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Silvesternacht
Wenn ich aufwache, ist es wieder da: Das Vogelzwitschern, das sich eher wie der Schrei einer Raubkatze anhörte. Es war letzte Silvesternacht passiert.
Eine riesige Menge Stare hatten sich kurz vor dem Jahreswechsel auf dem Hof vor dem Hochhaus, in dem ich lebe, gesammelt. Es sah aus, als wären es tausende. Die Mauer, die Zweige der Bäume, die Fenstersimse. Alles war voll mit den dunklen Körpern der gefiederten Flieger. Merkwürdig war, dass sie nicht erschraken, nicht aufflogen, obwohl wie üblich eine Menge Rowdys bereits jetzt Böller und Raketen in die schwarze Nachtluft jagten. Merkwürdig war jedoch schon die Tatsache, dass es Stare waren, die Zugvögel schlechthin. In ihren Augen leuchteten grüne Lichter, die mich an im Morgentau glitzerndes Gras erinnerten. Ein ungewöhnliches Szenario, gewiss. Aber was ein paar Minuten später nach dem zwölften Glockenschlag passierte, übertraf es an Ungewöhnlichkeit bei weitem.
Der letzte Glockenschlag der nahen Kirchturmuhr war kaum verklungen, als alle Knallgeräusche des Feuerwerks verstummten. Ich sah die Raketen fliegen, die Knaller bersten, die Funken fliegen. Doch zu hören war nichts mehr. Die verständnislosen Blicke, die die Menschen da unten auf die stillen Explosionsarien ihrer kleinen Donnergötter warfen, sagten mir alles. Nicht nur mir waren also die Ohren verschlossen. Gerade dachte ich darüber nach, wie das alles hatte passieren können, als mein Gehör wie durch Watte ein leises Piepsgeräusch wahrnahm, das wenige Sekunden später in eine Art Rauschen überging. Die Vögel ringsum hatten begonnen, ihre Stimmen zu erheben. Nach und nach wurde das Rauschen lauter, die Tonhöhe nahm ebenfalls zu. Sirenen! Die fielen mir als erstes ein. Der Ton war kaum noch zu ertragen. Ich suchte fieberhaft nach einem Ausweg. Meine neuen Kopfhörer! Das könnte klappen. Ich stürmte nach innen, schloss hastig die Türe und holte sie von der HiFi-Anlage und schob sie über meinen Kopf. Zusammen mit der geschlossenen Balkontüre brachten sie das unheimliche Geräusch in einen annähernd normalen Bereich.
Gerade wollte ich einigermaßen beruhigt aufatmen, als die große Doppel-Fensterscheibe geräuschlos platzte, sich in einem Regen von winzigen Glasstückchen über mich und meine Wohnzimmermöbel ergoss. Das Sirren aus den Vogelkehlen wurde dadurch wieder lauter, nahm trotz Kopfhörer ein unerträgliches Maß an. Ich stürzte aus dem Zimmer, zog hastig die Türe hinter mir zu. Nur wenig Erleichterung stellte sich ein, weshalb ich noch die Schlafzimmertür und die dicke Winterdecke zwischen mich und den Lärm brachte. Trotz der auch hier geborstenen Fensterscheibe gelang es mir, den Lautstärke-Level ausreichen herunterzudrücken. Ich zwang mich zum Fenster, spürte den kalten Luftzug und schaute nach draußen. Was ich da erblicken musste, ließ sprichwörtlich das Blut in meinen Adern gefrieren.
In großen Blutlachen lagen da unten Menschenkörper überall, keine Bewegung war auszumachen. Das Blut sah schwarz aus, schien aber trotzdem rot zu mir heraufzuleuchten. Nirgends war Leben zu entdecken, nur das wahnsinnige Sirren war nach wie vor übermächtig. Eine Kiste mit Silvesterraketen hatte Feuer gefangen und sandte ihren Inhalt nach oben. Die Vogelkörper wurden getroffen, doch sie widerstanden diesem "Angriff" ohne Schaden zu nehmen, als ob ihre Körper hart wie Stahl wären.
Die Vögel flogen wie auf Kommando plötzlich auf und verstummten gleichzeitig. Jetzt war es also soweit. Sie würden mich entdecken, auf mich zufliegen und mir die schützenden Polster von den Ohren reißen. Es würden wohl ein paar von ihnen genügen, um mich zu töten. Ich zog mich so weit wie möglich in den Raum zurück. Ich rutschte an der Wand hinunter und bereitete mich auf mein Ende vor. Bevor dieses aber eintrat, überzog mich die gnädige Schwärze einer Ohnmacht.
Als ich wieder zu mir kam, zeigte der Wecker am Bett sieben Uhr und der Datumsanzeige konnte ich entnehmen, dass nur wenige Stunden vergangen waren. Neujahr, Todesjahr schoss es durch mein Gehirn. Doch entsprachen die Erinnerungen an die Minuten nach Mitternacht der Realität? Obwohl ich mich vor dem Anblick fürchtete, trat ich ans Fenster und sah hinunter. Sie lagen noch da, Leichen. Wohin ich schaute tote Körper. Unendliche Traurigkeit zog durch mein Gemüt und nistete sich dort ein.
Auch die Stare waren noch da. Die Tiere hatten sich an den Menschen gerächt, sie hatten alle Geräusche verstummen lassen und ihre Stimmen erhoben, nachhaltig und laut. Skurrilerweise blitzte in mir der Gedanke auf, dass wir das wohl auch mal machen sollten.
Ich nahm den Ohrschutz ab und horchte hinaus. Kein Laut, nicht von der Straße, nicht aus dem Hof. Durch mein Gehör zog der schrille Ton, der diese Menschen dort unten getötet hatte. Um ein vielfaches leiser, aber ununterbrochen, als Erinnerung an das, was da draußen passiert war. Auch jetzt noch, ein halbes Jahr später. Endlich konnte ich mein Erlebnis niederschreiben, es weitergeben, in der Hoffnung, dass es viele andere Menschen erreichen würde.
Die Leichen waren entsorgt, die Stare waren, wohin auch immer verschwunden. Neue Mieter und Eigentümer waren eingezogen, Leute, die nur wussten, dass es hier einen ungewöhnlichen "Unfall" mit vielen Toten gegeben hatte. Sie grinsten, wenn sie darüber sprachen, nannten meine Erzählungen unglaubwürdig und deklarierten sie als gut erfundene Science-Fiction.
Es würde also wahrscheinlich wieder laut werden am nächsten Silvesterabend, in welcher Form auch immer. Ich werde mir irgendwo in den Wäldern eine Hütte bauen und hoffen, dass mich der Feldzug der Vögel dort nicht erreicht.