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Sinnflut

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06.02.2002
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Sinnflut

Rewrite steht hier

Reisebericht ( ... statt eines Titels )


Die meiste Zeit über sprachen sie kein Wort. Das Radio, niemand hatte gewagt, es anzuschalten; es war wie eine unausgesprochene Grenze zwischen ihnen, die niemand zu überschreiten wagte. Sie hingen, jeder für sich, ihren Gedanken nach, während sie Minute für Minute ein weiteres Stück Land auf der Reise ins Nirgendwo hinter sich ließen.
Schon lange liefen die schwarzen Wischer hektisch über die Scheibe. Wo sie nicht waren, platzten unzählige, fette Regentropfen auf das kalte Glas. Sie zerschellten überall, es regnete, wie sie es noch nie gesehen hatten, dichte Vorhänge aus Wasser stürzten gen Erde, so dass die Scheinwerfer kaum ausreichten, um die verwässerte Straße vor ihnen zu zeigen.
Das monotone Summen des Motors schläferte ein. Er bemühte sich, konstant achtzig zu fahren, schnell genug voran zu kommen, ohne bei dieser Sicht und dem sicherlich fingerhoch auf dem Asphalt stehenden Regen ein unnötiges Risiko einzugehen.
Außer ihnen schien es keine Menschen mehr auf der Welt zu geben. Angestrengt hatten sie ihre Augen nach draußen gerichtet, ihre Blicke in die Regenschleier gebohrt, stundenlang, und schließlich resigniert aufgegeben.
Zuerst machte es Angst. Warum waren sie die einzigen?
Mit zunehmendem Starren reifte die Erkenntnis, dass sie als einzige nicht in den Kellern geblieben waren. Inzwischen musste denen das Wasser bis zu den Knien stehen. Sie hatte aber kein Wort darüber verloren, nicht gezweifelt, nichts. Sie war unglaublich tapfer, fand er, und in seiner Brust schlug es.
Ein erneuter Blick auf die Tankanzeige. Nicht mehr lange. Die Erkenntnis schnitt sich bei ihm ein. Er überlegte: Das sanfte Tuch des Schweigens zwischen ihnen zerreißen? Die Augen wurden ihm müde. Nein.
Irgendwann wäre es sicherlich passiert. Das monotone Arbeiten des Motors hätte ihm die Augen zugedrückt. Man konnte das nicht verhindern, bei dieser Fahrt. Da beschloss sie, zu reden.
Ihre stockende Stimme brach ein in ihre kleine Welt aus Regenschlägen und Fahrtgeräusch, doch er erschreckte nur ein wenig. Es überraschte ihn, dass sie nicht schlief. Sie musste lange mit sich gerungen haben, bis sie sagte:
„Fast wie die Sintflut.“
„Ja,“ antwortete er schnell und trocken. Und ihm fiel nichts ein, was er sonst noch hätte sagen können. Sintflut, drängte sich der Gedanke auf, wirklich Sintflut? Oder Sinn? Sinn- Flut? Warum Sinnflut? Komisches Wort. Religiöses Wort. Sintflut. Dann nahm ihn wieder die immer gleiche Fahrt in Besitz. Er ging vom Gas und lenkte nach links ein. Langsam wurde die Strecke kurviger. Sie mussten in den Hügeln sein. Immer noch kein Licht, kein Haus, kein Gegenverkehr. Nur sie, und er, nur sie.
Kurzentschlossen warf er es heraus. „Der Tank ist bald leer.“
Ihre Stimme klang sanft. „Ich weiß,“ sagte sie leise.
„Und... und dann?“ Weiter wagte er nicht, den Gedanken zu formulieren.
Zum ersten Mal wandte sie ihm den Kopf zu, schaute ihn an. Er ließ kurz die Augen von der Straße. Sie sah müde aus, erschöpft, verbraucht.
Und trotzdem, trotz allem, lächelte sie ermunternd.
Es kam ganz automatisch. Auch seine Mundwinkel zogen nach oben, einige Falten, welche die Fahrt in die Mundwinkel gegraben, verschwanden kurz.
„Ich liebe dich,“ flüsterte er ganz leise, und er wusste, dass sie es bei Fahrt und regen nicht verstanden haben konnte.
Er musste die Augen abwenden, zurück auf die Straße. Es durfte nichts passieren. Eigentlich hätte er erschrecken müssen, ihre Hand kam unerwartet, mit dem Handrücken und den Fingern strich sie schwach über seine Wange, ruhte kurz an seinem Nacken. In diesem Moment hätte er weinen können, wenn nicht der Motor erstorben wäre.
Sie zog die Hand zurück. Es war soweit. Die Reise ins Nichts beendet. Er ließ den Wagen auslaufen, stoppte am Straßenrand und löschte nach einem Moment die Scheinwerfer. Seufzend lehnte er sich zurück in die Dunkelheit.
„Wie spät ist es?“ Hörte er sie fragen, wohl nur, um etwas zu sagen in den Regen hinein.
„Kurz nach drei,“ murmelte er. „Wir sollten uns ausruhen.“
Und er schloss die Augen; obwohl er seit neun Stunden gefahren war, kam der Schlaf nicht über ihn. Er verwarf den Gedanken, auszusteigen und die Decken aus dem Kofferraum zu holen, statt dessen stellten sie einfach nur die Lehnen zurück. Vielleicht würden sie im Auto ersticken, kam es ihm in den Sinn. Ihr Atem ging ebenfalls nicht ruhig. Es lag zuviel auf ihren Schultern; es dauerte sehr lange, bis er wusste, dass sie eingeschlafen war. Beruhigt, dass sie nichts mehr gesagt hatte, versank auch er schließlich.

Als er erwachte, wusste er erst nicht, wo er war. Sein Rücken schmerzte vom unbequemen Liegen, und es war noch recht dämmerig. Die Scheibenwischer waren mitten in ihrem ewigen, hastigen Hin und Her erstarrt, als er gestern den Schlüssel umgedreht hatte. Morgentau hatte sich zum Nass auf der Scheibe gesellt und funkelte, trotz des schwachen Lichtes, wie farbloser Edelstein. Er zitterte sich kurz wach, und dann kam auch das Erinnern an die Fahrt, welches ihm einen erneuten unwillkürlichen Schauer versetzte. Er drehte seinen Schädel zur Seite, doch fand ihren Platz leer. Das weckte ihn gänzlich. Er rappelte sich hoch und öffnete ohne zu zögern die Tür. Die Luft war noch wie früher.
Kalt und feucht und frisch. Keine Stadtluft. Die Luft nach der Sintflut, dachte er und stieg aus. Es fiel ihm nicht auf, dass kein Vogel sang. Der regenschwere Boden schmatzte unter seinen Schritten. Endlich hatte es aufgehört.
Er fand sie keine zwanzig Schritt vom Wagen entfernt. Er hatte es gestern nicht mehr registriert, aber sie befanden sich auf einer kleinen Anhöhe. Eine vergraste Schneise war in den Wald geschlagen worden und gab den Blick auf das Tal und seine trüben Wasserflächen vor ihnen frei.
Doch sein Blick galt zuerst ihr, wie sie, die Arme verschränkt, dastand. Wie lange war sie schon wach? Sie musste frieren, es war recht kühl. Sie neigte den Kopf ein wenig, als er an sie herantrat und mit einer schlaffen Bewegung den Arm um sie warf. Tatsächlich: sie zitterte leicht.
„Du holst dir noch den Tod,“ wollte er sagen, doch schluckte es hastig herunter.
„Im Tal gibt es bestimmt eine Siedlung,“ sagte er stattdessen.
„Ja, bestimmt,“ meinte sie ohne jede Kraft. Erst jetzt fiel es ihm auf, er erschrak.
Die tiefhängenden, milchigschwarzen Wolken schienen, jede für sich, von einer unsichtbaren Titanenklinge einen Stich ins Herz bekommen zu haben. „Da,“ sagte er und deutete mit einer seltsamen Handbewegung gen Himmel, „der Widerschein der Städte. Sie verglühen.“
Doch neben ihm schwieg es, und obwohl das Blutrot am Himmel seinen Blick magisch anzuziehen schien, senkte er ihn und starrte auf den durchnässten, lehmigen Boden vor seinen Füßen.
Es fehlten die Wärme und der leise, sanfte Herzschlag, dachte er plötzlich, und der Gedanke erschien ihm nicht einmal befremdlich. Er zog sie etwas an sich. Ansonsten wäre es die gleiche Stille wie an ihrer Brust.
Dann hörte er ihr leises Schluchzen, und bittere Wasser stiegen ihm in die Augen.

[Beitrag editiert von: Paranova am 29.03.2002 um 00:13]

 

So. Diese Story ist zwar keine typische Sci- Fi - Geschichte. Aber sie ist auch eher gedacht als dickes "Entschuldigung" an all die Leute, die sich mit der "Ankunft des Kometen" vor einem Monat auseinandergesetzt haben, und deren zahlreiche und teils sehr arbeitsintensive Kritiken aufgrund eines ganz, ganz dummen Fehlers meinerseits nicht beantwortet wurden. Ich hatte, da relativer Frischling hier, nicht daran gedacht, auf "Benachrichtigung bei Kritik" zu klicken, und dachte schlichtweg, niemand habe geantwortet...
Mit schlechtem Gewissen,
paranova
PS:
Ver*** :ak47: :gunfire:
Habs schon wieder vergessen. Das darf nicht wahr sein. Aber ich lerne dazu. Keine Kurzgeschichten mehr um fast vier Uhr morgens und öfter mal nach Kritiken gucken. Versprochen.

 

Hallo Paranova!

Deine Geschichte gefällt mir ganz gut, mir fehlt aber irgendwie so was wie ein Höhepunkt des ganzen.

Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich den Kern der Geschichte richtig sehe:

Außer ihnen schien es keine Menschen mehr auf der Welt zu geben

und

Fast wie die Sintflut

Ich interpretiere die Geschichte mal so, dass aufgrund von Überschwemmungen viele Menschen getötet wurden und die wenigen Überlebenden nach weiteren suchen.

Falls ich damit richtig liege, finde ich die Kategorie "Science-Fictiion" durchaus passend. Muss nicht immer eine "typische" Sci-Fi-Story sein.

Soweit zum Inhalt.

Dein Schreibstil gefällt mir und du hast alles prima beschrieben.

Ein Fehler bezüglich der Zeit ist mir aufgefallen:

Wo sie nicht waren, platzen unzählige, fette Regentropfen auf das kalte Glas

Ich denke mal, "platzen" gehört durch die Vergangenheitsform "platzten" ersetzt.

Ist aber nur 'ne Kleinigkeit. Sonst ist der Text rechtschreiberisch okay.

Viele Grüße,

Michael

 

Hi!
Es ist wirklich ne schöne Sache, mal was anderes im SciFi-Bereich zu entdecken. Was vielen Weltraum-Raumschiff-Geschichten hier fehlt, ist in Deiner Geschichte drin: lebende Menschen. Der Aubau der Atmosphäre ist wirklich gelungen - ich hatte das Gefühl, auf der Rückbank zu sitzen, die beiden beobachtend. Das hat gewirkt.

Michael hat recht: wirklich nicht leicht, die Geschichte sofort zu verstehen; ich betrachte es nach dem ersten Lesen so, wie er es tut. An einigen Stellen wünscht man sich eine Klärung des Geschehens:

...Handbewegung gen Himmel, „der Widerschein der Städte. Sie verglühen.“
Die ganze Zeit Wasser. Regen, Nässe. Warum verglühen die Städte? Ausserdem wäre ich davon ausgegangen, dass sie das Tal überflutet vorfinden. Auch klingt es etwas unwahrscheinlich, das viele ertrunken sind, weil sie in den Kellern geblieben sind. Sobald man merkt, dass das Wasser steigt, verlässt man solche Orte und sucht Höhen auf, wie die Beiden es getan haben.
Das tatsächliche Geschehen um die Hauptpersonen ist also relativ schwer zu begreifen. Wenn ich was falsch verstanden habe, sag's bitte.
Aber eine sehr schöne Situationsbeschreibung. Man lebt darin.

Ach ja, was mir noch auffiel:

..., die sich niemand zu überschreiten wagte.
das 'sich' kannst Du weglassen. "...Die niemand zu überschreiten wagte" ist richtig.

Nochmal ach ja:
Der Titel: hat das (...statt eines Titels) etwas zu bedeuten? "Reisebericht" find ich schon sehr gut.

Weiteres Ach ja:
'Abiturient'als Beruf ist echt cool! :D

[Beitrag editiert von: baddax am 27.03.2002 um 14:25]

 

also ich sage das noch etwas drastischer als baddax: anfangs dachte ich mir: geil! sintflut...weltuntergang. und nur als hintergrund einer sehr feinfühligen geschichte, genial verpackt. die geschichte nahm mich ein, die situation sehr gut beschirben, aber eigentlich lauerte ich ständig auf das nächste detail bezüglich flut, weltuntergang. aber immer nur die beiden. ha..endlich! städte verglühen! jetzt kommt gleich die auflösung, was da eigentlich geschieht...juhu!

aber denkste...die blöde kuh zittert bloß und weint. nix erfahre ich was da eigentlich los ist.

fazit: so gut die story auch geschrieben ist, so glaubhaft auch die personen auch rüberkamen, so unzufrieden lässt mich das alles hier zurück.

also: warum, wieso, was, wer ????

sehr gut geschrieben, aber du weckst sensationsgeilheit in mir, die du nicht befriedigst... ;)

noch ein detail:

.....platzen unzählige, fette Regentropfen auf das kalte Glas. Sie zerschellten überall, es regnete, wie sie es noch nie gesehen hatten,...

zerschellen kann nur etwas festes. ein regentrofen ist aber bekanntlich flüssig. ;)

liebe grüße,
franzl

 

Hallo miteinander!
Eure Kritik hat mich gefreut, und war durchaus berechtigt. Die Sachen mit dem "platzen", "zerschellen", dem Tal usw. werd ich mir in einer ruhigen Minute mal zu Gemüte führen, ich hatte das noch nicht bemerkt. Aber es scheint richtig zu sein...
Zu euren Verständnisfragen:
Grundsätzlich sind diese beiden Freaks ja Flüchtlinge. Im Gegensatz zu den anderen (Stadt-)Menschen haben sie die Keller verlassen. Die Keller legen nahe, dass eine direkte Bedrohung existiert. Die Flut ist es jedoch nicht. Was dann? Natürlich, Krieg. Die verglühenden Städte und die Angst der Menschen, die Keller trotz Regen nicht zu verlassen, sowie die Stelle, wo der Mann die Wagentür öffnet und die Luft noch so ist wie vorher (usw.), legen eine Auseinandersetzung mit ABC- Waffen nahe. Das erklärt auch die wenigen Menschen, zum Teil.
Hoffe einige Unklarheiten beseitigt zu haben. Natürlich wird nicht mit dem Holzhammer auf diese Dinge hingewiesen, aber gerade die Ungreifbarkeit der Bedrohung etc. habt doch ein wenig Reiz, oder nicht?
Versucht die Story mal von der erklärten (?) Seite zu sehen. bin gespannt wie ihr dann drüber denkt.
Viele liebe Grüße,
paranova

 

Hi!
Muss ehrlich gestehen, das ich darüber nicht nachgedacht habe. Ist so natürlich klarer und jetzt ergibt das "im Keller geblieben" auch Sinn. Wenn noch mehr das beim Lesen nicht kapieren, würde ich aber vielleicht noch den einen oder anderen Hint in die Story einbauen.

Mach's gut,

baddax

 

Hi!
Ich würde auch noch eher auf den Krieg hinweisen, damit's deutlicher wird. Die Idee ist aber gut.

Und die Story hat wirklich Atmosphäre!

Grüße, Michael

 

wenn du willst, dass du mehr verbitterte potentielle weiterleser hast, dann ändere es nicht. :D

jetzt hast du uns alle richtig schön neugierig gemacht und kannst deine schadenfreude ausleben ;)

liebe grüße,
franzl

 

An alle verbitterten Weiterleser!
Obwohl mich mein Mitbewohner ständig ablenkt, bin ich dazu gekommen, auf eure Bemerkungen einzugehen.
- Vielen Dank, Michael, die Sache mit dem "platzen" war ein Flüchtigkeitsfehler und wurde editiert,
- ebenso wie Baddax Vorschläge.
Das "sich" ist verschwunden, auch wenn ich noch nicht gänzlich davon überzeugt bin... die Sache mit dem Tal stimmt auch, aber das war schwierig und meine Verbesserung überzeugt mich noch nicht völlig.
- Der Einwand, dass nur etwas Festes zerschellen kann, aber kein Regen, ist zur Kenntnis genommen, aber ich habe mich erstmal entschlossen zu ignorieren, da mir keine wirklich gute Alternative einfiel.
So, das war´s!
paranova

[Beitrag editiert von: Paranova am 29.03.2002 um 00:18]

 

Sinnflut

Ihre Abwehr war zu stark. Wiederholt scheiterten Bemühungen unserer Raketen- und Luftstreitkräfte, direkte Attacken gegen ihr Heimatland, ihre Waffenfabriken, Infrastruktur und höheren Kommandoebenen durchzuführen... aufgrund des Scheiterns aller konventionellen Angriffe kamen wir darauf, eine Naturgewalt als Angriffswaffe zu nutzen, und uns wurde nach Abschluss unserer wissenschaftlichen Bemühungen durchschlagender Erfolg zuteil, als wir uns der Waffe der Götter bedienten: des Wetters.

Aus den Memoiren Professor Villingers


Die meiste Zeit über sprachen sie kein Wort. Das Radio, niemand hatte gewagt, es anzuschalten; es war wie eine unausgesprochene Grenze zwischen ihnen, die zu überschreiten niemand wagte. Sie hingen, jeder für sich, ihren Gedanken nach, während sie Minute für Minute ein weiteres Stück Land auf der Reise ins Nirgendwo hinter sich ließen.
Schon lange fieberten die schwarzen Wischer hektisch über die Scheibe. Wo sie nicht waren, schlugen unzählige, fette Regentropfen auf das kalte Glas. Sie zerplatzten überall, es regnete, wie sie es noch nie gesehen hatten, dichte Vorhänge aus Wasser stürzten gen Erde, so dass die Scheinwerfer kaum ausreichten, um die verwässerte Straße vor ihnen zu zeigen.
Das monotone Summen des Motors, das Rauschen der Wasser, das ferne Donnergrollen trug die Schläfrigkeit zu ihnen. Er bemühte sich, konstant sechzig zu fahren, schnell genug voran zu kommen, ohne bei dieser Sicht und dem mehrere Finger breit auf dem Asphalt stehenden Regen ein unnötiges Risiko einzugehen.
Außer ihnen schien es keine Menschen mehr auf der Welt zu geben. Angestrengt hatten sie ihre Augen nach draußen gerichtet, ihre Blicke in die blitzdurchpeitschten Regenschleier gebohrt, stundenlang, und schließlich resigniert aufgegeben.
Zuerst machte es Angst. Warum waren sie die einzigen?
Mit zunehmendem Starren reifte die Erkenntnis, dass nur sie nicht in den Kellern geblieben waren. Inzwischen musste denen das Wasser bis zum Hals stehen. Sie hatte aber kein Wort darüber verloren, nicht gezweifelt, nichts. Sie war unglaublich tapfer, fand er, und in seiner Brust schlug es.
Ein erneuter Blick auf die Tankanzeige. Nicht mehr lange. Die Erkenntnis schnitt sich bei ihm ein. Er überlegte: Das sanfte Tuch des Schweigens zwischen ihnen zerreißen? Die Augen wurden ihm müde. Nein.
Irgendwann wäre es sicherlich passiert. Das monotone Arbeiten des Motors hätte ihm die Augen zugedrückt. Man konnte das nicht verhindern, bei dieser Fahrt. Da beschloss sie, zu reden.
Ihre stockende Stimme brach ein in ihre kleine Welt aus Regenschlägen und Fahrtgeräusch, doch er erschreckte nur ein wenig. Es überraschte ihn, dass sie nicht schlief. Sie musste lange mit sich gerungen haben, bis sie sagte:
„Fast wie die Sintflut.“
„Ja“, antwortete er schnell und trocken. Und ihm fiel nichts ein, was er sonst noch hätte sagen können. Sintflut, drängte sich der Gedanke auf, wirklich Sintflut? Oder Sinn? Sinn-Flut? Warum Sintflut? Komisches Wort. Religiöses Wort. Sintflut. Dann nahm ihn wieder die immer gleiche Fahrt in Besitz. Er ging vom Gas und lenkte nach links ein. Langsam wurde die Strecke kurviger. Sie mussten in den Hügeln sein. Immer noch kein Licht, kein Haus, kein Gegenverkehr. Nur sie, und er, nur sie.
Kurzentschlossen warf er es heraus. „Der Tank ist bald leer.“
Ihre Stimme klang sanft. „Ich weiß“, sagte sie leise.
„Und... und dann?“ Weiter wagte er nicht, den Gedanken zu formulieren.
Zum ersten Mal wandte sie ihm den Kopf zu, schaute ihn an. Er ließ kurz die Augen von der Straße. Sie sah müde aus, erschöpft, verbraucht.
Und trotzdem, trotz allem, lächelte sie ermunternd.
Es kam ganz automatisch. Auch seine Mundwinkel zogen nach oben, einige Falten, welche die Fahrt in die Mundwinkel gegraben, verschwanden kurz.
„Ich liebe dich“, flüsterte er ganz leise, und er wusste, dass sie es bei Fahrt und Regen nicht verstanden haben konnte.
Er musste die Augen abwenden, zurück auf die Straße. Es durfte nichts passieren. Eigentlich hätte er erschrecken müssen, ihre Hand kam unerwartet, mit dem Handrücken und den Fingern strich sie schwach über seine Wange, fühlte sich rau und kalt an, ruhte kurz an seinem Nacken. In diesem Moment hätte er wohl geweint, wenn nicht der Motor erstorben wäre.
Sie zog die Hand zurück. Es war soweit. Die Reise ins Nichts beendet. Er ließ den Wagen auslaufen, stoppte am Straßenrand und löschte nach einem Moment die Scheinwerfer. Seufzend lehnte er sich zurück in die Dunkelheit.
Ein greller Lichtblitz zerriss die Dunkelheit, der gewaltige Donnerhall ließ ihn zusammenzucken.
„Wie spät ist es?“, hörte er sie nach einer Weile fragen, wohl nur, um etwas zu sagen in den Regen hinein.
„Kurz nach Drei“, murmelte er. „Wir sollten uns ausruhen.“
Und er schloss die Augen; obwohl er seit neun Stunden gefahren war, kam der Schlaf nicht über ihn. Er verwarf den Gedanken, auszusteigen und die Decken aus dem Kofferraum zu holen, statt dessen stellten sie einfach nur die Lehnen zurück. Vielleicht würden sie im Auto ersticken, kam es ihm in den Sinn. Lauschte er angestrengt in das Tosen der Urgewalten hinein, erkannte er, dass auch ihr Atem unruhig ging. Es lag zuviel auf ihren Schultern; es dauerte sehr lange, bis er wusste, dass sie eingeschlafen war. Beruhigt, dass sie nichts mehr gesagt hatte, versank auch er schließlich.

Als er erwachte, wusste er erst nicht, wo er war. Sein Rücken schmerzte vom unbequemen Liegen, und es war noch recht dämmerig. Die Scheibenwischer waren mitten in ihrem ewigen, hastigen Hin und Her erstarrt, als er gestern den Schlüssel umgedreht hatte. Morgentau hatte sich zum Nass auf der Scheibe gesellt und funkelte, trotz des schwachen Lichtes, wie farbloser Edelstein. Er zitterte sich kurz wach, und dann kam auch das Erinnern an die Fahrt, welches ihm einen erneuten unwillkürlichen Schauer versetzte. Er drehte seinen Schädel zur Seite, doch fand ihren Platz leer. Das weckte ihn gänzlich. Er rappelte sich hoch und öffnete ohne zu zögern die Tür. Die Luft war noch wie früher.
Kalt und feucht und frisch. Keine Stadtluft. Die Luft nach der Sinnflut, dachte er und stieg aus. Es fiel ihm nicht auf, dass kein Vogel sang. Seine Schuhe versanken bis zu den Knöcheln in Pfützen, wurden durchnässt, der regenschwere Boden schmatzte unter seinen Schritten und versuchte ihn festzuhalten. Endlich hatte es aufgehört.
Er fand sie keine zwanzig Schritt vom Wagen entfernt. Er hatte es gestern nicht mehr bewusst wahrgenommen, aber sie befanden sich auf einer kleinen Anhöhe. Eine vergraste Schneise war in den Wald geschlagen worden und gab den Blick auf das Tal vor ihnen frei.
Doch sein Blick galt zuerst ihr, wie sie, die Arme verschränkt, dastand. Wie lange war sie schon wach? Sie musste frieren, es war recht kühl. Sie neigte den Kopf ein wenig, als er an sie herantrat und mit einer schlaffen Bewegung den Arm um sie warf. Tatsächlich: sie zitterte leicht.
„Du holst dir noch den Tod“, wollte er sagen, doch schluckte es hastig herunter.
„Im Tal gibt es bestimmt eine Siedlung“, sagte er stattdessen.
„Ja, bestimmt“, meinte sie ohne jede Kraft. Erst jetzt fiel es ihm auf, er erschrak.
Es gab kein Tal mehr, nur noch bleifarbene, matt schimmernde Wasserflächen.
Für einen Augenblick glaubte er, in der Ferne das leise Grollen eines Düsenflugzeuges zu hören, und wandte den Blick nach oben. Die tiefhängenden, milchigschwarzen Wolken schienen, jede für sich, von einer unsichtbaren Titanenklinge einen Stich ins Herz bekommen zu haben. „Da“, sagte er und deutete mit einer seltsamen Handbewegung gen Himmel, „der Widerschein der Städte. Sie verglühen.“
Doch neben ihm schwieg es, und obwohl das Blutrot am Himmel seinen Blick magisch anzuziehen schien, senkte er ihn und starrte auf den durchnässten, lehmigen Boden vor seinen Füßen.
„Wie still es ist“, hörte er sie leise sagen.
Er zog sie etwas an sich.
Du wirst dich daran gewöhnen müssen, dachte er grimmig. Dann hörte er ihr leises Schluchzen, und bittere Wasser stiegen ihm in die Augen.

 

Hi Paranova,

die wenigen Veränderungen und die Memoiren haben die Geschichte abgerundet.
Ich finde sie großartig - die ganze Verzweiflung und Resignation sind wunderbar eingefangen!

LG
Aragorn

 

Hi paranova,
die Überarbeitung hat der Geschichte gut getan und macht sie (annähernd) perfekt.
Die Stimmung passt hervorragend, in die Charaktere kann ich mich gut hineinversetzen.
Und die Handlung rundherum wird durch die paar eingefügten Sätze zu einem perfekten logischen Gerüst ausgebaut

Hochachtung: so stimmungsvolle SF liest man nur selten!

lg Hunter

 

Hallo!Ich bewundere den wirklich zügigen und schönen Stil, an dem Du bestimmt lange gearbeitet hast. Es fällt leicht, die Geschichte durchzulesen (!). Aber ... wo ist der Höhepunkt, die "Pointe", der SciFi-Kick? Das fehlt, finde ich. Kannst Du das auch?
Freue mich auf die nächste Geschichte!!!

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Aragon, Hunter und eco,
vielen Dank für´s Lesen. So, jetzt kann ich die Geschichte wohl zu den "guten" packen, damit hab ich mein Ziel erreicht, hehe.

Der SciFi-Kick, eco? Die Raumschiffe, das Neue, Unbekannte? Gibt´s nicht, vielleicht unterschwellig.

Relativ ereignislos ist die Geschichte, sieht man von der Vernichtung einer halben Zivilisation ab, da hast du Recht.
Aber ich denke, es müssen nicht immer die Höhepunkte sein, die eine Geschichte interessant machen, und Hunter sowie Aragon scheinen mich zu bestätigen.

So long,
...para

PS:
Nicht so lang, wie du denkst. Ging in einem Rutsch, wie alle älteren Geschichten von mir.

 

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