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Silvester Nacht
Silvesternacht
Eine halbe Stunde vor Jahreswechsel hielt es meine Tante für angebracht zu erscheinen.
Dieser Zeitpunkt war wohl kalkuliert, ermöglichte er ihr doch einen, in jedem Fall mehr oder weniger dezent theatralischen Auftritt, welcher ihr als Initialzündung einer längeren familiär-psychologischen Kriegskampagne dienen sollte.
Der Fehde-Handschuh war schon drei Tage zuvor zwar in meiner Abwesenheit doch im Beisein mehrerer Zeugen während einer kleinen, zufälligen Familienzusammenkunft am, aus meiner Sicht großelterlichen Tisch geworfen worden, bei der alle beteiligten Parteien Gemeinheiten bis dato nur hinter den Rücken der Betreffenden ausgetauscht hatten. Demnach verlief dieses gemeinsame Mittagessen über weite Strecken auch äußerst friedlich, bis jedoch mein Cousin, 23-jährig, in Maßen erfolgreich im Berufsleben und mit seiner Freundin auf eigenen Beinen stehend, sich die Frechheit erlaubte, die Hauptspeise zu verweigern, woraufhin sich diese, nur dem äußeren Schein nach, konfliktfreie Zone bald in ein verbales Schlachtfeld verwandeln sollte.
Denn Reflexartig besann sich unser beider Tante nun ihrer erzieherischen Pflichten und versuchte dieser Untat mit der ihr eigenen, unwiderstehlichen Argumentationslinie entgegenzuwirken und fuhr mit dem Einwand, dass sich hungernde afrikanische Waisenkinder wohl über ein frisch herausgebackenes Wienerschnitzel freuen würden ein wahrlich schweres Geschütz auf. Doch vermochte diese entwaffnende Wahrheit es nicht, den Zurechtgewiesenen zu bekehren. Vielmehr verlor dieser vollkommen die Beherrschung und eine, ob der Machtlosigkeit mit welcher er jahrelang solchem erzieherischen Nonsens wehrlos ausgesetzt war, gewaltige Welle der Aggression schlug meiner Tante nun in Form wüster Beschimpfungen und Vorwürfen entgegen.
„Was gibt dir eigentlich das Recht so mit mir zu reden? Mich hier zu kritisieren! Wo doch dein Leben eine einzige Ruine ist. Du bist knapp über 40 und in Pension! Du hast keine Kinder, keinen Mann, nichts. Nichts außer.. einem Loch von einer Wohnung aus dem du bisweilen heraufkriechst, um dich von deiner Mutter bedienen zu lassen.“
Die Anwesenden hatten ihre Blicke beschämt und verstört nach innen gekehrt oder auf ihren Teller fixiert, nur um durch den nächsten Ausbruch von ihrer Verlegenheit erlöst zu werden.
„Und anstatt zumindest zu versuchen wieder einen Job zu kriegen rennst du den ganzen Tag sinnlos von Musiklehrer zu Musiklehrer. Du, du wirfst deinen Eltern vor, dein musikalisches Talent nicht gefördert zu haben. Dabei weiß und hört doch jeder, dass du so was nie gehabt hast. Ich mein du übst stundenlang und trotzdem kann sich dein Geschrei und Geklimper keiner länger als ein paar Minuten lang anhören bevor ihm übel wird.“
Als mein Cousin nach dieser Ansprache nun den Raum verließ, konnte er dies mit der Gewissheit tun, in fast alle größeren seelischen Wunden seiner Taufpatin Salz gestreut und eine weitere aufgerissen zu haben.
Doch selbst, oder gerade eben, in dieser Verfassung war die auf solch rücksichtslose Art und Weise Attackierte schon dazu in der Lage gewesen, sich eine passende Erklärung zurecht zu zimmern, welche ihr natürlich unschuldiges Taufkind von aller Verantwortung und Schuld entband. „So also, wird in der Familie über mich geredet“, waren ihre Worte, als sie nun ihrerseits die Szenerie verließ.
Drei Tage später, das Jahr 2003 kauerte schon verbittert in einer Ecke, ob der sich unüberhörbar dem Höhepunkt nähernden Geburtswehen, welche sein Nachfolger dem halben Erdball bescherte, war ich wohl der einzige der desinteressiert durch das Silvesterprogramm diverser deutschsprachiger Sender zappend Notiz von ihrer, fast provozierend unspektakulären Wiederkehr nahm. Es war nämlich noch nicht viel Zeit verstrichen, seit sich eine kleine, aus dem engeren Kreis der Verwandtschaft zusammensetzende Silvester-Tischgesellschaft, welcher die Anwesenheit besagter Tante trotz ihres Versprechens zu erscheinen versagt geblieben war, zerstreut hatte, um sich vom Schlaf, Alkohol oder eben televisionärem Müll betäuben zu lassen. Natürlich hatte das hartnäckigen Fernbleiben ihrer Tochter meinen Großeltern erhebliche Sorgen bereitet, die sich naturgemäß in sanftem elterlichen Telefonterror manifestiert hatten, welcher ebenso naturgemäß erfolglos geblieben war.
So hing ich schlaff zwischen zwei zusammengeschobenen Ohrenbackensesseln und weltbewegende Gedanken nach, während mich wie aus weiter Ferne Stafan Raab mit seinem noch nie da gewesenen Sandkastenhumor beglückte, als ich überraschend aus dem Vorhaus Schritte zu vernehmen glaubte. Und tatsächlich ging bald darauf in der Küche das Licht an, welches sich sogleich durch einen kleinen Türspalt in das von mir in Anspruch genommene Wohnzimmer drängte. Diese Situation barg nun sowohl für mich, als auch für den nächtlichen Ankömmling, bei dem es sich natürlich, wie sich bald herausstellen sollte, um meine verschollene Tante handelte, ein kleineres soziales Dilemma. Es war für uns beide, der Fernseher lief nicht zu leise, unmöglich die Anwesenheit des anderen, der unweigerlich ein Mitglied der Familie sein musste, im jeweiligen Nebenzimmer nicht zu bemerken. Wir konnten sogar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhte. Doch war es uns beiden nur möglich darüber zu spekulieren, wer sich da nebenan breit gemacht hatte und vor allem in welchem Verhältnis wir zu dieser Person standen.
Also beschlossen wir im stillen Einverständnis fürs Erste so zu tun, als hätten wir weder etwas gehört, noch etwas gesehen und ignorierten einander.
So verblieben wir eine Zeit lang, bis sich meine Tante schlussendlich doch dazu durchringen konnte sich zu offenbaren und es somit zu einer zwar respektvollen, aber vor allem zurückhaltenden Begrüßungszeremonie, wie sie eher von konkurrierenden Kollegen denn von nahen Verwandten vollzogen wird, kam. Doch um die Stimmung nicht ganz auf den Gefrierpunkt sinken zu lassen tat ich ihr den Gefallen, ihre späte Ankunft zur Sprache zu bringen. Und nicht nur das. Weiteres heuchelte ich ihr sogar noch Interesse an deren Grund vor, war es mir doch, um ehrlich zu sein, vollkommen egal, welche Ausrede sie für diese allzu offensichtliche Provokation vorzubringen gedachte und so quittierte ich die, nicht sonderlich kreative, geschweige denn überraschende Antwort bis spät die Nacht hinein im Konservatorium noch fleißig geübt zu haben mit nicht mehr als einem kurzen „aha“.
Damit war zwischen uns eigentlich alles gesagt, vielleicht sogar noch mehr als das und doch konnte sie nicht anders, als beim verlassen des Zimmers ihr wohl bald folgendes Gespräch mit den Eltern zu proben.
„Sonst sagt man wieder, ich käme nur zum Essen herauf“
„Hmm“, war spontan der einzige Kommentar der mir in den Sinn kam, als ich ihr langsam ins Vorhaus folgte, ohne je ihren Blick zu kreuzen, auf ihr Spiel eingehend.
„Ich hab gehört, du und der Martin, ihr habt euch gestritten.“
„Gestritten? Es wird halt viel bös’ geredet bei uns, aber ich muss eh’ mein eigenes Leben leben.“
„Aber das solltest du doch mit ihm ausreden, warum er das gesagt hat.“
„Nein. Sollen die Leute doch reden, was sie wollen. Das muss mich ja nichts angehen.“
„Aber das ist doch deine Familie, das müsst ihr doch irgendwie ausdiskutieren!“
„Nein, Rafael. Manche Leute sind einfach bös’, da kann man nichts machen“
„Manche sind einfach bös’“