Sind wir die Wartenden
Seit einem Jahr habe ich Sam nicht mehr gesehen. Er sitzt auf der Grossen Schanze und lässt seine Beine baumeln. Er ist gefährlich nahe am Abgrund, sodass ich mich ihm vorsichtig nähere. Seine Haare sind ganz kurz, man merkt kaum noch, dass er eigentlich dichte Locken hat. Er trägt schwarze Hosen und ein schwarzes T-Shirt. Als er sich vorbeugt, sehe ich, dass die Knochen an seinem Hals hervorstehen. „Hey“, sage ich behutsam. Er dreht sich überrascht um und lächelt, als er mich erkennt. Sein Lächeln ist noch wie früher und die Tatsache raubt mir kurz den Atem. Ich setze mich zu ihm, allerdings ins Gras. Die Höhe macht mir Angst. Er deutet auf die Universität. „Du studierst jetzt hier?“ Ich zucke die Achseln. „Naja, mehr oder weniger.“ Ich bin ein Jahr angemeldet, habe mein Studienfach aber bereits zweimal gewechselt. Das sage ich Sam nicht. „Und du? Ist das Semester schon vorbei?“ Er sieht mich nicht an. „Ich habe mein Stipendium nicht angenommen. Ich arbeite bei meinem Vater.“ Ich schlucke. Es ist also wahr. „Warum?“, frage ich leise. Auf einmal dreht er sich heftig um. „Ich habe es nicht verdient.“ Wir sehen uns an und ich denke, an das, was hätte sein sollen. Wir beide zusammen. Es ist ein Tag im Spätherbst, aber es ist sehr warm. Wir haben uns nichts zu sagen, aber ich möchte nicht weggehen. Also stehen wir einfach da und schauen auf die Stadt hinunter.
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Bereits seit drei Jahren leben wir nun in unserer neuen Wohnung und noch immer kann ich den Busfahrplan nicht auswenden, aber als ich an der Haltestelle ankomme, fährt der Bus direkt ein. Ich habe Glück, der nächste wäre erst in zwanzig Minuten gefahren. Im Bus merke ich, dass ich mein Handy zu Hause liegengelassen habe, aber das macht nichts. Es ist der Abend nach der grossen Feier in der Aula. Ich habe meine Matura in der Tasche. Es war ein heisser Tag und der Abend ist noch immer warm. Die Luft schwirrt erwartungsvoll. Es riecht nach Sommer, nach Freiheit, nach Glück. Heute steht mir die Welt offen. Heute ist alles möglich.
Meine Eltern sind zufrieden mit mir. Meine Noten waren überraschend gut. Der Beste unseres Jahrgangs war natürlich Sam. Sam ist der klügste Mensch, den ich kenne. Manchmal glaube ich, es gibt nichts, das er nicht kann. Ich trage ein Sommerkleid und – ganz speziell für mich – Lippenstift. Im letzten Moment noch habe ich meine Sandalen gehen hohe Schuhe getauscht. Als ich aus dem Bus aussteige höre ich die Musik. In meinem Bauch kribbelt es. Etwas liegt in der Luft. Etwas Spannendes. Ich fühle mich gleichzeitig aufgedreht und nervös. Am liebsten würde ich laut lachen. Der Abend ist verheissungsvoll.
Sam trägt ein graues Kapuzenshirt, darunter ein schwarzes T-Shirt und eine braune Hose. Sein Haar ist noch wilder als sonst. Er hat sich noch nie um sein Aussehen gekümmert. Neben ihm steht Alex, der gross und gutaussehend ist. Aber mir gefällt Sam. Ich mochte ihn schon seit meinem ersten Tag hier. Ich bestelle mir ein Bier. Es ist heiss in der Menge und ich stürze es zu schnell herunter. „Hey.“ Er steht vor mir. Erst jetzt fällt mir auf, dass er die Brille nicht trägt. Er hat grüne Augen und ganz lange Wimpern. Mir wird ein bisschen schwindlig. Er lächelt mich an und ich kann nicht anders als zurück zu lächeln. „Hey“, sage ich. „Hey“, sagte er wieder und wir schauen uns in die Augen, bis die Situation seltsam wird und wir beide lachen müssen. Es ist kitschig und albern, aber für mich ist es perfekt.
Die Band spielt Coversongs alter Rockbands. Gerade kommt „Are we the waiting“ der amerikanischen Rockband Greenday. Nein, denke ich, wir warten nicht mehr. Endlich beginnt das Leben. Ich werfe den Kopf zurück und starre in den Himmel. Er ist dunkelblau und erleuchtet von den Scheinwerfern der Bühne. Der Alkohol hat mich ein bisschen beduselt, aber es ist ein gutes Gefühl. Sam steht neben mir. Mehr brauche ich gar nicht. Ich denke an die Zukunft. Im September werde ich mein Studium beginnen. Aber vor mir liegt ein langer Sommer, in dem ich nichts zu tun habe. Auch Sam scheint sich zu freuen. Er hat gute Laune und wirkt unbeschwert. Sonst ist er oft etwas schwermütig. Aber an diesem Abend kann man gar nicht anders als glücklich zu sein. Wir trinken billigen Sekt, den meine Freundin Mara aus dem Supermarkt mitgebracht hat. Die Bläschen sprudeln auf meine Zunge und ich lache auf. Mir wird es ein kleines bisschen schwindelig, als ich mich zu der Musik drehe.
Später, die Band hat längst aufgehört zu spielen, machen wir uns auf den Weg nach Hause. Am Bahnhof verabschieden wir uns von Alex und Mara. Sam bietet an, mich nach Hause zu bringen. Auf dem Weg erzählt er von seinem Stipendium. Sams Familie ist sehr arm, aber da er so klug ist, kann er an einer der besten Universitäten Chemie studieren gehen. Er wird wegziehen aus Bern, aber das macht nichts, die Schweiz ist klein, ich werde ihn oft besuchen.
Ein junger Mann mit dunkler Hautfarbe kommt uns entgegen und fragt uns nach dem Weg zum Bahnhof. Sam erklärt ihn ihm. Wir gehen weiter und plötzlich beginnt Sam zu singen. Er ist ein bisschen betrunken und lacht. „Are we the waiting“, grölt er. Ich lache und halte mir aus Spass die Ohren zu. Er tanzt um mich herum und zupft an meinen Armen. „Are we, we are the waaaaiting.“ Es klingt schrecklich. „Hör auf“, rufe ich. Nach einer Weile gehorcht er. „Naja“, sage ich grinsend, „ich bin ja froh, dass es wenigstens eine Sache gibt, die du nicht kannst.“ „Was?“, fragt er gespielt empört, „dabei wollte ich doch Rockstar werden.“ „Hmmm, ich würde mir noch einen Plan B überlegen.“ Sam greift sich an den Kopf und stöhnt leise. „Weisst du, dass ich noch nie betrunken war?“ „Was?“ „Ja“, er seufzt, „ich war immer ein fleissiger und braver Schüler.“
Das stimmt. Noch nie habe ich jemanden wie Sam gekannt. In der Schule trug er meistens eine grosse Brille und blinzelte einem am Morgen verwirrt an. Seine Tasche war immer übervoll, da er meist viel zu viele Bücher mitschleppte. Immer war er in Eile irgendwohin unterwegs und merkte kaum, wo er hinlief. Aber niemand kann so gut zuhören wie er. Ich glaube, niemand kennt so viele Dinge von mir wie er. Und er hat das schönste Lächeln, das es gab. Und ich bin wirklich sehr verliebt in ihn.
Wir sind schon in der Innenstadt angekommen, weit weg von Sams Zuhause, aber ich will mich noch nicht verabschieden. Der Abend kann noch nicht zu Ende gehen. Auch Sam scheint es gar nicht eilig zu haben. Ich wohne in der Altstadt und mein Heimweg führt durch einige dunkle Gässchen. Am Anfang hatte ich mich ein bisschen gefürchtet, aber mit Sam fühle ich mich wohl. Plötzlich hören wir laute Stimmen. Ein Mann schreit etwas, das wir nicht verstehen und lacht dann laut und unangenehm. Wir biegen um die Ecke und da steht der Mann von vorhin, der nach dem Weg gefragt hat. Neben ihm stehen zwei grosse, offensichtlich stark betrunkene Männer. Der dunkelhäutige Mann scheint Angst zu haben, aber das stachelt die beiden Männer nur noch an. Sie rufen dem jungen Mann rassistische Bemerkungen zu, die er zu ignorieren versucht. „Lassen Sie mich los“, sagt er. Doch einer der Männer schlägt ihm an den Kopf, sodass Blut rausfliesst. Schockiert sehe ich zu Sam, der ganz weiss geworden ist. Die beiden Männer lachen. Die Nacht scheint auf einmal ungemütlich heiss zu werden. Die Männer merken kaum mehr was. Sie drücken den jungen Mann an die Wand und sein Kopf schlägt mit einem ekelerregenden Geräusch dagegen. „Ich glaube, ich muss mich übergeben“, sagt Sam neben mir. „Was?“ „Ja, das- das Blut“, bringt er noch heraus, bevor er sich an die Wand übergibt. „Wir müssen helfen“, beschwöre ich Sam. „Ja“, sagt er, macht aber keine Anstalten, sich zu bewegen. Die beiden Männer haben den jungen Mann in eine Ecke gedrängt. „Sam“, flüstere ich beschwörend. „Wir müssen etwas tun. Lass uns die Polizei anrufen.“ Sam nickt. Vorsichtig, um die Männer nicht auf uns aufmerksam zu machen, zieht er sein Handy hervor. Dann sieht er ungläubig auf das Display und schüttelt es. „Verdammt“, zischt er und zeigt mir das schwarze Display, „mein Akku ist leer.“ „Dann lass und Hilfe holen. Wir können schreien.“ Ich mache den Mund auf, doch Sam presst mir die Hand darauf. „Bist du verrückt, wenn die uns hören, sind wir dran. Die merken nichts mehr.“ Seine Augen sind eigenartig geweitet, als stünde er unter Strom. „Die hören schon wieder auf“, sagt er verzweifelt, „lass uns abhauen.“ Kennt ihr das, wenn eure Welt zusammenbricht? Wenn ihr merkt, dass ihr eine Person überhaupt nicht kennt? „Johanna“, beschwört er mich. „Sieh dir die beiden an. Wir haben keine Chance.“ „Aber – der junge Mann-.“ „Die lassen ihn schon in Ruhe. Komm schon.“ Ich sehe die beiden Männer an mit ihrem dämlichen Grinsen, dann sehe ich den jungen Mann, der am Boden liegt und dann sehe ich zu Sam mit seinen netten Augen. Wir gehen nicht weg. Aber wir tun auch nichts. Ich rede mir ein, dass die beiden Männer den jungen Mann gleich loslassen werden. Das tun sie nicht. Und wir warten. Und warten und warten.
Irgendwann drehen wir um. Die Nacht ist dunkel und die Strassen leer. Der Tag hat seinen Zauber verloren. An der nächsten Kreuzung verabschiede ich mich von Sam und renne nach Hause. Ich rede mir an, dass dem jungen Mann nicht geschehen wird. In der Zeitung erfahre ich vom Tod eines jungen, dunkelhäutigen Mannes. Es ist der erste Tag der Sommerferien. Das Wetter ist heiss, die Freiheit liegt vor mir. Es ist der Tag, an dem ich den Glauben verliere, an die Menschheit und an mich selber.
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Plötzlich drehe ich mich heftig um. „Das ist doch Unsinn“, rufe ich. „Du hast es verdient. Du hast so viel Gutes getan. Du hast immer allen geholfen in der Schule, hast du das vergessen? Du könntest Grosses leisten, wenn du es nur versuchst, weisst du das eigentlich?“ Er reagiert nicht. „Das ist doch feige, oder nicht?“ Sam dreht sich um. Sein Gesicht ist ganz weiss. „Ja, ich bin ein Feigling.“ Er lacht spöttisch. „Genau wie du.“ Wir starren uns an. Nach einer Weile wende ich mich ab. Sam rührt sich nicht. Der Abend hat uns auf ewig verbunden, aber es ist unmöglich, dass wir zusammen sind.
Ich beginne dann doch noch ein Studium, das mir gefällt. Ich schliesse mit sehr guten Noten ab und finde einen guten Job. Sam schafft es nicht, darüber hinwegzukommen. Der Nachmittag auf der Schanze ist das letzte Mal, das ich ihn sehe. Ich hoffe, dass ich das Ganze eines Tages vergessen kann. Bis dahin warte ich.