Silvester
Silvester.
23.58Uhr.
Erwartungsvoll blickte der kleine Junge auf die Uhr des Kirchturms. Er testete zum x-ten Mal, ob sein Feuerzeug auch funktionierte.
23.59Uhr.
Er nahm langsam und bedeutungsvoll den Kracher aus dem Karton. Den Kracher hatte er heimlich aus den Chemikalien des Vaters gebaut. Ein bisschen nervös war er ja schon. Seine Hand mit dem Böller kribbelte. 150 Gramm Schwarzpulver! Das würde wirklich niemand überbieten können.
Noch zehn Sekunden. Irgendwie machte der Gedanke daran, dass er seinen Eltern Schlafmittel untergemischt hatte, ihn traurig. Noch nie hatte er Neujahr ohne seinen Vater oder seine Mutter gefeiert.
Noch fünf Sekunden. Die Hand mit dem Feuerzeug wanderte zu der Zündschnur.
Drei, Zwei, Eins; Er zündete die Schnur an. Im gleichen Moment flogen schon die ersten Raketen. Der Faden aus einer dünnen Spur des Sprengstoffes sprühte Funken. Der kleine Junge holte aus und warf die Miniaturbombe auf den Rasen. Keine fünf Schritte entfernt.
Er grinste übers ganze Gesicht: Dieser Knaller würde neue Maßstäbe setzen! Den würde er nie wieder vergessen!
Die Funken in der Zündschnur waren nur noch wenige Zentimeter von dem explosiven Gemisch aus Salpeter und Schwefel entfernt.
Und dann - wie in Zeitlupe – schien alles stillzustehen. Der Junge mit schreckensbleichem Gesicht, die Explosion, die alles in ein rot glühendes Licht tauchte, die friedliche und feierliche Umgebung drumherum; Alles stand still.
Ein aufdringliches und nicht enden wollendes Piepen. Die Sonne blendete ihn – oder war es eine Sie? Wo war er bzw. sie? Die Person konnte sich an nichts erinnern. Nur an den Schmerz. Unsagbar großen Schmerz... Oder war er noch da?
Eine Silhouette, die über ihn gebeugt war, malte sich gegen das Licht ab. Der Mund der Figur öffnete und schoss sich. Aber da war nur das Piepen.
Der Betrachter blinzelte und erkannte eine Frau – er wusste, er hatte sie schon einmal gesehen...
Da erinnerte er sich wieder. Die Frau war seine Mutter, aber wo war er hier? Er konnte sie einfach nicht verstehen, egal wie sehr er sich bemühte und konzentrierte. Wenn nur dieses Piepen nicht wäre.
Eine weitere Frau trat hinzu. Er kannte sie nicht.
Und überhaupt – wie war er hier hergekommen? Er dachte an den Böller. Und fing an, zu schluchzen.
Die andere Frau redete mit ernster Miene mit seiner Mutter und schielte immer wieder zu dem Jungen herüber. Dann verließ sie fluchtartig den Raum.
Seine Mutter setzte sich benommen an den unteren Rand seines Blickfelds. Der Junge versuchte sich aufzusetzen, aber es gelang ihm nicht und so schaute er nur an sich herab und erkannte, dass er in einem Bett lag, auf dessen Fußende seine Mutter saß. Neben ihrem Bein verliefen mehrere Schläuche unter die Bettdecke. Endlich wagte der Sohn, seiner Mutter in die Augen zu blicken. Sie waren gerötet.Sie saß stocksteif da und betrachtete den Jungen. Ihm lief eine einzelne Träne über die Wange.
In ihrem Blick lagen weder Mitleid noch Zorn. Nur Traurigkeit; unendliche Traurigkeit.
(C) NIXNUZ