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Sinnflut
Rewrite steht hier
Reisebericht ( ... statt eines Titels )
Die meiste Zeit über sprachen sie kein Wort. Das Radio, niemand hatte gewagt, es anzuschalten; es war wie eine unausgesprochene Grenze zwischen ihnen, die niemand zu überschreiten wagte. Sie hingen, jeder für sich, ihren Gedanken nach, während sie Minute für Minute ein weiteres Stück Land auf der Reise ins Nirgendwo hinter sich ließen.
Schon lange liefen die schwarzen Wischer hektisch über die Scheibe. Wo sie nicht waren, platzten unzählige, fette Regentropfen auf das kalte Glas. Sie zerschellten überall, es regnete, wie sie es noch nie gesehen hatten, dichte Vorhänge aus Wasser stürzten gen Erde, so dass die Scheinwerfer kaum ausreichten, um die verwässerte Straße vor ihnen zu zeigen.
Das monotone Summen des Motors schläferte ein. Er bemühte sich, konstant achtzig zu fahren, schnell genug voran zu kommen, ohne bei dieser Sicht und dem sicherlich fingerhoch auf dem Asphalt stehenden Regen ein unnötiges Risiko einzugehen.
Außer ihnen schien es keine Menschen mehr auf der Welt zu geben. Angestrengt hatten sie ihre Augen nach draußen gerichtet, ihre Blicke in die Regenschleier gebohrt, stundenlang, und schließlich resigniert aufgegeben.
Zuerst machte es Angst. Warum waren sie die einzigen?
Mit zunehmendem Starren reifte die Erkenntnis, dass sie als einzige nicht in den Kellern geblieben waren. Inzwischen musste denen das Wasser bis zu den Knien stehen. Sie hatte aber kein Wort darüber verloren, nicht gezweifelt, nichts. Sie war unglaublich tapfer, fand er, und in seiner Brust schlug es.
Ein erneuter Blick auf die Tankanzeige. Nicht mehr lange. Die Erkenntnis schnitt sich bei ihm ein. Er überlegte: Das sanfte Tuch des Schweigens zwischen ihnen zerreißen? Die Augen wurden ihm müde. Nein.
Irgendwann wäre es sicherlich passiert. Das monotone Arbeiten des Motors hätte ihm die Augen zugedrückt. Man konnte das nicht verhindern, bei dieser Fahrt. Da beschloss sie, zu reden.
Ihre stockende Stimme brach ein in ihre kleine Welt aus Regenschlägen und Fahrtgeräusch, doch er erschreckte nur ein wenig. Es überraschte ihn, dass sie nicht schlief. Sie musste lange mit sich gerungen haben, bis sie sagte:
„Fast wie die Sintflut.“
„Ja,“ antwortete er schnell und trocken. Und ihm fiel nichts ein, was er sonst noch hätte sagen können. Sintflut, drängte sich der Gedanke auf, wirklich Sintflut? Oder Sinn? Sinn- Flut? Warum Sinnflut? Komisches Wort. Religiöses Wort. Sintflut. Dann nahm ihn wieder die immer gleiche Fahrt in Besitz. Er ging vom Gas und lenkte nach links ein. Langsam wurde die Strecke kurviger. Sie mussten in den Hügeln sein. Immer noch kein Licht, kein Haus, kein Gegenverkehr. Nur sie, und er, nur sie.
Kurzentschlossen warf er es heraus. „Der Tank ist bald leer.“
Ihre Stimme klang sanft. „Ich weiß,“ sagte sie leise.
„Und... und dann?“ Weiter wagte er nicht, den Gedanken zu formulieren.
Zum ersten Mal wandte sie ihm den Kopf zu, schaute ihn an. Er ließ kurz die Augen von der Straße. Sie sah müde aus, erschöpft, verbraucht.
Und trotzdem, trotz allem, lächelte sie ermunternd.
Es kam ganz automatisch. Auch seine Mundwinkel zogen nach oben, einige Falten, welche die Fahrt in die Mundwinkel gegraben, verschwanden kurz.
„Ich liebe dich,“ flüsterte er ganz leise, und er wusste, dass sie es bei Fahrt und regen nicht verstanden haben konnte.
Er musste die Augen abwenden, zurück auf die Straße. Es durfte nichts passieren. Eigentlich hätte er erschrecken müssen, ihre Hand kam unerwartet, mit dem Handrücken und den Fingern strich sie schwach über seine Wange, ruhte kurz an seinem Nacken. In diesem Moment hätte er weinen können, wenn nicht der Motor erstorben wäre.
Sie zog die Hand zurück. Es war soweit. Die Reise ins Nichts beendet. Er ließ den Wagen auslaufen, stoppte am Straßenrand und löschte nach einem Moment die Scheinwerfer. Seufzend lehnte er sich zurück in die Dunkelheit.
„Wie spät ist es?“ Hörte er sie fragen, wohl nur, um etwas zu sagen in den Regen hinein.
„Kurz nach drei,“ murmelte er. „Wir sollten uns ausruhen.“
Und er schloss die Augen; obwohl er seit neun Stunden gefahren war, kam der Schlaf nicht über ihn. Er verwarf den Gedanken, auszusteigen und die Decken aus dem Kofferraum zu holen, statt dessen stellten sie einfach nur die Lehnen zurück. Vielleicht würden sie im Auto ersticken, kam es ihm in den Sinn. Ihr Atem ging ebenfalls nicht ruhig. Es lag zuviel auf ihren Schultern; es dauerte sehr lange, bis er wusste, dass sie eingeschlafen war. Beruhigt, dass sie nichts mehr gesagt hatte, versank auch er schließlich.
Als er erwachte, wusste er erst nicht, wo er war. Sein Rücken schmerzte vom unbequemen Liegen, und es war noch recht dämmerig. Die Scheibenwischer waren mitten in ihrem ewigen, hastigen Hin und Her erstarrt, als er gestern den Schlüssel umgedreht hatte. Morgentau hatte sich zum Nass auf der Scheibe gesellt und funkelte, trotz des schwachen Lichtes, wie farbloser Edelstein. Er zitterte sich kurz wach, und dann kam auch das Erinnern an die Fahrt, welches ihm einen erneuten unwillkürlichen Schauer versetzte. Er drehte seinen Schädel zur Seite, doch fand ihren Platz leer. Das weckte ihn gänzlich. Er rappelte sich hoch und öffnete ohne zu zögern die Tür. Die Luft war noch wie früher.
Kalt und feucht und frisch. Keine Stadtluft. Die Luft nach der Sintflut, dachte er und stieg aus. Es fiel ihm nicht auf, dass kein Vogel sang. Der regenschwere Boden schmatzte unter seinen Schritten. Endlich hatte es aufgehört.
Er fand sie keine zwanzig Schritt vom Wagen entfernt. Er hatte es gestern nicht mehr registriert, aber sie befanden sich auf einer kleinen Anhöhe. Eine vergraste Schneise war in den Wald geschlagen worden und gab den Blick auf das Tal und seine trüben Wasserflächen vor ihnen frei.
Doch sein Blick galt zuerst ihr, wie sie, die Arme verschränkt, dastand. Wie lange war sie schon wach? Sie musste frieren, es war recht kühl. Sie neigte den Kopf ein wenig, als er an sie herantrat und mit einer schlaffen Bewegung den Arm um sie warf. Tatsächlich: sie zitterte leicht.
„Du holst dir noch den Tod,“ wollte er sagen, doch schluckte es hastig herunter.
„Im Tal gibt es bestimmt eine Siedlung,“ sagte er stattdessen.
„Ja, bestimmt,“ meinte sie ohne jede Kraft. Erst jetzt fiel es ihm auf, er erschrak.
Die tiefhängenden, milchigschwarzen Wolken schienen, jede für sich, von einer unsichtbaren Titanenklinge einen Stich ins Herz bekommen zu haben. „Da,“ sagte er und deutete mit einer seltsamen Handbewegung gen Himmel, „der Widerschein der Städte. Sie verglühen.“
Doch neben ihm schwieg es, und obwohl das Blutrot am Himmel seinen Blick magisch anzuziehen schien, senkte er ihn und starrte auf den durchnässten, lehmigen Boden vor seinen Füßen.
Es fehlten die Wärme und der leise, sanfte Herzschlag, dachte er plötzlich, und der Gedanke erschien ihm nicht einmal befremdlich. Er zog sie etwas an sich. Ansonsten wäre es die gleiche Stille wie an ihrer Brust.
Dann hörte er ihr leises Schluchzen, und bittere Wasser stiegen ihm in die Augen.
[Beitrag editiert von: Paranova am 29.03.2002 um 00:13]