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Sirene
Sigmund Frobel ist begeistert. Er ist ein weitgereister Mann, aber so etwas hat er noch nie gesehen. Es ist gewiß die modernste U-Bahn der Welt. Gerade eben ist er mit dem Intercity der allerletzten Generation in München angekommen und glaubt, schon alles gesehen zu haben, als dieses unglaubliche Gefährt vor ihm in die Station gleitet, blau, glatt, glänzend, futuristisch und zu zwei Dritteln aus Glas bestehend. Er sieht noch einmal hinauf zu den Anzeigetafeln, ob er sich nicht nach Shanghai verirrt hat, dann lupft er sein Köfferchen und geht an Bord.
Er möge doch bitteschön zurückbleiben, spricht ihn eine Dame an. Er dreht sich um. „Bitte?" fragt er, aber da ist niemand. Er muß sich verhört haben. Dann erzählt ihm die Dame von den hervorragenden Eigenschaften dieses Zuges, daß es sich nämlich um eine U2 handle, und daß diese in das unbeschreibliche, einzigartige Feldmoching fahre.
Frobel erkennt, daß die Stimme aus dem Lautsprecher kommt, aber er hat noch nie eine Ansage mit solch einer wunderbaren Intonation gehört. Er beschließt spontan, mit diesem Zug bis zur Endstation zu fahren, um das unbeschreibliche, einzigartige Feldmoching kennenzulernen.
„Nächster Halt, Königsplatz!" Die Dame betont es mit einem Ausrufezeichen. Frobel ist hingerissen. Er will die Dame und den Königsplatz kennenlernen. Er vergißt Feldmoching und steigt aus.
Der Bahnsteig ist leer. Er hat die Dame wohl falsch verstanden. Aber als der nächste glatte blaue gläserne Zug einfährt, ist sie wieder da. Er steigt ein, sie säuselt ihm zu, er möge doch bitte zurückbleiben, schwärmt sie ihm wieder von dem unvergleichlichen Feldmoching vor, alles, versteht sich, nicht mit vielen Worten oder ganzen Sätzen, sondern einfach durch die Intonation der Ansage in ihrer unvergleichlichen Stimme.
„Feldmoching?" entfährt es Frobel, als zufällig ein Herr neben ihm zu stehen kommt, der ihm vertrauenswürdig erscheint. „Was ist in Feldmoching?"
„Gar nichts", sagt der Mann. Er trägt einen Lodenmantel. „In Feldmoching ist gar nichts. Ein Elendsgebiet."
„Das kann nicht Ihr Ernst sein."
„Die Bronx von München", sagt der Mann, „glauben Sie's mir." Unter den Bronx kann sich Frobel etwas vorstellen. „Schenken Sie der Frau keine Beachtung."
„Was?" Frobel glaubt nicht richtig gehört zu haben. „Ich habe noch nie eine so wunderbar intonierte Ansage gehört."
„Sie lügt. Andere Leute brauchen ganze Sätze dafür. Diese Frau lügt das gleiche in einem einzigen Wort." Frobel kann dem Mann nicht folgen. Vielleicht liegt es an dem Lodenmantel. Soeben hat die Frau die Theresienstraße in den leuchtendsten Farben angekündigt, samt dem unterschwelligen Versprechen, daß sie dort anzutreffen sei. Frobel wendet sich bereits zur Tür, als ihn der Mann sanft aber bestimmt am Ärmel zurückhält.
„Was soll das?" So etwas hat Frobel noch nie erlebt, auch nicht in New York.
„Seien Sie vernünftig", sagt der Mann. „Sie finden hier weder diese Frau, noch einen sonnenüberfluteten Strand, noch irgend sonst etwas, das Sie in der Ansage vielleicht gehört zu haben glauben. Sagen Sie mir lieber, wo sie hinwollen. Ich lasse Sie dann nicht aussteigen, bis Sie am Ziel sind. - Kennen Sie die Geschichte von den Sirenen?"
Natürlich kennt Frobel die Geschichte von den Sirenen. Der Mann ist schrullig. Hält er ihn vielleicht für Odysseus? Würde er ihn an einen Mast binden, während er selbst sich Wachs in die Ohren steckt? Dem weitgereisten Frobel fällt auf, daß in dem hypermodernen U-Bahnzug die Stangen fehlen, um die die Kinder herumzulaufen pflegen.
Der Mann in dem Lodenmantel hebt an, darüber zu lamentieren, wie viele Ansagen von dieser Frau er täglich über sich ergehen lassen muß, wenn er mit der U-Bahn ins Büro und zurück fährt. Er spricht nicht von Ansagen, sondern von Verarschungen. Es hört sich sehr derb an. Und dann präsentiert er eine Hochrechnung, wie viele Verarschungen das im ganzen Jahr sein würden, wenn erst alle Züge der U-Bahn auf diesen sogenannten Typ C umgestellt seien, und daß er sich entweder Ohropax oder einen Therapeuten werde besorgen müssen. Die Frau treibe ihn in den Wahnsinn. Dabei läßt er Frobels Ärmel keine Sekunde los.
Frobel hält das alles für maßlos übertrieben. Er versteht nicht, wovon der Mann spricht. Plötzlich läßt er ihn los. „Pfüat Eana", sagt er. Das versteht Frobel ebenfalls nicht, was diesmal aber tatsächlich mit dem Lodenmantel zu tun hat. Die Türen gleiten lautlos zurück, Frobel lupft sein Köfferchen und tritt hinaus auf den Bahnsteig in der sicheren Erwartung, nun endlich der Frau mit der wunderbaren Stimme zu begegnen.
Ja, das Schild sagt, daß hier Feldmoching ist. Neugierig bleibt Frobel auf dem Bahnsteig stehen und sieht sich um. Der Zug rauscht davon, und eine bedrückende Stille bleibt zurück. Frobel fällt auf, daß nur er hier ausgestiegen ist. Er kann sich nicht erinnern, ob außer ihm noch andere Leute im Zug saßen, aber der Mann im Lodenmantel war nicht ausgestiegen, obwohl dies doch die Endstation gewesen sein soll.
„Willkommen in Feldmoching!" Die feenhafte Stimme vertreibt Frobels Gedanken, und er hat diesmal den Eindruck, daß sie direkt neben ihm stünde, doch er sieht sie nicht.
„Hier ist die Endstation", erklärt die Frau mit spürbarem Bedauern, „bitte begeben Sie sich zur Rolltreppe nach oben."
Das war es also. Frobel ist enttäuscht, und mit einem Male kommt ihm die Bahnstation gewöhnlich und schmutzig vor.
An einer Wand ist ein Graffiti. Jemand hat mit roter Farbe die Worte „Einsamkeit tötet" gesprüht, jemand anders hat mit grüner Farbe ein Muster darübergesmalt, doch die Schrift ist gerade noch leserlich geblieben. Leserlich genug, um Frobel ein Gefühl für seine eigene Einsamkeit zu vermitteln. Als ständig Umherreisender hat er unzählige Leute getroffen, doch aus eben demselben Grunde besaß er nie die Zeit und Gelegenheit, irgendjemanden näher kennenzulernen.
„Alternativ können Sie auch die Rolltreppe nach unten nehmen", hört er plötzlich wieder das süße Säuseln, und sein Kummer ist wie weggeblasen. Tatsächlich gibt es eine zweite Rolltreppe am anderen Ende des Bahnsteiges, und sie führt nicht nach oben, sondern nach unten. Wieso hatte er sie bis jetzt nicht gesehen, sie ist breit und von Neonröhren hell erleuchtet? Die Treppe nach oben ist dagegen nur eine unscheinbare, schmale und verdreckte Maschine, die wahrscheinlich in eine unscheinbare und verdreckte Gegend führt, wo unscheinbare und verdreckte Menschen hausen, die einem in dunklen Seitengassen die Brieftasche abnehmen. Sehr wahrscheinlich tragen sie dabei Lodenmäntel.
Als Frobel die helle und prachtvolle Rolltreppe erreicht, setzt sie sich in Bewegung, als habe sie nur auf ihn gewartet. Er blickt nach unten und stellt dabei fest, daß der schräge, prachtvoll erleuchtete Schacht so weit nach unten führt, daß er das untere Ende nicht sehen kann.
Die Frau erklärt ihm, daß er einen hochmodernen Express-Rolltreppentyp vor sich hat, der langsam anfährt, und nach dem Aufsteigen beschleunigt, weshalb während der Fahrt unbedingt der Handlauf festgehalten werden soll. Frobel ist begeistert und betritt die Treppe.
Tatsächlich wird seine Fahrt in die Tiefe immer schneller und schneller, bis er nicht mehr die Neonröhren zählen kann, die an ihm vorbeisausen. „Es ist schön, daß du mich besuchen kommst, Sigmund", sagt die Frau, und Frobel meint, das Ende der Rolltreppe endlich ausmachen zu können. Zuerst nur als winzigen Lichtpunkt, dann immer größer werdend, sieht er sich in eine sonnendurchflutete Halle schießen, in der Tausende von Leuten auf ihn warten, und auch die Frau ist unter ihnen.
Für einen Moment ist ihm von der Größe der Halle und der Geschwindikeit schwindlig, und er fragt sich, ob die Treppe nicht irgendwann wieder langsamer werden müßte, doch als er die Sonne in seinem Gesicht spürt, weiß er, daß alles gut ist, und er sich keine Sorgen mehr zu machen braucht.
Er ist am Ziel seiner Reise angekommen.
*
Frobels Verschwinden erregte keinerlei Aufsehen; noch nicht einmal sein Arbeitgeber, ein großer und angesehener Berliner Konzern, hielt es für notwendig, Nachforschungen anzustellen. Man war sogar nicht unfroh, ihn los zu sein, er war schon alt und erbrachte schon seit Monaten nicht mehr nicht die gewünschte Leistung, die man von ihm erwartete. Als er wiederholt nicht zu den Besprechungen erschien und keine Telefonate entgegennahm, schickten ihm die Sekretärinnen erst eine Abmahnung, dann zwei, dann die Kündigung.
Ein weiteres Jahr später war das Geld auf seinem Konto soweit aufgebraucht, daß er Mahnungen von seinem Vermieter, der Telefongesellschaft und den Elektrizitätswerken erhielt, und ein weiteres Jahr ging ins Land, bis seine Wohnung geräumt wurde. Dann erst begann man, nach ihm zu suchen, um seine Schulden einzutreiben, doch war es nach so langer Zeit unmöglich, noch irgendetwas rekonstruieren zu wollen.
Der einzige, der wußte, was mit Frobel geschehen war, war der Mann im Lodenmantel. Doch der schwieg, wie man sich vorstellen kann, wie ein Grab, und ertrug weiterhin geduldig die nervende Stimme, die ihn auf seinem täglichen Weg ins Büro auf die Probe stellte.