- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 11
Silvie
Sie ist mir nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Silvie, eine Blondine mit Witz und Geist, die so gar nicht in das Klischee vom Dummchen passte. Wir hatten uns auf einer Party bei Jan getroffen. Als wir uns begrüßten - ihr Händedruck war fest und ihr Lächeln elektrisierte mich - fühlte ich mich sofort zu ihr hingezogen. Sie war in Begleitung ihrer Freundin gekommen, aber ich hatte nur noch Augen für sie und auch sie beäugte mich neugierig und schenkte mir das eine oder andere Lächeln, bis wir uns schließlich näher kamen. Jan bekam ich an diesem Abend nur am Anfang zu Gesicht, dann war er überall und nirgends.
Silvie, die natürlich Silvia hieß, war ein Einzelkind und studierte im sechsten Semester Medizin. Das hatte ich erfahren, als ich umständlich versuchte, ein Gespräch in Gang zu bringen. Sie lachte belustigt über meine Bemühungen und erzählte dann sehr offen über sich, was dazu führte, dass sie über mich auch mehr erfuhr, als ich sonst anderen erzählen würde. Ich sagte ihr, dass ich Fotograf sei, ich hatte aber noch nie jemandem erzählt, dass ich nachts immer eine Lampe in der Wohnung brennen ließ, ich litt schon als Kind an Angst vor der Dunkelheit. Sie nahm unerwartet meinen Kopf in beide Hände und küsste mich auf die Stirn. „Ach, du Armer, das ist eine Achluophobie. Da kann man was dagegen unternehmen.“
Jan hatte für seine Party eine Playlist erstellt und die Musik lief leise im Hintergrund. Das hatte den Vorteil, dass wir uns selbst beim Tanzen noch unterhalten konnten. Mit der Zeit wurden unsere Gespräche immer intimer, sie ließ es zu, dass ich mein Gesicht in ihr Haar drückte und sie auf den Hals küsste. Wir tanzten eng umschlungen, genossen es, den Körper des anderen zu spüren, unsere Lippen berührten sich zuerst zögerlich, dann wilder, und plötzlich fanden wir uns im Obergeschoss in Jans Schlafzimmer wieder. Und auf einmal gab es keine Gespräche mehr. Unsere Hände gingen auf Erkundungstour, alle störende Kleidung wurde fallen gelassen, wir küssten uns unablässig und überall und dann war da nur noch pures Verlangen.
Die Morgendämmerung zog schon herauf, als die Party schließlich zu Ende ging. Ich wollte sie nach Hause bringen, aber sie beharrte darauf, ihre Freundin Jenny zu begleiten. Seit dem habe ich nichts mehr von ihr gehört. Wir hatten unsere Telefonnummern ausgetauscht. X-mal habe ich versucht, sie anzurufen, aber sie ging nie ran.
Dann habe ich Jan angerufen und ihn gefragt.
„Silvie, die kleine Blonde? Ja, die war doch mit ihrer Freundin da. Wart ihr nicht den ganzen Abend zusammen? Mann, so hab ich dich doch noch gar nicht gekannt. Bist ja richtig verrückt gewesen nach der Kleinen.“
„Ja“, sagte ich kleinlaut. „Hast du ihre Adresse?“
„Ihre Adresse, spinnst du? Ich kenn sie doch gar nicht.“
„Kannst du ihre Freundin vielleicht fragen, die hieß doch Jenny oder so ähnlich?“
„Mann, musst dus nötig haben. War da was zwischen euch?“
„Was?“
„Frag nicht so blöd. Hast du sie gevögelt?“
Das war nun etwas, das ihn nichts anging. Als ich nichts erwiderte sagte er: „Wusste ich’s doch. Und wo habt ihr es getrieben? Etwa in unseren Betten? Ich trete dir in den Arsch, wenn ich dich erwische.“
Jan schien wirklich sauer zu sein.
„Ja, tut mir leid. Ich erzähl es dir später mal. Kannst du sie fragen? Hilfst du mir?“
„Okay, ich versuche es“, sagte Jan und legte auf.
Zehn Minuten später hatte ich die Adresse, und eine halbe Stunde darauf klingelte ich an Silvies Wohnungstür. Ich stellte mich so, dass sie mich durch den Spion sehen konnte. Als ich Schritte hinter der Tür hörte, hielt ich den Atem an. Sie musste mich erkennen und sie musste doch auch noch eine Erinnerung an unseren Abend haben. Im Treppenhaus war es totenstill und ich konnte das Blut in meinen Ohren rauschen hören. Mein Herz raste vor Angst, sie könnte mich wieder wegschicken. Wie lange hatten wir uns eigentlich nicht gesehen? Mussten so sieben, acht Wochen gewesen sein. Ich wollte nicht umsonst vor dieser Tür stehen.
„Silvie, bitte, ich bin’s, Achim, mach bitte auf.“
„Was willst du?“, hörte ich sie drinnen sagen.
„Warum bist du nicht ans Telefon gegangen? Ich wollte dich wiedersehen. Mach auf, bitte.“ Irgendwie kam ich mir blöd vor, im Treppenhaus. Die Nachbarn standen bestimmt hinter ihren Türen und lauschten.
Der Schlüssel drehte sich im Schloss und die Tür schwenkte nach innen auf. „Woher hast du eigentlich meine Adresse?“, fragte sie. Sie stand vor mir, kreidebleich, verheult, irgendwie hatte sie nichts gemein mit der Silvie von der Party.
„Wie siehst du denn aus?“, fragte ich, doch statt einer Antwort traf mich ein Schwall Erbrochenes. Bevor ich etwas tun oder sagen konnte, hatte sie mich gepackt, nach innen gezogen und die Tür zugeknallt. Wir standen uns in dem schmalen Korridor gegenüber. Sie hatte die Augen aufgerissen und war feuerrot im Gesicht geworden.
„Du kotzt mich an!“, schrie sie.
„Ich würde die Tatsachen jetzt mal nicht verdrehen“, sagte ich einen Moment zu schnell und ohne eine Sekunde nachgedacht zu haben. Doch zu meiner Verwunderung begann sie, laut zu lachen. Dann sagte sie, ich solle mein Hemd ausziehen, sie müsse es waschen, und es täte ihr leid. Ich musste das Shirt auch mit ausziehen und fühlte mich plötzlich nackt und mich fröstelte, als wir auf ihrer Couch saßen.
Auf ihrem Tisch stand ein leeres Gurkenglas und eine angebrochene Packung Schokolade. Sie war schwanger, so viel hatte ich inzwischen begriffen. Aber gerade darum wollte ich nun wissen, warum sie sich nicht gemeldet hatte. Hatte ich etwas falsch gemacht?
„Ich glaube, wir haben beide etwas falsch gemacht“, sagte sie. Ich wollte etwas erwidern, doch sie fuhr fort: „Es war alles außer Kontrolle geraten. Wir waren so verrückt aufeinander, ich wollte es genau so sehr, wie du. Und ich weiß nicht, was mich geritten hat, zu ignorieren, dass ich meinen verdammten Eisprung hatte.“
„Eisprung?“, Fragte ich verdattert. „Nimmst du nicht die Pille?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich vertrag sie nicht. Und ich Idiotin hab immer ein Kondom dabei, aber meine Handtasche war unten im Wohnzimmer bei Jenny. Ich hätte dich fragen können, aber das war alles zu kompliziert ...“ Und nach einer kleinen Weile fügte sie hinzu: “... und zu schön.“
Dann sagte lange keiner etwas.
„Willst dus?“, fragte ich schließlich.
Silvie stand abrupt auf und fuchtelte mit den Händen. „Nein! Ja! ... Ich weiß nicht.“ Dabei hatte sie sich wieder gesetzt und war in sich zusammengesunken. „Ich weiß es nicht“, sagte sie schließlich, und begann zu weinen.
Ich wusste auch nicht, ob ich wollte, dass sie es wollte. Umständlich versuchte ich, sie in die Arme zu nehmen und zu beruhigen. „Es wird alles gut“, sagte ich.
„Für dich, ja“, sagte sie unter Tränen und drückte ihr nasses Gesicht an meine Brust.
„Nein“, sagte ich und ein Entschluss stand fest für mich, „es wird alles gut, für uns.“
„Für uns? Wir kennen uns doch gar nicht.“
„Wir kennen uns noch nicht so gut, das stimmt, aber wir wissen doch schon eine Menge über uns. Du weißt zum Beispiel von mir, dass ich nachts immer eine Lampe brauche.“ Ich nahm ihren Kopf in meine Hände und sah ihr in die Augen.
Sie blickte mich durch einen Tränenschleier an, ihre Wangen waren nass und ihre Nase lief wie bei einem kleinen Kind. „Bei Jan hast du aber alle Lampen ausgemacht“, protestierte sie.
Ich lächelte. „Siehst du, deine Therapie hat schon angefangen, zu wirken.“
Ich zog ein sauberes Taschentuch aus meiner Hosentasche und trocknete ihre Tränen und ließ sie sich schnäuzen. Ein Gefühl tiefer Zuneigung ergriff mich und ich drückte sie wieder an mich. „Wir schaffen das, das verspreche ich dir.“
Plötzlich löste sie sich von mir. „Und wovon sollen wir leben?“
Das war zweifellos eine berechtigte Frage. Meine Arbeit als Fotograf warf keine Reichtümer ab, aber es würde reichen. Ob ich sie mit diesem Argument beruhigen konnte, wusste ich nicht sicher. Zweifel nagten an mir, als sie mich plötzlich von sich wegstieß.
„Was hast du?“, fragte ich irritiert.
„Geh duschen, du stinkst!“ Sie erhob sich, ging zum Kühlschrank in die Küche und kam mit einem neuen Glas Gewürzgurken zurück. Mit einem Ploppen löste sich der Deckel, sie nahm eine Gurke heraus, steckte sie sich in den Mund und griff im selben Augenblick in die Packung Schokolade.
„Okay“, sagte ich, „ich beeil mich, du wirst das Bad sicher auch bald brauchen.“