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Singapur 1976
Böen unterbrachen fast sein Gehen, seine Hose schlang sich um seine Beine, sie berührte in unregelmäßigen Abständen seine Waden, seine Socken, er spürte es durch, sowie seine Kniekehlen. Sein Mantel war aus sehr feinem Stoff, er war klassisch geschnitten, wie fast jeder Mann ihn trug in dieser Stadt. Der Wind kam aus ein Uhr, links vier- bis fünfstöckige Häuser, rechts eine Straße, die orange beleuchtet wurde. Man konnte erkennen, dass etwa 300 Ellen weiter, eine Laterne etwas heller leuchtete. Ein paar Ellen vor dieser Laterne wippte ein Schild mit der Aufschrift „Hannemann & Söhne“, es bestand hauptsächlich aus Kupfer. Die Tür darunter war sein vorläufiges Ziel.
Es begannen die ersten Regentropfen aufzutreffen, als er kurz vor der Tür war. Er drückte den weißen Knopf, von dem er stark annahm, dass es jener war, der die Glocke im Haus erklingen lässt. Er hörte jedoch nichts. Langsam begann sein Herz fester zu klopfen, hauptsächlich weil ihm das Gehen im Winde zu schaffen gemacht hatte, aber langsam auch weil er nun doch sehr angespannt war, da er nicht wusste was auf ihn zukam. Als etwa 15 Sekunden vergangen waren, spielte er mit dem Gedanken noch einmal zu klingeln, sein rechter Arm zuckte kurz auf in Richtung Knopf, sank aber wieder zurück. 8 Sekunden später berührte er nach einer leicht zögernden Aufwärtsbewegung der Hand, erneut den Knopf. Er wartete noch etwa 2 Sekunden, während diesen er mit dem Körper leicht zurückkippte, sodass der Zeigefinger fast den Kontakt mit dem Knopf verlor, dann drückte er jedoch den Knopf ein zweites Mal, diesmal etwas länger als beim ersten Mal. Diesmal versuchte er ganz genau hinzuhören, ob man die Glocke hören konnte und hörte sie tatsächlich ganz leise. Sie muss weit weg gewesen sein, denn so dick wirkte die Tür nicht. Nun hörte er knarrendes Holz, jemand muss Stiegen hinunter oder hinauf gehen, denn das Knarren kam in sehr kurzen Abständen. Es krachte und klimperte direkt an der Tür, jemand machte auf. Doch er starrte noch immer an jene Stelle, an der sich das untere Ende der Tür befunden hatte. Er merkte dass ihm eine zierliche Person gegenüberstand.
Langsam richtete er seinen Blick direkt in Richtung des Gesichtes dieser Person, doch seine Augen waren zu sehr an die Dunkelheit gewöhnt, als dass er das Gesicht sofort gut sehen hätte können. Es handelte sich um eine Dame mit dunklen, gelockten, schulterlangen Haaren, die eine eng geschnittene, trotzdem nicht anliegende schwarze Weste mit kleinen, glitzernden, schwarzen, runden Plastikscheibchen, die anscheinend irgendwie das Dekolté simulieren sollten, trug. Die Hose war dunkel, aber er schaute nicht genauer hin. Er zog einen kleinen Zettel aus der Manteltasche und las das mit Füllfeder Geschriebene vor, obwohl er es zuvor auswendig gelernt hatte, aber es erschien ihm irgendwie passend: „Gerhard König“. Sofort steckte er den Zettel zurück in die Manteltasche, ließ die Hand in dieser, während seine linke Hand sich schon davor in der anderen Manteltasche befand. So stand er abwartend da und beugte sich leicht vor, um der Augenhöhe etwas entgegenzukommen. Der Regen kam und ging während diesem Moment, hatte im Schnitt aber subjektiv zugenommen.
„Kommen Sie, seien Sie unser Gast!“ sagte die Dame. Schon beim ersten Schritt hinein knarrte der Holzfußboden und weit und breit war keine Treppe zu sehen, er erschrak plötzlich furchtbar, denn das hieß, dass die Schritte mit den kurzen Abständen ohne Treppe verursacht werden mussten. Er machte sich kurz Mut, was jedoch keineswegs der Flüssigkeit der Bewegungen einen Abbruch tat, ging noch ein paar Schritte hinein, wartete dann auf die Frau, die damit beschäftigt war die Tür wieder zu verschließen. Dann kam sie auf ihn zu, mit kleinen heftigen Schritten, er starrte auf ihre Füße, versuchte dann den Blick an das kleine Bild neben der Tür zu heften und tat so als würde es ihn interessieren, obwohl von dieser Entfernung kaum etwas zu erkennen war, es war einfach zu weit weg. Als sie ein oder zwei ihrer Minischritte an ihm vorbei war, versuchte er ihr Tempo mit leicht verkürzten Schritten zu halten. Es gelang ihm tatsächlich gut. Er dachte sich, dass sie nichts dafür konnte, währenddessen war er jedoch so froh darüber, dass er normal gehen konnte, dass es ihm ein wenig peinlich war. Doch er konnte seine Freude darüber innerlich nicht zurückhalten. Sie gingen so ungefähr 3 Minuten, mit normalen Schritten wäre es wohl in einem Sechstel der Zeit zu schaffen gewesen. An der gewünschten Tür angekommen, stellte sie sich rechts daneben, was auch wieder einige Zeit in Anspruch nahm. An der Tür war ein Schild mit der Aufschrift „Atika Imasam“, was er seltsam fand, da er bis jetzt dachte sich in einem privaten Haus zu befinden. Draußen war zwar das „Hannemann & Söhne“-Schild, aber die Einrichtung und Atmosphäre ließen einfach nur diesen Schluss zu.
Er nahm erneut den kleinen Zettel heraus und betrachtete nun die Rückseite, darauf stand: „3x klopfen, 2x treten, abwarten“. Er versuchte es sich einzuprägen und spielte es ein weiteres Mal im Kopf durch. Dann klopfte er drei Mal schnell, trat zweimal gegen die Tür und wartete kurz. Plötzlich bemerkte er, dass er die Tür wohl zu stark getreten hatte, denn es lagen nun ein paar kleine dunkelbraune Splitter am Boden, diese waren vorher noch nicht da, da war er ganz sicher, noch dazu lagen sie direkt vor seinem Schuh. Nun schrie die Dame grell und ziemlich laut. Er hatte bereits geahnt, dass dieser Fehler wohl nicht zu tolerieren ist. Er hoffte dass etwas passiert, doch es passierte nichts. Die Dame stand nur da, wirkte etwas aufgewühlter als vorher, allerdings nicht überrascht, was ihn aber wiederum überraschte. Er bemerkte, dass ihr Blick total leer war und ihre Iris schien dunkler als vorher. Plötzlich läutete eine kleine kupferne Glocke über ihm, was er als das Einläuten des zweiten Versuchs verstand. Zuvor tastete er aber noch mit seinem Blick die Mimik der Dame ab. Diese wirkte etwas gelöster als vorher, was ihn dazu veranlasste, es ein zweites Mal zu versuchen. Während er dreimal klopfte, machte er mit sich aus, nur ganz leicht gegen die Tür zu treten, vielleicht reichte das ja aus, es war allerdings bestimmt besser, als erneut die Tür zum Bröseln zu bringen. Als nach dem Treten die Tür kaum bröselte, war er zugleich erleichtert aber auch etwas angespannt. Er wartete ab. Dann drehte sich die Dame um und ging den immer dunkler werdenden Gang entlang. Ihre Schritte kamen ihm viel schneller vor als zuvor, er versuchte ihre zuvor gegangenen Schritte gedanklich abzurufen und mit den gegenwärtigen zu vergleichen. Sie bewegte sich vollkommen gleich, nur war es, als würde an jeder ihrer Bewegungsbahnen etwas ziehen. Er lief los, stellte sich 4-5 Ellen vor ihrer derzeitigen Position hin. Er wollte sie aufhalten, denn er hatte das Gefühl, als ob ihr Ziel sein Leben bedrohte und obwohl er nicht wusste, was sein Leben überhaupt ausmachte, hatte er das Gefühl, etwas tun zu müssen. Er wusste, dass er sie mit seiner bloßen Körperkraft unmöglich aufhalten konnte, dennoch stellte er sich ihr in den Weg und machte die Augen zu. Es verging kaum Zeit, da spürte er an seinen Händen, mit welchen er mit Kopf und Brust ein etwa gleichseitiges Dreieck bildete, ihre harten, knochigen Finger, dann ihre harten Knie, die er überall an seinen Beinen zu spüren bekam. Er drehte sich gegen den Uhrzeigersinn, sodass er sie links vorbeilassen konnte, dabei spürte er an seinem Oberarm, ihren harten Schulterknochen. Um sich besser konzentrieren zu können, entlastete er seinen Rücken, indem er sich hinunterbeugte und sich mit den Händen an den Oberschenkeln festhielt. Dabei schaute er ihr nach. Doch es war ihm nicht vergönnt, einen klaren Gedanken zu fassen, sein Bewusstsein schwankte zwischen dem Bild vor ihm und blanker Leere. Plötzlich verstand er, warum ihn etwas zurückhielt, sie weiter zu verfolgen: Er wusste nicht wo dieser Gang hinführte und er wusste nicht was das Ziel der Dame war. Beides machte ihm Angst. Deshalb verdrängte er diese beiden Dinge und überlegte lieber, ob er die Tür nicht einfach aufmachen konnte. Schließlich konnte er jetzt nicht einfach gehen, es regnete draußen und er hatte noch nichts erreicht.
Nach kurzer Überlegung, kam ihm der Gedanke, das kleine Bild genauer zu betrachten, denn er fragte sich, welche Kunst man sich hier aufhängte. Er lief eilig nach vor zur Eingangstür, um das kleine Bild zu betrachten. Draußen regnete es und hinter ihm war die Dame bestimmt schon an ihrem Ziel, doch dieses Bild war dasselbe wie vorher. Er spürte eine kleine, aber kräftige warme Quelle, genau in der Mitte seines Körpers. Die Wärme strahlte in ihm aus, die Quelle der Wärme hatte eine dermaßen große Intensität, dass er überzeugt war, dass die Quelle ihn noch lange Zeit mit Wärme versorgen konnte. Mit beiden Händen nahm er das Bild herunter und lief damit zur Dame. Diese stand vor einer dunklen Wand, welche am Ende des Ganges war und kommunizierte sehr intensiv durch diese hindurch. Er versuchte ihre Aufmerksamkeit auf das Bild zu lenken, doch sie schien es nicht zu interessieren. Sie konnte es schließlich jeden Tag ansehen, sie kannte jedes Detail des Bildes, doch hatte deren Bedeutung teilweise vergessen. Er versuchte ihr zu erklären, dass er nun diese Wärme im Körper spürte und das Bild etwas damit zu tun hatte. Doch sie wusste dass das Bild das konnte. Er sah sie an und erkannte, dass auch sie dieselbe Wärme im Körper hatte, aber war ihre Quelle viel kleiner als seine, doch es schien ihr zu reichen. Sie war erfahren genug, mit nur kleiner Wärmequelle auszukommen. Er konnte ihr mit dem Bild nicht mehr dienlich sein, das Bild konnte die Wärmequellen nur erschaffen, nicht aber vergrößern. Einerseits fand sie es sehr nett, dass er ihr helfen wollte, andererseits wusste sie aber, dass er das auch deshalb machte, um sie ruhig zu stellen. Trotzdem brach sie die Kommunikation ab.
Die Beiden sprachen nichts, die Situation wurde immer unangenehmer. Das Tun zuvor bewahrte ihre Persönlichkeiten vor direktem Zusammentreffen. Er fragte, ob es jetzt möglich wäre, das Zimmer zu betreten. Während er fragte, lächelte er smart und versuchte durch ununterbrochenen Augenkontakt mit der Dame zu flirten. So schnell die Dame konnte, bejahte sie die Frage, es war ihr peinlich, dass er überhaupt fragen musste. Schnell ging sie in Richtung der Tür und quasselte dabei irgendetwas von ihren Kindern, was sie studieren, wo sie leben. Doch da sie so schnell redete wie sie ging, verstand er nicht alles, versuchte aber nach den potenziell wichtigsten Informationen brummende Laute von sich zu geben, um sie nicht noch mehr in Verlegenheit zu bringen. Es fiel ihm schwer schritt zu halten, befand sich auf der ganzen Strecke hinter der Dame. Jedoch wollte er sich auch nicht auf gleicher Höhe befinden, da dadurch ein kurzes Überholen seinerseits nicht auszuschließen gewesen wäre. Hätte er sie überholt, hätte er damit die Autorität der Dame in ihrem Haus untergraben, dies wollte er unbedingt verhindern.
Endlich im Zimmer angekommen, ging er ins nächste Kaffeehaus. Es war eines jener Kaffeehäuser, die zwar einerseits – Plastikpflanzen inklusive – eine gewisse Lethargie ausstrahlten, andererseits offenbarte der zweite Blick, jene leicht angestaubte, aber äußerst charmante Tradition. Man hatte das Gefühl, an etwas teilhaben zu dürfen, das größer als man selbst war. Es galt allerdings, sich dies nicht anmerken zu lassen, so schnappte er sich die heutige Kolbaseto Gxenerala und schwang sich in die grüne Bank, vor einem der kleinen Marmortischchen unweit des Eingangs und mit Blick auf ebendiesen. Er schaute auf die Uhr, an der dunklen Marmorwand. Es war 21:06 Uhr, berücksichtigte man die übliche Zeitkrümmung in dieser Dimension von 3,14% retrograd, war es etwa 21:47 Uhr ¬– bei kaufmännischer Rundung – in Singapur.
„Bitte sehr?“, fragte der Kellner, während er eine Hand an dem gegenüber von ihm befindlichen Sessel ablegte und mit der anderen Hand ein silbrig-mattes ovales Tablett hielt, welches dominiert war durch seine große Existenz. Eine rasche Antwort war wohl angebracht. Ihm fiel immer nur Melange und Kaffee Latte ein, einen Kaffee Latte wollte er aber nicht, weil ihm des Öfteren, tendenziell auch diesmal, eine zu große Menge an Milch nicht bekam. So bestellte er eine Melange. Ein Zweifel ob das die beste Wahl war, blieb natürlich, schließlich hatte er nicht einmal einen Blick in die Karte geworfen. Andererseits, was hätte denn schon Großartiges drinstehen können? Er wollte schließlich Kaffee, damit fiel schon ein Großteil der Möglichkeiten weg, einen Kaffee Latte wollte er auch nicht, irgendetwas Kleines wie Mocca oder so, wollte er auch nicht, weil ihm diese Koffeinstamperl nicht ganz geheuer waren. Da blieb fast nur mehr die Melange übrig. Ein Restzweifel blieb jedoch.
Ein bisschen fehl am Platz fühlte er sich, die meisten Menschen hier waren älter und eigentlich jeder passender gekleidet. Deshalb fühlte er sich beobachtet, er starrte die Zeitung an, fokussierte seinen Blick auf einen beliebigen Teil des Titelbildes und erkannte dabei nicht einmal, worum es bei diesem Bild ging. Ein Selbstmordanschlag, irgendetwas mit Schiiten und Sunniten. Er war erstaunt wie effizient sich die Kurden im Hintergrund halten konnten.
Er zerriss vorsichtig eines der zwei Würfelzuckerpapierchen, welche jeweils zwei Würfelzucker verpackten. Einen Würfel aus Zucker ließ er in den Kaffee plumpsen. Er fand es interessant, dass es normal war, den Zucker einfach hineinzuwerfen. Ihn mit dem Löffel hinein zu legen, wäre eleganter, es machte jedoch keiner. Wozu auch? Die paar Spritzer schaden nicht wirklich, man muss es mit der Hygiene auch nicht übertreiben. Hierbei von Hygiene zu sprechen, spricht auch schon für sich. Beim Umrühren spürte er das Reiben der Zuckerkörner, die wegen der hohen Temperatur schnell vom Urwürfel abbröselten. Trotzdem lösten sie sich nur eher langsam auf. Er schleckte den Löffel ab und steckte ihn in das Wasserglas. Nun hob er das Häferl, woran eine dünne weiße Serviette mit rotem Markenaufdruck und Verzierung klebte. Bevor er einen Schluck nahm, pulte er die dünne weiße Serviette herunter und legte sie an ihren ursprünglichen Platz auf der Untertasse. Es musste nur etwas Flüssigkeit zwischen Serviette und Häferl kommen und schon klebte das Ding dran. Kam mehr Flüssigkeit darauf, klebte die Serviette an der Untertasse. Es war schon ein kleines Ärgernis. Aber diese dünne weiße Serviette war essenziell. Diese dünne weiße Serviette hatte das Tablett erst so richtig gemütlich gemacht. Sie war so wichtig wie die Farbe des Kaffees, oder die kalten Marmorplatten der Tischchen. Ja, die dünne weiße Serviette komplettierte die Atmosphäre.
Nachdem er den Kaffee ausgetrunken und noch ein paar Zeilen in der Kolbaseto Gxenerala gelesen hatte, zahlte er, zog sich seinen Mantel an und ging aus dem Kaffeehaus. Es war windstill in Singapur. Die Fensterläden bewegten sich nicht. Alles war violett und schwarz, nur die künstlichen Lichtquellen, welche da und dort installiert waren, waren zwar hell, die meisten hatten aber 4132 kelvino. Dieses Licht hatte sich schon vor Jahrzehnten durchgesetzt in Singapur. Keiner weiß warum, aber es passte zu der Stadt und deshalb fragte auch keiner. Unten an den Docks war ein mit Flutlicht beleuchtetes Fußballfeld. Es war mit Maschendrahtzaun umzäunt, er wusste nicht wie man es betreten oder ob man es überhaupt konnte. Er ging den Zaun entlang. An der ersten Ecke stand Vladimir Putin. Seine maschinelle Präzision war immer da, auch wenn er scheinbar nichts tat. Er hätte nur zu gerne gewusst, was Putin hier macht. Ein paar Schritte entfernte er sich von Vladimir, dann drehte er sich zu ihm um und sah seine Gestalt von hinten an. Der schwarze Anzug reflektierte vom Flutlicht und man sah Partikel herumschweben über ihm. Ein paar setzten sich auf die Schulterpolster und dem Stoff auf dem Rücken, viele waren bereits dort, doch man sah sie dort nicht.
Unterdessen war es in Hiroshima schon Nachmittag, als Frau Nasami einen Steinpfad entlang ging, welcher von ihrem Haus ins Nirwana führte. Sie war 44 Jahre alt, ein Alter zum Sterben in Hiroshima. Ihr Mann war nicht zu hause. Er war fort. Das Haus war nicht einmal zur Hälfte gefüllt. Es lag Depression in der Luft. Sie hatte sich nur deshalb noch nicht selbst gerichtet, weil der Gedanke, ihn von ihr endgültig zu trennen, starke Angst auslöste und mit zu großer, unüberwindbarer Kraft dagegenwirkte. Sie war blass, ihre Augenbrauen dunkel, sie hatte zu viele Falten für ihr Alter. Den letzten richtigen Bissen – ein Stück trockenes Brot ¬– brachte sie vor etwa einer Woche hinunter, seither kaute sie nur am saftigen Gras, wenn sie nachts in der Wiese lag, weil sie nicht schlafen konnte und das leere Haus und das leere Bett nicht ertrug. Jede Berührung mit der Umwelt brachte ihr Schmerz. Sie wollte nur noch zu Erde werden und den Frieden im Nichts erfahren. Zwei Tage später war sie tot. 14 Monate danach kam ihr Mann nach hause. Als er die bis auf die Knochen verweste Leiche sah, spürte er nichts. Er konnte sich nicht erinnern. Als er näher kam und seine Frau an den Haaren und dem Ehering erkannte, hatte er plötzlich das Bild der stets gepflegten Frisur seiner Frau vor Augen. Auch konnte er sich an die ersten paar Worte dessen erinnern, was er zu ihr sagte, als er ihr den Heiratsantrag machte. Doch an das Gesicht konnte er sich nicht erinnern. Er konnte es nicht ertragen, dass der Kopf in eine beliebige Richtung schaute, trotz seiner Anwesenheit. So stellte er sich so, dass sie sich direkt ansahen. Dabei empfand er einen Hauch von Glück, doch er wusste, dass dies das letzte bisschen Glück war, das er für immer empfinden wollte. Obwohl er nicht ans Jenseits glaubte, konnte er deutlich spüren, dass er ihr tot näher wäre als lebendig. Sobald er dies festgestellt hatte, verwandelte sich sein Gesichtsausdruck von einem desillusionierten, in ein entschlossenes.
Tränen gab es keine in Hiroshima.