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SILVA oder James Joyces letzter Roman
(being a fragment of
BRUCHSTÜCKE – – – )
Ich kann bis heute nicht sagen, wieso es immer unter der Brücke passierte, zwischen diesen löchrig-grauen, von verwaschenen Graffitti bedeckten Betonplatten und –pfeilern; es erinnerte allerdings stark an die nächtliche Rampe, an der ich Silva zum erste Mal getroffen hatte.
Ich, das ist ein Introvertierter auf der verzweifelten Suche nach einer Schwächeren, das ist (genauer gesagt) ein hakennäsiger, frühbärtiger Lederjackenträger, ein inzwischen in Zweifel getriebener Künstler, auf alle Fälle aber: Ein Romantiker. Und Einzelgänger, was ja schließlich auch dazu führte, daß ich an jenem Abend nach Kino (Password : Swordfish) und McDonald’s (FishMac-Menü mit Cola, zum hier essen) noch unruhig durch den Bezirk streunte, statt sofort zu Bett und Familie in den Ameisenhaufen zurück zu eilen, einzel-gängerisch eben, wodurch ich wiederum, ehrfürchtig und gewissermaßen träumerisch, meine Beobachtung machte: Wie eine Praterhure lehnte sie, Abrißkostüm, Turnschuhe, grauverfilzte Schwarzhaare, an der Betonrampe, eine Hand eingestützt, die andere an die rostige Geländerstütze gelehnt, ganz eindeutig einsam und ohne weitere Erwartungen. Ich dachte, natürlich, an meine Träume von Selbstmordopfern, Heroismus (eine Sucht) und Retterpathos, dachte ebenso an Vergewaltigung und Beauty Queen, schalt mich im nächsten Moment, wieder romantisiert, eben dafür, staunte lieber die Insekten-und-Straßenlicht-Schattenspiele auf ihrer kleinen Präsenzinsel an und dachte mich selbst in ziellos denkende Posituren. Ich muß gleich sagen, ich fand niemals in sie hinein.
Sie begann dann immer wieder zu reden, und eigentlich war es das, was unsere Beziehung zu etwas Besonderem machte; ganz eindeutig war sie ein Mauerblümchen und ich ihr einfühlsamer Held, doch es war, natürlich, noch weitaus mehr als das. Rätselhaft, wie wir uns gaben, blieb es wohl die längste Zeit eine gegenseitige Erforschung, ein Andeuten und Verbergen, sozusagen ein Tanz; aber manchmal begann sie eben zu reden, und beim ersten Mal wäre ich beinahe weggegangen vor Schreck.
Es war andererseits noch diese leicht verklemmte Trancephase, wo sich jeder Satz aus einer rätselhaften und leise prüfenden Konstellation ergibt, jenes surreal but nice, wenn man es zu genießen weiß, eine gewisse Spannung war also noch vorhanden; doch ganz eindeutig fiel das nun aus dem Rahmen, auch wenn man, wie gesagt, vor allem als Geheimnistuer anfangs und endes gerne aneinander vorbeispricht:
Runen, von zierlicher Größe, begann sie – und natürlich war es jene Brücke, unter die wir uns, vom Regen überrascht, geflüchtet hatten, bildeten auf blütenübersätem Wiesenteppich eigenartige Tanzfiguren. Schließlich teilte sich die Gruppe und formierte sich, und ihr Gesicht war, wie jedes weitere Mal auch, in eine unheimliche Starre verfallen, lächelnd zwar, doch wie tiefe, schmerzhafte Furchen wirkten die Falten, die dieses Lächeln über ihre Wangen warf, zu einem Spalier, durch das eine hohe Gestalt geschritten kam, deren Antlitz nicht zu erkennen war. Das lange weiße Gewand hüllte sich kapuzenförmig um den Kopf bis tief ins Gesicht. Während die spalierbildenden Runenformen weiter bewegungslos verharrten, bewegte sich die Erscheinung langsam geradenwegs auf den träumenden Beobachter zu. Ein Gebilde auf dem Kopf des Schreitenden – ähnlich jenen Stirnstreifen, wie man sie auf Bildern und Statuen mittelalterlicher Herrscher findet – fesselte die Aufmerksamkeit des Träumenden. Als dann die Erscheinung knapp vor ihm stand, bemerkte er seitlich des Stirnreifens zwei sich gegenüberstehende hochgerichtete Runenstäbe. –
Sie endete abrupt. Übrigens war sie in diesen Augenblicken stets sehr schön, geradezu wie eine botticellische Nymphe, wenn ihre leicht befeuchteten Augen zielsuchend herumirrten und das Blut im Übermaß in ihre Lippen und Wangen zurückschoß; auch dies war, neben meiner wesentlichen Verwirrung, ein Grund dafür, daß ich im ersten Falle keine Fragen stellte, sondern ihre hilflose Desorientiertheit mit einem geradezu satanischen Kuß abfing, worauf sie, unwillig, wieder ein Wort zu fassen, sich in meinen Armen und Augen bergen ließ, dennoch in sich selbst geschlossen, ganz, ohne auf ein Weiteres verzichten zu wollen.
Wir tauschten dann keine Handynummern aus, wollten von vornherein alle Profanitäten von der Sache trennen; wir, das waren zwei zunächst schweig-, in der Folge dann durchgehend rätselhafte Weltläufer, die sich eher durchsichtig aus Neugier und Einsamkeit aneinander klammerten, in der Einsicht gemeinsamer Gedankenlosigkeit nächtens durch die Straßen tanzten, ohne einander wahr unterpersönlich kennenlernen zu wollen, und nach uns wird kommen: nichts Wesentliches.
Die Musik damals war gekennzeichnet durch wuchernde Kuschel-Romantik mit gelegentlichen Hicksern aus Leidenschaft, doch in meinen Gruppenaktivitäten bewegte ich mich glaubwürdiger als je zuvor in selbstgenügender Trance, mit gelegentlichen Heulanfällen, um die Quatschköpfe bei Laune zu halten; aber Gegenstand war stets die Laternenstraße, die helle, warme Stadtnacht, von der Rampe zum Radweg, dieses beständige gemeinsame Weglaufen vor der Sprache, immer unter die Brücke; ich war, wie gesagt, Künstler, und in maßlosem Interesse hatte ich in meiner Jackentasche in Diktaphon verborgen, welches ich, indem ich das Muster zu erkennen begann, noch lange als Ausgangspunkt akribischer Studien über jenes beispiellose Phänomen, das ich nach Kino und Fishmac vor einem unattraktiven Schulgebäude aufgelesen hatte, nutzen sollte: Als sie wieder ins Zimmer trat, in dem der kleine Tisch bereitet war, entzifferten meine Ohren, trug sie eines jener Gewänder mit langen Falten, die ohne ihren Körper zu einer Art eng gewundenem Seil zusammenschrumpften und, sobald sie geschickt mit dem Kopf hineinschlüpfte, wich wie zahllose Fächer öffneten. Das, welches sie jetzt trug, war schwarzblau mit grünen Adern; meine Aufmerksamkeit schwebte vor diesem Bild wieder ihren wunden Händen zu, mit denen sie den schalen Asphalt niedergerungen hatte. Geschlagen und verspöttelt, hatte sie sich einer feindlichen Umgebung entzogen, doch ihre Sprache, ihr Enigma, ihre Anhänglichkeit hatten keinen Schaden genommen; ich wußte nicht, wo sie schlief, während meine Schreibmaschine ihre Worte entgegennahm, aber noch spät in der Nacht schreckte mich words of a drunken father aus hochfliegenden Träumen, und ich brauchte eine halbe Blüte, um wieder einschlafen zu können. Sie müssen verstehen, sie hatte ja sonst niemanden, zu dem sie gehen konnte, und wie sollte ich ihr auch helfen, bevor ich sie entschlüsselt hatte? –
Ich fand sie wieder auf einer anderen Brücke; eine halbe Nacht hatte ich nach ihr gesucht, einen halben Tag um sie gebangt, und endlich, nicht weit von unserem Turm mit der klaffenden schwarzen Wunde, sah ich sie schlank ans Brückengeländer gelehnt, vom Wind zerzaust, die Hände hinter den Rücken gekrampft, gerötet und mit einem nicht näher bestimmbaren Hauch von Blut an sich. Ihre Haare waren wie in Schlamm getaucht, klammerten sich vergeblich an ihren Hals; diesmal zeigte sie Spuren von Angst, als wir uns unserer Brücke näherten, beinahe, als flöße dickes Erkennen über ihre Lippen. Das Kinn gefaltet, kauerte sie sich auf einen Stein; ihre Blicke flogen und flohen und flehten, erstarrten aber bald an meiner Verständnislosigkeit. Dies abgewendet, legte ich einen Arm um sie und verschloß den Platz der blinden Affen mit einem hastigen Kuß: Noch war ich, war mein Recorder nicht bereit. Sie war ein Geheimnis, das es zu ergründen galt: Der Platz der blinden Affen, da Nephren-Ka die Strähnen seiner Wahrheit webt – ich fand, später, Nephren-Ka wie seine Grabkammer in der Enzyklopädie versammelt, doch das wahre Volumen fand ich nicht. Bald hatte ich das Fächerkleid als Beschreibung Gabriele d’Annunzios erkannt, neuen Mut gefaßt; doch jede vorläufige Lösung zerstob schon im Ansatz daran, daß meine Silva nicht lesen konnte. Sie kam, wie sie sich vorgestellt hatte, buchstäblich aus dem Wald, war mir nahezu ohne Voraussetzungen gegeben; und doch zitierte sie d’Annunzio und offenbar noch obskurere Autoren, ohne sich je dieser Eigenheit bewußt zu werden – und was das ganze mit unserer Brücke zu schaffen hat, kann ich bis heute nicht sagen.
Wir trafen dann irgendwo in der nächstlichen Szenerie einen recht merkwürdigen Sektierer, der uns offenbar ein Buch verkaufen wollte; einer gewissen Synchronizität gewahr, warf ich einen Blick auf dasselbe, aber blödsinnigerweise war es nur Schopenhauerst Parerga und Paralipomena, das ich als Romanze (die rothaarige Introvertierte und das blonde Vorstadtluder) gerade noch gelesen hätte; aber Philosophie zitierte meine Silva nicht, starrte nur blank und vielleicht ein bißchen ängstlich den Mantelträger an und zog mich dann mehr Liebe- denn schutzsuchend zwischen die Stützstreben der kleinen, backsteingotischen Kirche, die uns noch vom Kneipenviertel trennte. Irgendwo schnarrten gefilterte E-Gitarren, doch in diesem Moment hielt ich Silva so fest wie nie zuvor. Ich hatte plötzlich unheimliche Angst, sie könnte gesprungen sein und alles, was ich hielt, eine Schimäre, die sich unter geweihten Mauern langsam aufzulösen begann; sie entschlüpfte mir, rotzig keuchend, und erst am Schwedenplatz gelang es mir, sie wieder zu besänftigen. Wir schritten dann ehrfürchtig die schrillen Graffitti am Flußufer ab, und ich redete viel, um mir dessen bewußt zu werden; doch fliegen wollte sie um diese Uhrzeit nicht mehr, und auf irgendein Ziel zuzugehen, widerstrebte uns beiden.
Sie schlief diese Nacht auf einer Matratze in meinem Zimmer, floh frühmorgens durchs ebenerdige Fenster. Ich war froh darüber, hatte schlecht geträumt. Alles verging irgendwie wie ein schlechter Film: Nach allerhöchstens zwei Stunden war es vorbei. Sie stand dann unvermittelt vor dem goldumrandeten Spiegel, fuhr sich mit den Händen durchs Haar, schien sogar zum ersten Mal eine Anschauung ihres eigenen Körpers zu entrollen, als sie die Wangenknochen ausstrich, an der Haut zupfte, die verkleisterten Lider auseinanderzog; bevor sie es übertreiben konnte, sie den Mund zu weit öffnete, dirigierte ich sie den Gang hinaus, nervös unentdeckt, und gegen eine gewisse Art von Widerstand unseren bekannten Weg entlang. Sie wurde bei jeder Anerkennung ihres Körpers schwach, sah nicht die Brücke, spürte es nicht, was auch immer in diesem Moment mit ihr geschah. Wie nicht anders zu erwarten, steht der intellektuelle Gehalt von dergleichen Produktionen in der Regel auf einer recht niederen Stufe und überschreitet nur in ganz seltenen Fällen die Intelligenzsphäre des betreffenden Mediums. Gute Beispiele für die Ärmlichkeit der „Tischreden“ gibt Allan Kardecs bekanntes „Buch der Medien“.
Das sogenannte automatische Schreiben erfolgt nach den gleichen Prinzipien wie das Tischrücken. Der Inhalt des Geschriebenen überragt in keiner Weise denjenigen der „Tischreden“. Das Trancereden, das Reden in der Verzückung oder Ekstase, ist prinzipiell das gleiche. Statt der Muskeln des Armes und der Hand werden hier einfach die Muskeln des Sprachapparates in selbständige Tätigkeit versetzt. Der Inhalt des Gesprochenen nimmt natürlich den gleichen Rang ein wie die Produkte der anderen Automatismen; des weiteren folgten hier noch, weitgehend unverständlich, einige offenbar in hysterischer Panik gestammelte Wortfragmente, unter denen nur ein wiederholtes „Ja“ und immer wieder ein „Katulo“ o.s.ä. erkennbar waren. Diese Laute waren jedoch vom Vorherigen eindeutig durch Mimik und Klangfarbe meiner unbewußten Silva getrennt, und mir schauderte geradezu bei den vielzähligen Zisch- und Schnalzlauten, die nur durch wenige, ebenso fremdartige Vokale unterbrochen waren, sodaß ich nach kurzer Zeit entschied, einen raschen Szenenwechsel zu veranlassen: Gegenüber dem verwundeten Hochhaus, am lärm- und windumspülten Fuß der Brücke befragte ich meine Silva ausführlich, wenngleich mühsam und beinahe zwecklos über ihre weiteren Hintergründe, über Eltern, Familie und Wohnort, doch stets lief ich hier auf eine Sandbank aus Stahlbeton auf, die nur auf frustrierend seichtem Wege zu überschiffen war. Immerhin wußte ich am Ende des Tages, daß sie vor Jahren einmal beim Start der Achterbahn auf dem Wagen gefallen war, daß in ihrem Waschbecken oft Tabletten lagen, daß ihr Mathematiklehrer Richard Heed hieß, heißen sollte oder geheißen hatte. Sie näherte sich mir dann lange Zeit nicht mehr, und wenn ich sie fand, war sie in sich selbst verschlossen. Ich kannte sie so die längste Zeit: beide Fäuste vor dem Mund, und die Lider gesenkt, dahinter ein stilles, fast hämisches Lachen. Sie ging nicht mehr mit mir, und nur selten fand ich sie noch unter unsrer Brücke; so wanderte ich lange Zeit allein, bis mich eines Tags die Wehmut drängte, wieder nach ihr zu sehen. – Diesmal war es The Crow gewesen, und ein Junior Whooper; ich kaufte ihr, vampirisch, wie ich fühlte, eine Rose.
Es war in einem Kirchengäßchen, und sie so blaß wie selten; sie sah mir – endlich wieder! – in die Augen und begann zu meinem Entsetzen, mit ihren kleinen spitzen Zähnchen Blatt für Blatt von meiner Rose abzureißen und, kaum gekaut, zu verschlucken.
Von diesem Moment an war mir klar, daß ich sie töten mußte.
Zunächst kaufte ich mir eine Plastiktasche. Einen langen Nachmittag ging ich neben hohen Stadtmauern, die sich, obwohl mit vielerlei Plakaten und Sprühfarbe verziert, kaum voneinander unterschieden; in ihren Augen hatte irgendetwas geleuchtet, ein sich allmählich auf ihre Wangen ausbreitendes Leben: Ich sah mich, fern gespiegelt, auf der Reichsbrücke, und die Krusten in meinem Gesicht waren nicht nur Tränen. Notausstieg Schizophrenie stand da in schwarzem Toner auf rosa Papier, daneben bunte Aufkleber; gegen die Wand lehnte ich mich schließlich, als ich einem feuerroten Tag mit der ungefähren Zeichenfolge Sarah begegnete: Es war, absurderweise, Kreide, und ein kühler Balken legte sich auf meine heiße Stirn, eine langgezogene Wunde, wie man sie zuweilen auf Bildern und Statuen mittelalterlicher Herrscher findet. – Unsere Brücke war auch vom Kabelwerk aus schnell zu erreichen, und als ich sie fand, schrieb sie, sie, die des Lesens Unkundige, sie, drei, vier Blätter, davon ein halbes, rezitierte, als sie, glühend, mich entdeckte: – –
Ich kann bis heute nicht sagen, warum es immer unter der Brücke passierte, zwischen diesen löchrig-grauen, nur von verwaschenen Graffitti bekleideten Betonplatten und –pfeilern; es erinnerte allerdings stark an jene nächtliche Rampe, an der ich meine Silva zum ersten Mal getroffen hatte. Der Fluß darunter war ein Aquarium, in das wir ihren Vater tauchten; eine Benzinspritze für den verwundeten Ameisenhaufen, ein Bett, ein Streichholz: Sie kam, wie sie sich vorgestellt hatte, buchstäblich aus dem Wald, war mir nahezu ohne Voraussetzungen gegeben – und was das Ganze mit unserer anderen Brücke zu schaffen hat, kannst du bis heute nicht sagen. Deine eigene Plastiktasche, meine Rose, wird dir den Mund verschließen, und sie werden dich nicht finden, niemand wird dich finden, du