auf die gigantische Konstruktion, die sich auch zu beiden Seiten weit auf die Wiesen und Weiden erstreckte. Der Erste von zwei Käfigen.

Ein großes Tor führte ins Innere. Zwei Wächter standen davor und beobachteten die hereinstürmenden Menschen.
„Noch eine Kontrolle?“, stöhnte Mark. „Nein, ich glaube nicht!“, antwortete ich abwesend und betrachtete noch immer die monströse Umzäunung.
Die Wächter bewegten sich keinen Zentimeter, als wir zwischen ihnen hindurch schritten.
„Für was brauchen die denn eigentlich so einen riesigen Zaun?“, beschwerte sich Mark.
„Naja“, sagte Columbus, “wenn sie den Kasten aufmachen und es kommt einer raus der es geschafft hat. Vielleicht dreht der dann völlig durch und rennt davon. Willst du den dann bei dir im Garten stehen haben?“
Er zog eine Grimasse, rollte mit den Augen und legte seine Hände um Mark´s Hals.
„Ach, verpiss dich Columbus!“
Mark stieß ihn von sich. Ich beachtete die beiden kaum. Da war er. Der „Kasten“ wie Columbus ihn genannt hatte. Wir gingen direkt darauf zu. Es war ein Quader. Gute 4 Meter hoch und doppelt so lang. Und er stand mitten auf der Wiese. Von ihrer Konstruktion her, erinnerten sie an übergroße Baustellencontainer. Die Menschen versammelten sich bereits davor. Ein gutes Dutzend Wächter stand an der Vorderseite des Quaders und hielt die Menge auf gut 3 Meter Abstand. Wir beschleunigten unseren Gang und erreichten die Menschentraube.
„Kommt mit!“, sagte ich und begann mich zwischen den Leuten hindurch zuquetschen. Ein Donnerrollen sowie Gesprächsfetzen der anderen Zuschauer drangen an mein Ohr. Die Wand aus Wartenden war nicht so dick, wie ich zuerst angenommen hatte.

Zuletzt schoben wir uns zwischen ein paar älteren Männern hindurch und standen schließlich vor den Wächtern. Ich blickte an mir herunter. Meine Schuhspitzen berührten eine weiße, direkt auf das Gras aufgesprühte Linie. Die Wächter hatten sie gezogen. Breitschultrig standen sie vor uns und passten auf, dass niemand die Linie übertrat. „Noch 4 Minuten.“, sagte Mark euphorisch und stieß mich an.
Ich war aufgeregt. Gleichzeitig spürte ich aber auch eine wachsende Furcht in mir aufsteigen. Hier stand ich nun. Am einzigen Ort, an dem ich je sein wollte. Ich wollte sie sehen. Seit ich das erste Mal davon gehört hatte, war dies mein allergrößter Wunsch gewesen. Als ich erfuhr, dass es dieses Jahr in unserer Stadt stattfinden würde, stand ich in Flammen.
Fernsehübertragungen gab es keine. Sie waren sogar gesetzlich verboten. Wer also bei der Öffnung dabei sein wollte, musste selbst erscheinen.

Es geschah einmal im Jahr und es geschah immer im Herbst zur selben Zeit. Die Opfertage. Das geduldete Leid. Am Morgen des ersten Sonntags im Oktober, ertönten im ganzen Land die Sirenen. Es bedeutete, dass die Wahlen getroffen wurden. Und dann, irgendwann zwischen dem Erklingen der Sirenen und dem Sonnenuntergang kamen die Wächter und holten die Auserwählten.
Sie erwählten immer dreizehn Menschen pro Staat. Sie fuhren sie hinaus aus den Städten und brachten sie in die Bunker. Die dunklen Quader. Die Auserwählten bekamen andere Kleidung und wurden der persönlichen Habseligkeiten, die sie bei sich trugen, entledigt. Sobald die Wächter die Tore der Quader hinter sich schlossen, begann die Opferung.
13 Tage verbrachten die Auserwählten dann in den Bunkern. Ohne Licht. Ohne Nahrung. Ohne Schlafmöglichkeit. Zusammengepfercht auf wenige Quadratmeter. Von klein auf nannten wir die Auserwählten nur „die Schlafwandler“. Denn sie wandelten umher damit der Rest von uns imstande war in Ruhe zu schlafen. Damit das Leben weitergehen konnte. Damit dass, was seit Tausenden von Jahren unter der Oberfläche ruht, seinen ewigen Schlaf bei behalten kann.
Denn sie, die Alten, überließen uns durch reine Güte die Lüge, die wir uns zu leben entschieden hatten. Für den Preis, dass wir uns einmal im Jahr selbst vor Augen führten, wer wir wirklich sind. Zu was wir fähig sind. Und wohin unsere Spezies eigentlich gehörte.
Was genau in den Quadern vor sich ging, war für die Außenstehenden nicht ersichtlich. Niemand wusste es. Niemand außer den Wächtern und den Erwählten selbst.
Und die Wächter sahen zu. Sie sahen zu, wenn die Schlafwandler langsam den Verstand verloren. Wenn der Hunger ihnen nach ein paar Tagen schon die dünne Haut der Zivilisation abzog. Wenn sie am Ende wie wilde Tiere übereinander herfielen. Sie sahen nur zu.

„Da ist meine Schwester!“ merkte Mark an und zeigte nach links. Mein Blick folgte ihm. Ich hatte den Gedanken an Julie völlig verdrängt. Sie stand einige Meter von uns entfernt und unterhielt sich mit einem Jungen. Mark rief ein paar Mal nach Ihr doch die Menge war zu laut. Schnell gab er es auf und winkte verächtlich ab. Ich beobachtete sie noch einige Augenblicke. Bereit die Hand zu heben, sobald sie in unsere Richtung blicken würde.
„Was meint ihr wie viele es geschafft haben?“, fragte Mark. Ich antwortete nicht und zuckte nur mit den Schultern. „Bei den Japanern haben letztes Jahr anscheinend 5 überlebt“, sprudelte Columbus heraus, „aber nur weil sie sich alle gegenseitig tagelang angenagt und sich voneinander ernährt...!“
„Erzähl keinen Scheiß Columbus!“ Mark stieß ihm in die Rippen.
„Was denn? Das hab ich gehört!“
Ich schüttelte die Bilder, hervorgerufen durch Columbus Erzählungen, aus meinem Kopf und starrte auf die Uhr. 2 Minuten. Meine Hände schwitzten. Ich fragte mich was ich zu sehen kriegen würde. Über unseren Köpfen donnerte es erneut und der Wind zog an.

„Frauen überleben nie.“, sagte Columbus teilnahmslos. „Was?“ Ich sah ihn an. „Frauen. Die schaffen es nie weißt du. Mein Bruder hat mir auch erzählt wieso.“
„Achja, wieso denn?“ Mark spuckte aus und sah ihn herausfordernd an.
Ich hatte eine ungute Ahnung, worauf Columbus hinaus wollte. Er wirkte plötzlich auf irritierende Weise ruhig auf mich. Er fuhr fort: „Wisst ihr noch vor ein paar Jahren an der Ostküste? Zwölf Männer und nur eine Frau wurden erwählt. Das gab es vorher noch nie. Sonst war es immer gemischt. Es muss schwer sein in den Bunker zu gehen, wenn man weiß das man keine Chance hat wieder herauszukommen!“
„Die Chancen stehen für alle gleich!“, sagte ich.
Daran glaubte ich natürlich selbst nicht, doch ich hoffte Columbus würde sich damit zufrieden geben. Aber er beendete, was er begonnen hatte. In seiner Stimme machte sich ein auffallend sensibler Tonfall breit:
„Die Männer ließen sich gegenseitig in Ruhe sagte mein Bruder, solange diese Frau da war. Darum gab es damals so viele Überlebende. Von der Frau aber haben sie nichts übrig gelassen. Da war einfach nichts mehr da zum Beerdigen!“
Ein Frösteln rann durch meinen Körper.
„Und das glaubst du deinem Bruder?“, wollte Mark gelangweilt wissen. Er nahm Columbus nur selten wirklich ernst.
„Ich war mir bis heute Morgen sicher er lügt und übertreibt“. Columbus Tonfall senkte sich weiter. Er wirkte nun noch geheimnisvoller auf mich. „Aber dann versuchten meine Eltern den ganzen Morgen mich daran zu hindern her zu kommen!“
„Nicht nur deine!“, sagte Mark und fand das aus irgendeinem Grund ziemlich witzig.
„Und als ich nach stundenlangem Diskutieren trotzdem zur Tür ging, rief mir meine Mutter noch zu: Denk doch an die Frau von der Ostküste.“
Weder ich noch Mark antworteten ihm. Mir fiel nichts tröstendes dazu ein. Keiner von uns zweifelte daran, dass es in den Bunkern zu Gräueltaten kam. Doch die Leute schmückten das, was sie gesehen hatten, oder gesehen zu haben glaubten, auch gerne mal aus.
Sie schufen einen Horror jenseits unserer kindlichen Vorstellungskraft. Das wollte ich Columbus noch sagen. Ich wollte ihm noch sagen, dass es unmöglich sein kann, dass sie von der Frau nichts mehr finden konnten. Doch dann ertönte die Sirene.

Es war vorbei. Die Menschen wurden laut und drängelten nach vorne. Wir mussten aufpassen nicht über die Linie geschoben zu werden. Das Geheul der Sirene schwoll an, und übertönte bald das tobende Publikum. Eine Gruppe Wächter näherte sich dem Eingang. Sie hielten die Maschinengewehre im Anschlag.
Die Tore des Quaders öffneten sich. „Da sie öffnen sich!“, rief Mark. Ich fragte mich, wie er auf die Idee kam, dass ich das nicht Selbst sah. 3 Wächter traten in den Quader, die anderen hielten die Gewehre hoch und richteten sie auf den Ausgang. Ich reckte den Hals hin und her. „Wann kommen die raus?“ Mark schien es plötzlich sehr eilig zu haben.
Die Masse tobte. Es wurde geklatscht und gefeiert. Dann der erste Schrei aus dem Inneren des Bunkers. Ein Schrei, so schmerzerfüllt und flehend, dass sich mir alle Haare aufstellten. Die Menge wurde kurzzeitig leiser.
Der zweite Schrei. Anklagend und die Welt um Gnade bittend. Columbus drehte sich um und verschwand in der Menge.
„Columbus!“, brüllte Mark.
Meine Augen schmerzten denn ich wagte es nicht zu blinzeln. Tosender Jubel brach hinter uns aus. Die Wächter kamen zurück. Und sie kamen nicht alleine. Jemand oder etwas ging zwischen ihnen. Gebückt. Zwischen den Stiefeln der Soldaten entdeckte ich noch ein weiteres Paar Beine. Und zwei Arme, die am Boden entlang schleiften.
Nicht weit von uns übergab sich jemand. Ein dritter Schrei ertönte. Er war direkt an uns gerichtet. An die, die wir gekommen waren, um zuzusehen. An mich.
Dann gingen die Wächter auseinander, und gaben den Blick frei.

Die letzten paar Meter unserer Einfahrt schob ich mein Fahrrad. Die Garagentür stand offen. Das Auto war nicht da. Ich hängte mein Fahrrad an der dafür vorgesehenen Wandhalterung auf. Mein Vater wollte Ordnung in der Garage. Ein Donner brüllte vom Himmel hinab, und ich war mir sicher dass es jeden Moment anfangen würde zu regnen. Die Luft war drückend schwül und doch fror ich am ganzen Leib.
Ich öffnete die Tür zur Küche und blieb im Rahmen stehen. Meine Mutter saß am Küchentisch. Ihre Hände hielten eine Tasse warmen Kaffee fest. Der Frieden meiner Kindheit lag in ihrem Gesicht, und ich spürte, wie mir die Tränen die Wange hinab flossen.
„Ist Papa weggefahren?“, fragte ich.
„Ja.“
Sie nickte und lächelte sanft. Ich ging auf sie zu und sie stand auf. Aus dem Wohnzimmer tönten schon wieder, oder immer noch die Fernsehgeräusche von heute Morgen. Sie schloss mich in die Arme.
„Was soll ich tun?“, fragte sie mich flüsternd.
„Mama ...!“ Meine Stimme brach.
„Was soll ich tun?“
„Halt mich ...!“
„Ich bin hier“
„Halt mich ...!“

ENDE​

 

Ich finde deine Geschichte sehr schön geschrieben. Ich hatte Spaß daran, sie zu lesen. :-)

Jedoch hätte ich mir gewünscht, dass du noch mehr dazu erzählst, was die Ältesten damit zu tun haben und warum die Leute eingesperrt werden und wozu überhaupt. Du hast es zwar angerissen, aber ich hätte es mir noch besser erklärt gewünscht. Vielleicht auch, dass du erzählst, was mit den Leuten passiert, die es geschafft haben, die dreizehn Tage zu überleben.

Ansonsten fand ich es gut. Mach weiter so!

 

Danke für deine Rückmeldung.

Ja ich habe lange überlegt ob ich weiter auf "die Alten" eingehen soll. Ich habe mich dagegen entschieden weil der Fokus woanders liegen sollte. Aber ganz zufrieden bin ich wirklich noch nicht. Wusste nicht wie das auf andere Leser wirkt.
Vielleicht kommen ja noch mehr Rückmeldungen diesbezüglich. Dann werde ich die Mühle noch einmal anwerfen müssen. :-)

Greetz

 

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