- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 2
Sinnen und Trachten
Eine junge Hobbyautoren aus Klingenstadt, die allen nur als Lisa bekannt gemacht wurde, war unentwegt auf der Suche nach inspirativen Anekdoten gewesen. Für diese Ideen, die ihr niemals selbst in den Sinn gekommen wären aufzuschreiben, bediente sie sich aufs Geratewohl bei denjenigen Kollegen, die sie zu jedem noch so kümmerlichen Anlass eingeladen hatten. Sie stahl ihnen einfach ihre unveröffentlichten Manuskripte aus den Lesezimmern und verkaufte diese anschließend als die ihrigen. Ihr Gewinn war mäßig, aber sie hielt so wenigstens finanziell ihren Kopf über Wasser. Sie war aber auch, wenngleich unglaubwürdig und affektiert in ihrer Aussprache, ein stets gern gesehener Gast in jedem denkenden Hause gewesen, denn sie war tatsächlich von atemberaubender Schönheit und sie verstand es gleichzeitig, die signale Ausstrahlungskraft ihrer Weiblichkeit genauestens einzusetzen. Überdies mochte sie es natürlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen und sich mit überschwänglich einstudierter Freude über die heldenhaften Sinnlosigkeiten ihrer männlichen Gastgeber zu amüsieren. Sie war einfältig und oberflächlich, benutzte andauernd Fremdwörter und hatte den Hang viel zu trinken, was ihrer Beliebtheit aber keinen Abbruch bereitete. Und ihre vorgeschobene literarische Interessiertheit ließ die sonst so fest verschlossenen Geheimtüren, auch die der bekanntesten Autoren, schließlich von ganz allein aufspringen. Insofern hatten sich die zumeist älteren Herren aus der Schriftstellergarde den Deibel aus reiner Eroberungslust selbst ins Haus geholt. Sie wussten alle, was geschehen würde und hatten doch nicht die Kraft, sich ihrer wieder zu entledigen.
Sie war die personifizierte, ja die reinste weibliche Vollendung gewesen. Ihre Zartheit drückte das Paradies aus und wenn sie, wie gewöhnlich an warmen Sonnentagen, mit ihrem Frettchen zur Rechten und nur mit einem kurzen Kleidchen ausgestattet über den Krähenmarkt spazieren ging, waren ihr nicht nur die herunterexkrementierten Fladen auf dem Kopf sicher, die die Singvögel immer auf sie haben herabregnen lassen. Streitsüchtige Bogenschützen haderten fernerhin, hinter Bäumen und Papierkörben versteckt, mit ihren verehelichten Sologeigen, welche traurig vor sich hin spielten, sobald die Schwelle des gebrochenen Schwures übertreten war. Der kleinen Diebin auf dem Krähenmarkt aber hatten sie ein großes Geschenk gemacht damit, denn sie gaben ihr mit ihrer Vergötterung eine gefühlte Anerkennung, die sie wie nichts auf der Welt liebte und die ihre höchst unerfreuliche Erfolglosigkeit für einen Moment in den Schatten verdrängte. Doch ihre soziale Inkompetenz war zu groß, ihr Einfallsreichtum zu gering und ihre Lust an der Vernichtung männlicher Intelligenz, die sie erst eigennützig zu gebrauchen wusste, um sie danach wegzuwerfen, eine perfide. Männer waren nur seelisches Kanonenfutter, die sich ihrer mit offenem Visier und bestenfalls mit rohen Werken in den Schubladen vorstellten. Und sie griff bereitwillig zu. Wann immer sie konnte.
Doch eines Tages, als die Gute einer Einladung des 82-jährigen Ex-Richters Heinrich Perkheimer nachkam, der ihr in einer privaten Lesestunde aus Henry James „Die Drehung der Schraube“ vorlas, verliebte sich die Betrügerin (auf den wahrhaft ersten Blick) in den Graukopf im Schaukelstuhl. Der aber, erschrocken von der gierigen Hinterhältigkeit jenes einnehmenden Weibstücks, wie er dachte, war darüber so verärgert, dass er das junge Ding bei den Haaren nahm und es in den Keller schleifte. Dort angekommen, sperrte er die schöne Seelenräuberin schließlich für lange Jahre in ein Verlies aus Stein und Metall, das einmal das Zimmer seiner verstorbenen Frau gewesen war. Er gab ihr zu essen und zu trinken, reichte ihr Dostojewski, Turgenjew und andere große Meister. Er gab ihr Schreibblöcke, Stifte und eine Olivetti. Mehr als das hatte sie nicht zu erwarten und sie begriff es noch am selben Tag.
Und erst nach 7 Jahren des Eingesperrtseins entdeckten Polizisten, die zum Haus des Ex Richters gekommen waren, weil der nicht, wie versprochen, bei den Wagnerfestspielen erschienen war, die inzwischen völlig verwahrloste, aber lebendige Frau im Bunkersystem. Sie war schier unansehbar geworden. Das einstmals hübsche Gesicht nur noch eine brach liegende Baustelle, aus der trostlose Augen hervorblickten. Und am ganzen Körper vermischten sich Schweiß und Dreck zu einer harten Kruste. Es stank ganz fürchterlich nach Kot und Körperflüssigkeiten, die sich zum Teil in warmem Zustand ihren Weg bahnten über den Gesteinsweg hinweg. Und um sie herum, vom Urin durchnässt, lagen zahlreich und in chronologischer Reihenfolge aufgetürmt, ihre Manuskripte. Heinrich Perkheimer lag darmentleert mit einem Buch seiner Muse in der Hand neben ihr. Er war tot und er hatte ein Lächeln im Gesicht.