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Silva Nigra
Prolog
Der Bulle schaute hinauf zum Nachhimmel. In seinen tiefschwarzen, wie aus Öl gegossenen Pupillen spiegelte sich das Licht des brennenden Himmelskörpers. Schnell wie eine Sternschnuppe verschwand das Licht über den dunklen Silhouetten der Nadelwälder. Der Bulle senkte den Kopf und riss ein großes, saftiges Grasbüschel aus dem Boden. Einen Sekundenbruchteil später erbebte der Boden und eine Hitzewelle zog begleitet von einem grellen Lichtblitz über die Weide. Das Tier lief erschrocken vom angrenzenden Waldeingang fort, drehte sich aber alsbald wieder um, als die Hitze und das Licht verschwunden waren. Eine Stunde später sahen dutzende, hohläugige Kuhaugen dabei zu, wie eine weiße Gestalt mit langen Extremitäten hinter den ersten Baumreihen auftauchte. An der Stelle, wo das Gesicht hätte sein sollen, gähnte ein so tiefschwarzes Loch, dass selbst die öligen Pupillen der Tiere dagegen anmuteten wie die funkelnden Sterne am Firmament …
Die Anreise
Die schmalen Serpentinpfade schlängelten sich durch diesige Bergpässe. Große Felsformationen zur Linken, gefährlich steile Abhänge zur Rechten. Überall dunkler Nadelwald, Tannen und Fichten, bezeichnend für diesen Ort. Ebenso der starke Regen und der damit einhergehende Nebel, die umgehend eingesetzt hatten, als Ben den Szeneriewechsel der Landschaft draußen bemerkt hatte. Ben ließ das Fenster an der Beifahrerseite herunter und nahm einen tiefen, vollen Atemzug. Die Luft war frisch und es roch durchgehend nach Regen gepaart mit dem Duft der Bäume. Im Außenspiegel sah er die kleine Kolonne von Einheimischen Autofahrern, die hinter ihnen dicht auffuhren und auf die Chance warteten zu überholen. Kein leichtes Unterfangen, aber kaum hatte Ben über die Folgen eines Unfalls nachgedacht setzte ein Kleinbus zum Überholvorgang an. Der Fahrer bugsierte sein Fahrzeug in dem Moment zurück auf die rechte Spur, als vor ihnen ein quietschgelber VW um die Ecke schoss. „Ahhhhh“ fiepte Anna vom Rücksitz um dann „so ein Arschloch“ hinzuzufügen. Matteo schüttelte nur leicht den Kopf. Ben und er waren diese Strecke schon zigmal gefahren und sie wussten, dass es für einen Städter beim ersten Mal sehr aufregend sein konnte. Ben selbst war ein ängstlicher Autofahrer und witterte überall – egal ob Autobahn oder Landstraße – Tod und Verderben. Bei der ersten Fahrt hatte er sich am Haltebügel festgekrallt und Matteo ständig ermahnt, er solle langsamer fahren. Dann hatte er Matteo durch ein fast schon gebrülltes „Vorsicht“ so sehr erschreckt, dass dieser fast das Steuer herumgerissen hätte. „Alter, mach die Dötzen zu und halt die Klappe“ sagte Matteo damals genervt. Diesmal schaute er in den Innenspiegel und lächelte seine Freundin an. „Geht ganz schön tief runter hier, was?“ Anna schaute aufgeregt aus dem Fenster und runter ins Tal, in dem einige große Schwarzwaldhäuser standen. Sie musterte die auf einer Seite herabgezogenen Dächer und die traditionellen Holzfassaden.
Nach einer Weile wurde die Straße wieder Eben und die steilen Schluchten und Felsen waren einer idyllischen Ortschaft gewichen. Man wollte am liebsten direkt anhalten, sich an einen Trinkbrunnen stellen und das kalte klare Bergquellwasser über seine Lippen laufen lassen, während die zahlreichen Kühe auf ihren ausladenden Wiesen weideten und zufrieden muhten. Selbst der kurze, aber starke Regen versiegte allmählich und die dichte Wolkenformation riss auf und machte der Sonne Platz, die im August ihr Anrecht einforderte, die meiste Zeit des Tages für sich zu beanspruchen. Matteo schaltete die Scheinwerfer aus. Am Berg war es düster gewesen. Silva Nigra. Das hatten schon die alten Römer gewusst. Der Schwarzwald hatte seinen Namen nicht umsonst bekommen. Aber hier nun, in einem kleinen Dorf vor Furtwangen, war der Dunkelnadelwald einer erholsamen Idylle gewichen. Allerorts las man Schilder an den urigen Fachwerkhäusern, die Fremdenzimmer anpriesen. Der Schwarzwald lebte vom Tourismus. Und trotzdem hielt er sein Versprechen, ein echter Erholungsort zu bleiben. Für uns Städter dachte Ben, die täglich den Moloch gewöhnt waren, mit seiner Hektik, der ganzen Unzufriedenheit und dem Gestank, war dies ein magischer Ort, voller Ruhe, Harmonie und einzigartiger Natur. Matteo und Ben waren als Kinder oft hier gewesen. Das Ziel der Fahrt – eine entlegene kleine Holzhütte am Waldeingang, ganz am Rande von Furtwangen – hatten auch ihre beiden befreundeten Eltern zu schätzen gewusst. Als Kinder waren sie oft zusammen mit ihren Familien hier gewesen. Dann nochmal als Jugendliche zu Sylvester im Schnee und später dann mit zwei Freunden aus Düsseldorf, ebenfalls im Sommer. Und immer waren es magische, wundervolle Aufenthalte gewesen. Anna war zum ersten Mal dabei. Sie war seit knapp einem Jahr die Freundin von Matteo und Ben wusste, dass er es wirklich ernst mit ihr meinte. Ben mochte Anna. Sie war vorlaut, humorvoll und zuweilen bestimmend. Charakterzüge, die in einer Beziehung mit Matteo nur von Vorteil sein konnten. Denn dieser war ebenfalls sehr temperamentvoll, was Ben anfangs denken ließ, dass die Beziehung mit den Beiden nie Bestand haben könnte. Und fürwahr; die beiden konnten sich streiten, dass selbst das älteste, zänkischste Ehepaar anerkennend den Kopf beugen musste. Matteo kokettierte oft mit seinen italienischen Wurzeln. Seine Mutter war Sizilianerin, der Vater war Bayer. Und wenn Ben den Zustand der Ehe von Matteos Eltern als Explosiv beschreiben würde, dann hätte er damit untertrieben.
Als sie die Ortschaft hinter sich gelassen hatten fuhren sie nochmal gut zwanzig Minuten – vorbei an zwei kleineren Tankstellen und einigen Plateaus, die einen atemberaubenden Panoramablick über die Berge und den Wald boten – bis sie schließlich Furtwangen erreichten. Unmittelbar nach dem Ortseingangsschild bogen sie nach rechts ab und entfernten sich vom nicht allzu weit entfernten Stadtzentrum. Sie hielten auf einem Parkplatz vor einem kleinen Sportzentrum. Dahinter konnten sie schon den Trampelpfad sehen, der in den Wald führte und gerade mal so Platz für ein Auto bot. In einiger Entfernung stand die kleine beschauliche Kapelle, die sich Ben und Matteo noch nie von Innen angeschaut hatten und auf der gegenüberliegenden Straßenseite war der Bäcker, auf dessen leckeres Brot sich Ben schon gefreut hatte. In Kombination mit einem Besuch bei der Dorer – einem Traditionsmetzger in der Stadt, der für seinen außerordentlich guten Schwarzwälder Schinken bekannt war - konnte man sich auf ein Festmahl freuen, bei dessen purem Gedanken Ben schon das Wasser im Munde zusammenlief.
Dann sahen sie Peter Herzinger gemütlich und lächelnd auf den Wagen zu schlendern. Peter war ein guter Freund von Matteos Vater. Als Rentner vermietete er das kleine Feriendomizil – in das er immer viel Liebe und Handwerksgeschick hineingesteckt hatte – an die unterschiedlichsten Bekannten über das ganze Jahr verteilt. Für eine Übernachtung nahm er von jedem Gast zehn Euro, was sicherlich nicht zu viel verlangt war für das Vergnügen, mit Freunden oder der Familie eine einzigartige Hüttenatmosphäre mitten im Schwarzwald zu erleben. Besonders beliebt war die Hütte für Kindergeburtstage und Sylvestersausen. Matteos Vater hatte ihm vor kurzem erzählt, dass im letzten Jahr eine Neunzehnjährige im Winter alleine auf die Hütte gekommen war, um ihren Schriftstellerambitionen in Ruhe und Abgeschiedenheit zu begegnen. Als Matteo, Ben, Kai und Erik im Sommer 2008 auf der Hütte waren, hatte es einen Tag gegeben, an dem die Drei einen Ausflug in den nicht allzu weit entfernten Europapark – einen riesigen Vergnügungspark – unternahmen, während Matteo lieber zuhause blieb. Er hasste das lange Anstehen und die Menschenmassen in diesen Parks. Und er erinnerte sich, wie phänomenal das Wetter an jenem Tag gewesen war. Als seine Freunde die Belastbarkeit ihrer Mägen erforschten, lag Matteo draußen vor der Hütte auf der Wiese und ließ sich die Sonne auf den Pelz scheinen, während er abwechselnd Clive Barkers Galileo las und sich einen runterholte. Aber als es schließlich Abend wurde und sich die Sonne langsam hinter den Baumwipfeln verkroch, wurden auch die Schatten um die Hütte herum länger. Die dunklen Tannen wurden gänzlich Schwarz und aus dem Wald drangen die Laute der nächtlichen Bewohner. Vögel, deren Stimmen man erst vernahm, wenn die Farbe aus der Welt gewichen war. Das geisterhafte Rascheln der Blätter, als der Abendwind durch die Baumkronen fuhr. Diese unglaublichen Sternformationen, die man in der Stadt niemals zu sehen bekam. Matteo schauderte bei dem Gedanken an diesen Abend. Wie klein und unbedeutend er sich vorkam. Auch in der Hütte selbst konnte er dieses Gefühl der Bedrückung nicht abstreifen. Zu viele Fenster, zu viele Türen und Durchgänge. Zum Glück gab es Strom und somit Licht. Ein Luxus, den die ersten Besucher dieser Hütte in den achtziger Jahren noch nicht genießen durften. Damals – so Matteos Vater – musste man sogar nach Draußen gehen um sein Geschäft zu verrichten. Und seiner Mutter waren im großen Schlafraum große Waldameisen direkt aus der Holzdecke ins Gesicht gefallen. Er erinnerte sich noch gut daran wie erleichtert er gewesen war, als die Anderen um kurz vor Mitternacht nach Hause gekommen waren. Wie er zuerst erschrocken war, als er die Lichtkegel der Taschenlampen draußen auf der großen Wiese aufblitzen sah und wie zufrieden, als dann endlich das Gelächter seiner Freunde ertönte. Diese Neunzehnjährige musste richtig Mumm gehabt haben. Und das als Mädchen. Matteo war damals gerade zwanzig geworden und wäre vor Angst fast gestorben. Natürlich wusste das keiner seiner Freunde.
„Wo sind denn die anderen Beiden?“, fragte Peter wie aufs Stichwort und umarmte Matteo.
„Kommen in drei Tagen nach“, erwiderte Matteo.
Peter umarmte auch Ben und klopfte ihm kräftig auf die Schultern. Danach hielt er Anna die Hand entgegen und grinste breit. „Matteo hat nicht gelogen, als er mir sagte dass er eine wahre Schönheit mit auf den Berg bringt“, sagte er verschmitzt und zwinkerte Matteo zu.
Anna lächelte ebenfalls, überging dieses Kompliment aber. „Ob es ein Fehler war mit vier Jungs zu reisen?“, sagte sie und deutete auf die abgeschiedene Route, die in den Wald führte.
„Na vor unserem Ben hier hast du ja nichts zu befürchten“, sagte er lachend und griff eben jenem kräftig in den Nacken. Peter war ein stämmiger alter Bär, drahtig und untersetzt, mit riesigen Händen. Das war, was Ben als Kind mit Peter in Verbindung gebracht hatte, nachdem er ihn das erste Mal gesehen hatte. Damals hatte er dickes, kräftiges Haar und es war schwarz und nicht grau und dünn wie heute. Aber die Hände waren genauso riesig wie eh und je. Arbeiterhände. Rau und geschickt. Ben schaute flüchtig auf seine eigenen Hände, klein und filigran und so weich und zart wie ein Babyhintern.
„Was ist mit dir Junge, wann bringst du mal eine Begleitung mit?“ Ben lächelte zwar, aber Peter bemerkte, dass dieses Thema nicht weiter erörtert werden würde. „Na aber über eine Sache werdet ihr euch wohl sehr freuen“, sagte er und machte mit seinen Händen eine ausladende Geste. „Wir haben nämlich expandiert“. Die drei lauschten gespannt. „Damit ihr Städter nicht sagen könnt, ihr hättet keinen Luxus geboten bekommen; eine nagelneue Sauna.“
Die Drei sahen sich mit großen freudigen Augen an. „Und die funktioniert auch? Wie eine normale Sauna, mit Aufguss und so“, fragte Ben skeptisch.
„Mein Freund“, tönte Peter und legte Ben wieder einen Arm um die Schulter. „Und wie die funktioniert.“ Er zog Ben etwas an sich heran. „Kein Handtuchzwang“, sagte er flüsternd. Ben lächelte verlegen.
„Ich werde euch dann jetzt mal die Schlüssel geben. Matteo, du weißt ja noch wie das mit dem Ofen und dem Herd funktioniert, gell?“ Matteo nickte. „Morgen komme ich dann vorbei und zeige euch, wie ihr die Sauna zu benutzen habt.“ Peter kratzte sich am Kopf und überlegte. „Ach. Heidi hat die ganze Hütte auf Vordermann gebracht. Die Spinnen sind vorerst alle erledigt“, sagte er und zwinkerte bei der Sache mit den Spinnen Anna zu. „Ben hier ist ein ziemliches Weichei, wenn es um Spinnen geht“, prustete er. Matteo musste lächeln. Peter war immer mit Ben am Frotzeln. Aber es geschah auf eine liebevolle, vertrauensselige Art und Weise. Seit Ben offen schwul lebte, beliebte Peter sich dann und wann einen kleinen Scherz mit ihm zu erlauben. Peter war ein Christenmensch durch und durch, wie so viele Leute hier in dieser Region es waren. Aber laut den Aussagen von Matteos Vater war er früher auch ein Rabauke und Rebell gewesen, der sogar in kleinere Gaunereien verwickelt war und hin und wieder zu tief ins Glas geschaut hatte, bevor er durch Jesus und die Bibel errettet wurde. Aber er verurteilte Ben nicht oder schwieg die Sache tot, wie so viele andere Leute - Matteos Mutter eingeschlossen – es taten. Und das war typisch für ihn und machte ihn umso sympathischer.
„Kommt erstmal gut an und packt euren Kram aus. Ich komme morgen Abend vorbei“, sagte Peter und hob seine Hand zur Verabschiedung. Als er schon fast bei seinem Wagen war rief er nochmal quer über den Platz „Ach ja. Die Kühe sind auch wieder da und ihr habt einen nächtlichen Besucher in der Hütte!“
Die Hütte
Der knappe Kilometer Trampelpfad, der zur Hütte und gleichzeitig zum Waldeingang führte, hatte sich nicht verändert. Rechts und links türmte sich der Wald auf und davor, auf den grasigen Ausläufern lagen große geschichtete Holzstapel. Ein Förster tauchte vor ihnen auf. Sein Gefährt blockierte den Weg. Er selbst hatte Ohrmuscheln auf und hantierte mit einer Kettensäge. Er bemerkte den Audi zwar, beendete sein Werk mit dem Scheit aber akribisch und schlenderte erst dann mit der typisch wirschen Art eines alten, bärbeißigen Försters auf sein Gefährt zu, um es aus dem Weg zu räumen. Als Matteos Audi passierte, nickten ihm alle freundlich zu. Anna winkte sogar. Der Alte reagierte nicht und nahm seine Arbeit wieder auf.
Das letzte Stück wurde ein bisschen hügelig. Durch den starken Regenguss hatten sich auf dem sandigen Pfad, der jetzt nur noch die Breite eines einzelnen Pkw hatte, große Pfützen gebildet. Durch die letzte, riesige Pfütze, die sich in der Senke gebildet hatte, fuhr Matteo mit Vollgas. Anna schrie verzückt auf. Ben hatte sich am Haltebügel festgekrallt. Das Wasser und der Sand spritzten bis an die Fensterscheiben. „Scheiße“, sagte Matteo als ihm klar wurde, dass er höchstwahrscheinlich morgen schon die erste Waschstraße würde aufsuchen müssen.
Sie kamen an einer kleinen verwitterten Scheune vorbei, die stets verschlossen war, solange Matteo und Ben sich erinnern konnten. Ein verrostetes Schloss hing an einer wettergepeitschten, ehemals grün angestrichenen Tür.
„Sag mir nicht, dass ich dort eben eine Mistgabel hab hängen sehen“, sagte Anna. „Und wann kommt das nächste Ortseingangsschild, an dem sie den Skalp irgendeines armen Städterteufels festgepinnt haben?“, fragte sie amüsiert.
„Keine Sorge, die jagen nur bei Nacht“, sagte Ben. „Die Degenerierten“, fügte Matteo hinzu.
„Ich wusste immer, dass du zu denen gehörst“, sagte Anna und ließ sich zurück in den Sitz fallen. Ben sah erst Matteo und dann wieder Anna an. „Hat er irgendwas Beängstigendes an seinem Körper?“
Bevor Matteo seinen Mund aufmachen konnte schoss ihm Anna quer und kam ihm zuvor. Eine Sache, die Ben sehr oft bei den beiden beobachtete.
„Er hat zwei kleine Muttermale an seinem Ding-Dong“, sagte sie und dann: „die sehen im falschen Licht aus wie zwei verschlagene Augen die einen anstarren, bevor sie sich in bester Alien-Manier zurückklappen und ein furchterregendes, schleimiges Maul entblößen.“
Ben prustete los. Matteo grinste nur schäl. „Nur damit du es weißt Freundchen, meine Testikel sind ästhetisch ansprechend, egal was sie dir erzählt“, sagte er im präzisen Tonfall eines Doktor Sheldon Cooper.
Einen kurzen Moment war Ruhe, bevor Ben hinzufügte: „Ich weiß“.
Anna tauchte direkt zwischen den Beiden auf und grinste frech. „Soso. Du weißt also.“
„Wir sind quasi zusammen aufgewachsen, Anna“, sagte Matteo.
„Habt ihr euch gegenseitig einen runtergeholt?“ fragte sie so lapidar, als hätte sie gerade über das Wetter gesprochen. Ben und Matteo waren unisono entrüstet. „Na hör mal…“, „so ein Quatsch“. Anna lachte schallend. Sie mochte Ben. Sie wusste, dass er einen großen Platz im Herzen von Matteo hatte. Bei den ersten beiden Treffen war das Verhältnis von Ben und Anna etwas unterkühlt gewesen. Er schien überfordert zu sein von ihrer forschen Art. Sie war keineswegs das typische Mädchen, das wusste sie. Hatte schon immer lieber mit Kerlen Kontakt gepflegt. Machte auch schon mal derbe Witze und konnte schlüpfrig daherreden. Nachdem die beiden warm miteinander geworden waren und Ben erkannt hatte, dass Anna keine besitzergreifende Tussi war, die Matteo ganz für sich alleine beanspruchen wollte, hatte er ihr gesagt, dass sie auch gut und gerne eine Lesbe hätte werden können. Die beiden verstanden sich seither prächtig. Sie war schnell zum Teil des Teams geworden. Und was Ben anging. Die Art wie er Matteo manchmal ansah. Die Verlegenheit. Es machte sie manchmal traurig zu wissen, dass Ben niemanden kennenlernte. Er war ein hübscher Bursche. Nicht so kräftig wie Matteo. Es war nicht die Physis. Es waren die gutmütigen braunen Augen. Das feine Gesicht. Ben war größer als Matteo. Ein schlaksiger Kerl der nicht wusste wohin mit seinen Armen. Es war sein Wesen. Ungekünstelt, dachte sie immer wieder wenn sie ihn und Matteo nebeneinander hergehen sah. Ihr Freund marschierte wie ein stolzer Gockel, er wusste seinen Körper einzusetzen. Bens Körperhaltung war ungezwungener. Trotz seiner schlaksigen Gestalt und seiner ungekünstelten Art wirkte Ben sehr maskulin auf Anna. Seine kurzen braunen Locken gefielen ihr außerordentlich gut.
„Aber eure Schwänze habt ihr miteinander verglichen?“ Es war eher eine rhetorische Frage, so wie Anna sie stellte.
Matteo grinste Ben ein wenig verlegen an. „Sie wird nicht damit aufhören, bis wir ihr einen Knochen vorwerfen.“
„Wer wirft mir denn den größeren Knochen zu?“, kicherte Anna und sagte dann: „Aber lasst nur. Wenn wir in der Sauna sind kann ich mir darüber ja selbst ein Urteil bilden.“
Die beiden Jungs sahen sich mit großen Augen an und lachten. „Du bist so eine Bitch“, sagte Ben und streckte ihr die Zunge heraus. „Ach was, das gefällt dir doch. Ich wette ich hab dir gerade einen mordsmäßigen Ständer verpasst“, stichelte sie zurück. Matteo schüttelte nur den Kopf und als der Wagen langsamer wurde streckte Anna den Kopf nach vorne und fragte: „Sind wir da?“
Sie waren angekommen. Matteo parkte seinen Audi auf dem Rasen unmittelbar neben dem Waldeingang. Von hier aus hatte man rechts einen spektakulären Blick über zahllose Berge und Wälder. Die ersten riesigen Baumreihen taten sich fein säuberlich in Linie erst dort auf, wo zwei Pylonen den Waldeingang markierten und ein klitschnasser breiter Trampelpfad ins Waldinnere führte. Am ersten Baum war ein kleines Schild angebracht, dass einen Wanderpfad markierte. Die Drei stiegen aus und stellten sich auf die Bergkuppe. Heute Nacht können wir hier draußen auf dem Auto liegen und die Sterne beobachten, Baby“, sagte Matteo und gab Anna einen langen, leidenschaftlichen Kuss. „Und mich alleine nachts in der Hütte lassen“, fragte Ben. „Vergesst es“. Anna grinste. „Dann gucken wir eben zu Dritt Sterne“, sagte sie und boxte Matteo neckisch in die Seite. Ben breitete die Arme aus, machte die Augen zu und stellte sich auf den höchsten Punkt der Kuppe. Matteo stellte sich sofort daneben und tat es ihm nach. „Ähm, was macht ihr da Jungs“, fragte Anna. „Komm her und mach mit“, sagte Ben. Sie verdrehte zwar die Augen aber tat wie ihr geheißen. „Und was machen wir hier? Ist das irgend so ein nerdiges Ritual?“, fragte sie und dann: „Kommt das aus Star Trek?“ Anna wusste, dass die Jungs mit denen sie die nächsten zehn Tage auf dieser Hütte verbringen würde allesamt ausgemachte Nerds waren. Als sie Matteo kennenlernte hatte sie das nicht gleich erkennen können. Wie gesagt; er war eins von den coolen Kindern, spielte Tennis seit er ein Junge war und war beliebt bei den Mädchen. Als sie ihn auf der Uni kennenlernte und mit ihm ausging durchschaute sie ihn nicht gleich am Anfang. Auch seine Studentenbude war eine fade Zurschaustellung von Männlichkeit. Diverse Spirituosenflaschen, spartanische geistlose Einrichtung. Aber Anna verfügte über eine gute Menschenkenntnis und sie wusste, dass er nicht der langweilige Aufreißertyp war, für den man ihn halten sollte. Sie blieb hartnäckig und als sie ungefähr drei Wochen nachdem sie sich kennengelernt hatten bei seinen Eltern zum Essen eingeladen wurden, hatte sie endlich Gelegenheit etwas in seinem Leben zu wühlen. „Darf ich dein altes Zimmer sehen“, fragte sie ihn im Beisein seiner Eltern ganz ungeniert. „Da gibt es eigentlich nichts zu sehen“, erwiderte Matteo damals sichtlich verlegen. Seine Mutter hatte daraufhin amüsiert gesagt: „Na wenn das so ist dann hast du sicherlich nichts dagegen, wenn ich den ganzen Kram mal rauswerfe und endlich meinen Haushaltsraum bekomme, den mir dein Vater schon solange versprochen hat.“
Sein Vater, der die Augen verdreht und seine Zeitung weggelegt hatte sagte: „Du bist eh zu alt für den ganzen Kinderkram.“
Anna hatte gelacht. „Dürfte ich diesen Kinderkram sehen?“ Matteo entfuhr ein tiefer Seufzer und er hatte eine Geste zur Treppe gemacht. „Nur zu“, und dann zu seinen Eltern: „Ihr vergrault mir die Freundin“.
Sein Zimmer war ein Sammelsurium aus Figuren, Postern, Videospielen und Comics jeglicher Art. Einen Namen hatte Anna besonders oft gelesen.
„Street Fighter?“, hatte sie gefragt.
Heute wusste Anna was Street Fighter war. Die vier Jungs waren regelrecht süchtig nach dem Spiel, bei dem man aus einer Vielzahl von Kämpfern rund um den Globus seinen Liebling aussuchen konnte, um dem anderen Spieler ordentlich eins vor den Latz zu hauen. Anna mochte Street Fighter, auch wenn sie in den wenigen Runden die sie gegen die Jungs spielte nicht den Hauch einer Chance hatte. Matteo hatte mal versucht es ihr beizubringen und sich dabei aufgespielt wie ein hundertjähriger Lehrmeister. Sie hatte schon nach einer halben Stunde entnervt aufgegeben. Sie akzeptierte diesen Tick von ihm. Irgendwie liebte sie ihn dafür noch mehr. Wo andere Jungs mit denen sie ausgegangen war ausschließlich auf Fußball und Autos abfuhren und sämtliche Gespräche sich irgendwann immer um diese Themen zu drehen schienen, war Matteo unberechenbar und vielseitig in der Wahl seiner Interessen. Als Sportstudent war er immer recht agil und hielt Anna mit Aktivitäten wie Kanufahren, Badminton und Squash auf Trab. Waren seine Freunde anwesend, so konnten sie sich stundenlang über Filme, Spiele und sonstige Unterhaltungselektronik unterhalten und sich die Nächte mit stundenlangem Street Fighter Zocken um die Ohren schlagen.
„Wir wiegen uns im Wind“ sagte Matteo und holte Anna damit zurück aus ihren Träumereien.
Sie machte die Augen auf und schaute ihren Freund an, der mit ausgebreiteten Armen dastand, die Augen geschlossen, dass Gesicht friedlich. Sie griff seine Hand und drückte liebevoll zu. Auch er hatte die Augen nun geöffnet und schaute sie an. Matteo war ein schöner Mann. Nicht so filigran wie Ben, eher Schön im klassischen Sinne. Er hatte kräftige Kinnpartien, einen ebenmäßigen Dreitagebart und kurzes, dunkelbraunes Haar. Aus seinen grünen Augen funkelte der Schalk. „Warum wiegen wir uns nicht gemeinsam im Wind“, fragte Anna und stellte sich hinter ihn, schloss ihre Arme um seinen Hals – sie war genauso groß wie Matteo, mit den richtigen Schuhen sogar ein Stück größer – und zusammen wiegten sie sich im frischen Wind der Berge, der dezent nach Tannennadeln roch.
Das taten sie einen Moment lang, danach gingen sie zum Auto und holten ihre großen Reisetaschen heraus. „Den Rest holen Ben und ich später“, sagte Matteo und meinte damit den Reiseproviant. Spirituosen, Brettspiele, Taschenlampen und etwas, dass in Annas Augen fast so Aussah wie eine Playstation Reisetasche. „Nicht im ernst Jungs“, sagte sie und deutete auf die schwarze Tasche. „Peter hat einen kleinen Röhrenfernseher auf der Hütte. Hat im letzten Jahr eine Satellitenschüssel auf dem Dach angebracht“, erklärte sich Matteo.
„Kein Urlaub ohne Street Fighter“, sagte Ben. Anna konnte nur einen langen Seufzer ausstoßen und winkte ab.
Links vom Weg auf dem sie hergekommen waren verlief ein kleiner elektrischer Zaun. Dahinter kam ein leichtes Gefälle auf dem friedlich die Kühe grasten.
„Die Kühe sind da“, sagte Ben und bestätigte damit Peters Worte. Bei manchen Besuchen im Sommer grasten die Kühe auf der Weide und bei anderen nicht. „Sie haben ihre Königin vermisst“, lachte Matteo und zwickte seinem Freund in die Seite.
„Da müssen wir runter?“, fragte Anna und deutete die Wiese und das leichte Gefälle hinunter.
„Pass lieber auf die Scheiße auf. Die Tretminen liegen hier überall, sind aber am Tage nicht zu übersehen“, lachte Matteo und schritt als erster über den Zaun.
„Kühe sind gruselig“, sagte Ben und tat es ihm nach. „Und wieso das?“, fragte Anna. Sie war direkt hinter ihm.
„Sieh nur wie sie uns anstarren. Findest du nicht das Kühe irgendwie immer böse schauen“, fragte er. „Warte lass mich nachsehen“, sagte Anna, blieb abrupt stehen und ging dann auf eine der Kühe zu. „Vorsichtig“, sagte Ben. Sie stand für ein paar Sekunden etwa zweieinhalb Meter von der nächsten Kuh entfernt und Mensch und Tier blickten sich in die Augen. „Oh mein Gott“, schrie Anna. Nicht nur die Kuh schreckte auf. „Was?“, fragten Matteo und Ben zeitgleich.
„Ich kann die Seelenlosigkeit in den Augen dieses Tieres sehen“, sagte sie und zitierte dabei eine Folge aus den Simpsons.
„Haha“, sagte Ben und ging weiter.
„Pussy“, rief Anna und folgte.
Der Abstieg dauerte keine Minute. Was vom Auto aus kaum zu sehen gewesen war, tat sich nun vor ihnen auf. Ein kleiner gepflasterter Weg verlief in einer Kurve hinauf zu einer beschaulichen Holzhütte, die so wirkte, als wäre sie in den kleinen Hügel eingefasst worden.
Von der Wiese aus hätte man mit einem kleinen Sprung ohne Probleme das Dach erklimmen können. Rechts von der Hütte stand ein kleines Grillzelt und daneben kam das nächste größere Gefälle, das weiter in den Wald hinein führte. Die große Terrasse seitlich der Hütte wurde durch einen kleinen Lattenzaun begrenzt. Dahinter tat sich ein etwa sechs Meter tiefer Hang auf. Entlang der Hütte, die etwa zehn Meter breit war, gab es einen kleinen überdachten Verschlag für das Brennholz, welches zum Glück ausreichend vorhanden war. Die Nächte im Schwarzwald waren manchmal so kalt, wie das Wetter tagsüber tückisch sein konnte, und der Ofen verbreitete eine wohlige Wärme im gesamten Haus, deren eigentümlichen Holzgeruch Matteo sehr mochte. Das Haus bestand aus zwei Etagen. Oben konnte Anna einen Balkon erspähen, der an der kompletten Seite verlief. An dem Geländer waren in regelmäßigen Abständen große Blumenkübel angebracht, in denen prächtige rote Blumen blühten.
„Sieht echt schick aus“, sagte sie.
„Gehen wir rein“, sagte Matteo und ging zurück auf den gepflasterten Weg, der sie hinauf zur überdachten Veranda führte. An den Seiten blühte kräftiger Flieder. Noch bevor man zur eigentlichen Haustür kam, lief man an einem sehr großen Fenster vorbei, hinter dem man eine gemütliche Stube mit einem runden Tisch und Sitzbänken sehen konnte. Anna konnte jetzt schon erahnen, mit wie viel Plunder die Hütte ausstaffiert worden war. Matteo hatte sie gewarnt, dass christliche Symbole jeder Art auf sie warten würden, ebenso wie geschmackloser Holzschmuck und sonstiger Tand. Sie konnte die zahlreichen Ölgemälde sehen, die an den Wänden hingen. Ebenso zählte sie allein beim Vorbeigehen mindestens drei Kreuze. An der Haustür selbst prangten die zwei einfachen Worte: “Grüß Gott“.
Die erste Nacht
Nachdem die Drei ihre Quartiere im großen Schlafraum bezogen hatten, ihre Koffer verstaut und den restlichen Proviant aus dem Wagen geholt hatten, war es draußen merklich düsterer geworden. Der Himmel hatte die Farbe eines Blutergusses angenommen und die ersten Sterne zeigten sich am Firmament. Ben war damit beschäftigt, die Lebensmittel einzuräumen, während Anna und Matteo unten gemeinsam duschten. Anna hatte darauf bestanden, dass Matteo ihr nicht von der Seite wich, nachdem sie bemerkt hatte, wie verwinkelt die Hütte war. Ben hörte leises kichern von unten und das unregelmäßige Klatschen von Wasser. Er stellte eine Pfanne auf den Gasherd und verrührte in einer Schüssel fünf Eier mit Milch. Er gab einen Block Kräuterbutter in die Pfanne, weil er wusste, dass Matteo sein Rührei so am liebsten mochte. Dann ging er raus auf den Balkon und zündete sich eine Zigarette an. Den fertig gedrehten Joint würde er später mit Anna und Matteo rauchen. Er beobachtete abwechselnd den Himmel und den Waldeingang, auf den er von hier oben hinabschauen konnte. Die gleichsam angenehme wie einsame Atmosphäre um ihn herum sickerte langsam in seine Glieder. Er mochte das eigentümliche Gefühl, seine eigene Gegenwart spüren zu können. Aber zeitgleich machte es ihn auch stets melancholisch. Wie sehr hatte er diesen Urlaub herbeigesehnt. Insgeheim freute er sich über die drei Tage, die er alleine mit seinem besten Freund und Anna verbringen durfte, bevor Erik und Kai dazukamen. Er freute sich auch auf die Beiden, aber er wusste, wenn die Clique komplett war, würden die restlichen zehn Tage wie im Flug vergehen. Ein Rausch aus Ausflügen, gammeligen Tagen in der Sonne, Alkohol und Spielen, begleitet vom stetigen Trash-Talk der Jungs. Und am letzten Tag würde sich Ben wünschen, die Zeit konservieren zu können. Als er so gedankenversunken in den Wald schaute, bemerkte er etwas Glänzendes am Waldeingang. Er fokussierte den Blick darauf. Jenseits der großen Kuhweide stand etwas Weißes neben den Bäumen. Da die Distanz gute einhundert Meter betrug, konnte er es nicht genau erkennen. Es schien die Statur eines Menschen zu besitzen, war aber größer. Vielleicht war größer das falsche Wort in diesem Zusammenhang. Länger passte wohl eher, dachte Ben und fokussierte den Blick weiter um erkennen zu können, ob sich das Ding bewegte. In seiner Reisetasche hatte er ein Fernglas, musste aber dafür in den Schlafraum gehen um es zu holen. Er legte die Zigarette in den Aschenbecher und wollte gerade aufstehen, als Anna ihm die Hand auf die Schulter legte. „Ist echt ganz schön gruselig allein da unten“, sagte sie und machte eine ausladende Geste mit den Armen. „Und überall steht Gerümpel herum. Das ist echt so, als würde man auf einem dunklen Dachboden oder im Keller eine Duschkabine aufstellen.“ Anna hatte Handtuchfeuchtes Haar und ein kariertes Hemd von Matteo an. Sonst trug sie nur einen schwarzen Slip und schlichte Hausschuhe. Matteo tauchte hinter ihr auf. Sein babyblaues Shirt klebte noch feucht an seinem Körper. Er trug seine graue Lieblings-Jogginghose und war barfuß. Seine feinen braunen Haare standen ihm strubbelig vom Kopf ab. „Was macht das Abendessen“, fragte er zerknirscht.
Nachdem sie gegessen hatten, setzten sie sich gemeinsam auf die schmale Sitzbank auf dem Balkon und ließen den Joint kreisen. Der Himmel war jetzt Pechschwarz und der Wind blies heftiger. Auch Anna zog sich eine Jogginghose an. Dann lauschten sie stumm dem Rascheln der Nadelbäume und dem gespenstischen Heulen des Windes für eine Weile. Ben hielt abermals Ausschau nach dem weiß-glänzenden Ding am Waldrand, konnte es aber nicht mehr erspähen. „Ich finde unser Schlaflager richtig cool“, sagte Anna. „Das erinnert mich total an Jugendherbergen oder Ferienlager´. Ich hab sowas nie gemacht früher“, gab sie zu. „Warte ab bis du Erik schnarchen und Kai furzen hörst“, sagte Matteo amüsiert. „Mal gucken ob es dir dann noch so gut gefällt.“ Ben rieb sich die Augen und sagte: „Oh man, ich bin ganz schön stoned. Wollen wir ins Bett gehen?“ Matteo grinste. Ben war ein ziemlicher Schisser. Neben der äußeren Matratze im Schlafraum gab es ein großes Fenster, von wo aus man aus dem Bett heraus über die große Wiese direkt in den Wald schauen konnte. Matteo mochte diesen Platz. Er mochte es, morgens von den ersten Sonnenstrahlen geweckt zu werden oder über diesige, verregnete Wiesen schauen- und beobachten zu können, wie sich Nebelschwaden ihren Weg durch die Bäume bahnten. Ben aber fand den Ausblick bei Nacht beängstigend. Er konnte sich nicht alleine in dem Raum aufhalten, geschweige denn dort ein Auge zu tun.
„Gute Idee“, sagte Anna indes und streckte sich gähnend. „Die lange Autofahrt hat mich auch ganz schön geschlaucht“. Sie stand auf, ohne auf Matteos Zustimmung zu warten und harkte sich bei Ben unter. „Und was wird aus unserem Rendezvous auf dem Autodach und den Sternen?“, protestierte Matteo und nahm einen letzten Zug vom Joint, der nur mehr ein totgerauchter Stummel war. „Na dann eben ins Bett“, sagte er schulterzuckend und folgte den beiden anderen in den Schlafraum.
Ein lautes Scheppern riss alle drei zeitgleich aus dem Schlaf. „Verdammt, was war das“, fragte Anna mit belegter Stimme. Im Schlafraum war es düster, aber das Mondlicht das durch das große Fenster einsickerte, ließ alle Konturen im Raum erkennen. Der Schlafraum war vom Esszimmer nur durch eine Schiebetür getrennt. Matteo schlug die Decke zurück und es fröstelte ihn. Das lag einerseits am Schreck und andererseits daran, dass die Holzscheite im Ofen längst verglüht waren und die Hütte langsam auskühlte. Anna packte seinen Arm. „Warte“, sagte sie und legte einen Finger auf die Lippen. „Horch“, sagte Ben leise und alle drei vermieden es zu Atmen oder sonst irgendwelche Bewegungen zu machen. Die Stille war allumfassend. Sie verharrten eine Minute in dieser Habachtstellung, dann stand Matteo auf und wühlte sich aus dem Bett. Er lief schnell zur Schiebetür und betätigte den Lichtschalter daneben. Die Glühbirne war nicht sehr stark, und so war es für die sechs Augenpaare nur ein kurzer Schmerz, sich an das Licht zu gewöhnen. „Woher kam das?“, wollte Anna wissen. „Schwer zu sagen in dieser Hütte“, flüsterte Ben. „Aber ich glaube, es kam aus der Küche“, sagte er zu Matteo. „Okay“, sagte dieser und schob langsam die Schiebetür beiseite. Ben konnte eine dicke Gänsehaut an den nackten Beinen seines Freundes beobachten. Tastend und mit beiden Füßen fest im Schlafraum verankert suchte Matteo im Nebenzimmer den Lichtschalter. Als auch dort das Licht gedämpft anging, ohne das etwas aus den Schatten gesprungen kam, viel ein wenig Anspannung von den Dreien ab. Auch Anna und Ben waren nun auf den Beinen und folgten Matteo ins Innere des Nebenraums. Über eine kleine Treppe kam man direkt in die winzige Küche, die man vom Esszimmer aus komplett einsehen konnte. Von draußen rüttelte der Wind an den Fenstern und hin und wieder war ein boshaftes Pfeifen zu hören. Ansonsten war alles ruhig. Matteo stieg die Stufen zur Küche hinauf und erschrak, als er die Pfanne mit den Rührei-Resten auf dem Boden erblickte. Mitten darin saß eine Art Eichhörnchen mit dickem, buschigem Schwanz und machte sich gierig über die Reste her. Als es Matteo erblickte machte es einen schnellen Satz auf die Anrichte, schaute verdattert in Richtung von Ben und Anna und sprang dann an die Holzvertäfelung, wo es in einem kleinen Spalt zwischen den Dachbalken verschwand. Ben lachte und Anna sagte: „Oh nein, wie niedlich.“ Nur Matteo war noch ein wenig Blass vom Schreck. „Das wird dann wohl der nächtliche Besucher gewesen sein, von dem Peter gesprochen hat“, sagte er.
Nachdem alle wieder sicher und warm in ihren Betten lagen, bemerkte Anna durch das Fenster neben ihrem Schlafplatz schauend, einige Kühe in perfekter Formation nebeneinander auf der Weide stehen. Die Tiere schienen zu ihr hinauf zu starren. Sie verharrten reglos. Wie seltsam, dachte Anna auf der Schwelle zum Schlaf …
Kontakt I
Am nächsten Morgen war Anna als Erste auf den Beinen, spülte das dreckige Geschirr vom Vorabend und bereitete das Frühstück zu. Dabei bemerkte sie, dass der nächtliche Dieb nicht nur die Reste vom Rührei stibitzt hatte. In zwei Bananen waren große Löcher gebissen worden. An den Rändern der klaffenden Löcher waren die Früchte braun, von Innen waren sie nahezu ausgehöhlt. Das andere Obst, Äpfel und Orangen, wurden scheinbar nicht angerührt. Wählerischer kleiner Scheißer, dachte sie und machte heißen Kaffee und Marmeladentoast für sich und die Jungs. Den Vormittag über nutzten sie das gute Wetter für eine Wanderung zur nahe gelegenen Hexenlochmühle. Das Restaurant dort bot einen schönen Biergarten und außerdem die laut Ben beste Forelle mit Rosmarinkartoffeln, die er je gegessen hatte. Der Wanderweg führte sie direkt von der Hütte aus einige hundert Meter runter ins Tal. Der Abstieg war teilweise sehr steil und der Tritt schmal. Hin und wieder rauschten einige wagemutige Mountain-Bike-Fahrer an ihnen vorbei. Hier ein Sturz, und sie konnten sich aller Voraussicht nach vom Leben verabschieden. Sie kamen an leise plätschernden Bächen vorbei, an liebevoll geschnitzten Pumpen und weiteren imposanten Fachwerkhäusern. Die Hexenlochmühle lag umrahmt von hohen Bergen an einem Teich. Einige Touristen hatten sich eingefunden und kauften Tand im Souvenirladen und frische Wurst- und Käsespezialitäten beim Metzger. Die Sonne legte einen warmen Daumenabdruck genau auf den Biergarten. „Oh Mensch, Leute. Wir sind im Himmel“, grunzte Matteo zufrieden und nippte an seinem Weißbier.
Der abermalige, zweistündige Aufstieg zur Hütte erwies sich als Gewaltmarsch und enorme Anstrengung. Anna, die selbst recht sportlich war brauchte viele Pausen. Matteo und Ben schritten meist stoisch voran. An der fehlenden Konversation merkte Anna, wie erschöpft und fokussiert auch die beiden Jungs waren. Bens kurze, braune Locken klebten ihm am Kopf und seine Bewegungen wirkten schlaksiger und unkoordinierter denn je. Auf dem letzten Drittel des Rückwegs begann es zu regnen. Ein fieser, beständiger Nieselregen, der einen feuchten Schleier über die Wälder warf. Als die Drei bei der Hütte ankamen, war es bereits 17 Uhr und sie alle waren durchnässt und genervt. In der Hütte brannte Licht und sie bemerkten Peters Pkw weiter oben am Hügel neben dem ihrigen parken. Sie fanden ihn in der Küche vor, wo er gerade eine Mahlzeit für sie vorbereitete. Im Esszimmer hatte er den Tisch dekoriert mit geschnittenem Krustenbrot, Schwarzwälder-Schinken und Käse. In der Pfanne vor ihm schmorten selbstgemachte Rösti´, oder um es mit Peters Worten zu sagen: „Eine zünftige Röschti-Veschba für die Wandersleut´“. Dann sagte er: „Ihr solltet das Obst besser sichern. Wie ich sehe hattet ihr letzte Nacht Besuch vom Siebenschläfer“. Ben lief augenblicklich das Wasser im Munde zusammen, als er das Essen in der Pfanne erblickte. „Peter, du bist der Beste“, sagte er und ließ sich erschöpft, verschwitzt und mit dreckigen Klamotten auf einen der Stühle fallen. Peter holte aus dem Kühlraum im Untergeschoss einige Flaschen „Tannenzäpfle“ herauf, die sie nun gemeinsam tranken. Nach dem Abendessen präsentierte er die Sauna im Untergeschoss. Ein notdürftig zusammengeschusterter Verschlag, in dem auf drei Sitzbänken übereinander maximal fünf Leute Platz finden konnten. „Und die funktioniert?“, fragte Anna skeptisch. Peter nestelte aus seiner Tasche ein Fläschchen mit Zedernöl hervor, übergab es an Anna und befeuerte den Ofen. „In einer Stunde, mein Kind“, sagte Peter und schaute auf seine Armbanduhr, „werdet ihr Drei hier entspannt schwitzen und Lobpreisungen an mich richten.“
Als Peter kurze Zeit später wieder gefahren war, nicht ohne Matteo zuvor genau instruiert zu haben, wie er die Sauna zu bedienen hatte, gingen die Drei nacheinander zuerst duschen und standen dann in Handtücher gewickelt vor der Glastür zur Sauna. Der Fliesenboden hier im Untergeschoss war kalt, und auch der Ofen befeuerte nur die Stube oben. Der Glaskasten, der so behelfsmäßig zusammengeschustert war, schien gut isoliert zu sein und die Hitze zu stauen. Durch die Glasfront an der Seite konnte man direkt nach draußen auf das Plateau und den Wald dahinter schauen. Neben der Sauna ging es durch eine Schiebetür direkt nach Draußen. Man konnte sich also, nachdem man sich genug aufgeheizt hatte, draußen die Beine vertreten und den Wind über seine nackte Haut streichen lassen. Bei dem Gedanken bekam Ben eine wohlige Gänsehaut. Anna streifte sich ungeniert als Erste das große Handtuch ab. Ihre Brüste waren klein und die Brustwarzen standen hart nach oben. „Verdammt, mir ist kalt“, sagte sie, öffnete die Tür zur Sauna und schlüpfte hindurch. Sie legte ihr Handtuch akkurat auf die zweite Holzbank und setzte sich ungeniert vor die beiden Jungs, die immer noch draußen standen und ihr dabei zuschauten. Sie träufelte ein bisschen von dem Zedern Öl auf die heißen Steine, die in einer Schale auf dem Ofen lagen. Ein wütendes Zischen ertönte, als die Tropfen den Stein berührten und augenblicklich verdampften. In der Kabine stellte sich ein wohltuender, ätherischer Nebel ein. Sie lehnte sich zurück und genoss den Duft, der ihre Atemwege befreite und die wohlige Hitze, die sie augenblicklich heftig schwitzen ließ. Dann schaute sie die beiden Jungs an. „Verlegenheit, ach wie niedlich“, sagte sie diabolisch grinsend. „Soll ich die Augen zumachen, Ben?“, fragte sie zwinkernd. Ben seufzte und zog das Handtuch von seinen Hüften. Ohne sich umzudrehen schlüpfte er durch die Tür, legte das Handtuch ganz außen auf die erste Holzbank neben das Fenster und setzte sich. Matteo folgte.
„Ich lobpreise dich Peter, für diese geniale Erfindung“, schrie Matteo in den dunklen Wald hinein, während er nackt am Ende des Plateaus mit einem Glas Wein in der Hand stand und die Arme ausbreitete. „Du verschreckst noch die armen Tiere mit deinem Anblick“, scherzte Ben, breitete aber selbst die Arme aus und schloss die Augen. Der Wind umschmeichelte seinen nackten Körper, aber ihm war nicht kalt. Anna kam mit einer zweiten Flasche Rotwein, und einem dilettantisch gedrehten Joint durch die Schiebetür. Keiner machte sich mehr die Mühe die Handtücher mit rauszunehmen, so wie sie es nach dem ersten Saunagang noch gemacht hatten. Der Wein wirkte genau wie er sollte. Die Drei fühlten sich nackt wohl miteinander. Anna konnte beobachten, wie Ben immer wieder verträumt seine Blicke über Matteos Körper streifen ließ. Dieser war sich dessen absolut bewusst, dass konnte Anna sehen. Die Art, wie er gelegentlich verschiedene Muskelpartien anspannte oder sich scheinbar ungezwungen, verführerisch reckte und streckte. Mein Freund, der Poser, dachte Anna. Sie setzten sich zu dritt auf eine Bank, wobei Anna von den beiden Jungs flankiert wurde, und ließen den Joint und die Weinflasche kreisen. An ihren Schenkeln spürte sie gelegentlich die Berührungen und die Wärme von den beiden Körpern die sie umgaben. Ein elektrisierendes Kribbeln machte sich in ihrer Körpermitte breit. Sie küsste Matteo und strich mit ihrer Hand über seine Schenkel. Er wurde fast augenblicklich hart. „Woah, ich geh mal lieber wieder rein“, sagte Ben und grinste, aber Anna hielt ihn fest. Dann schaute sie Matteo an und hob die Augenbrauen. „Wollen wir heute mal ein bisschen verrückt sein?“, fragte sie lächelnd. Matteo schaute etwas irritiert drein, blickte dann aber an Anna vorbei zu Ben und sagte: „Setz dich“. Ben setzte sich und umklammerte ein wenig nervös sein Weinglas. Während Matteo damit begann, zärtlich an Annas Brustwarzen zu lecken, suchte Annas linke Hand nun auch Bens Schenkel auf und wanderte zielstrebig in seinen Schoß. Die ganze Sache wirkte surreal auf Ben, aber sein Schwanz wurde schlagartig steinhart und zuckte und pulsierte in Annas Händen. Anna masturbierte nun gleichzeitig Ben und Matteo. Während letzterer versuchte, gleichzeitig Annas Brustwarzen zu lecken und ihr eine Hand in den Schritt schob um sich zu revanchieren, warf Ben einfach genüsslich den Kopf in den Nacken und ließ Anna machen. Sie selbst keuchte nun immer lauter und streckte sich nach hinten. Matteos Hand hatte ein rasantes Tempo in ihrem Schritt aufgenommen. Sein Blick traf den von Ben. So lange Jahre waren sie nun schon Freunde, und in diesen Blick mischten sich Gefühle gleichermaßen von Scham und Erregung. Vor allen Dingen aber war da Verständnis und Vertrauen. Matteo lächelte Ben an und kniete sich dann vor seine Freundin, um sie zu lecken. Ben streifte ihre Hand, die ihren Betrieb fast vollständig eingestellt hatte, sanft ab von seinem Schwanz und brachte es selbst zu Ende. In dem Moment, wo Anna zweifellos ihren Orgasmus bekam und laut aufstöhnte, Matteo aufstand und ihr auf den Bauch spritzte, entlud sich auch Ben auf seinen Bauch.
Nachdem Matteo ein Handtuch geholt hatte und sie sich saubergemacht hatten, machte der Joint eine letzte Runde. Alle drei waren in schamvolles Schweigen verfallen. Dann lachte Anna. „Verdammt Jungs, das war verrückt“, prustete sie. Und dann, an Ben gewandt: „Übrigens, Eins zu Null für dich, Großer.“ Ben lächelte verlegen und sah an sich hinunter. „Sei nicht unfair, Schatz. Das sind doch nur ein bis zwei Zentimeter. Höchstens!“, sagte Matteo entrüstet. Diesmal war es an Ben, zu sticheln. „Na wohl er so vier bis fünf“, sagte er und Anna fügte noch „mindestens“ hinzu. „Ach, leckt mich doch“, gab Matteo schließlich auf. Darauf sagten die beiden anderen nichts mehr, obwohl ihnen die Situationskomik durchaus bewusst war. Der Ofen in der Sauna war fast erloschen und nach einer abermaligen schnellen Dusche gingen die Drei erschöpft hoch in den Schlafraum.
Kontakt II
Das grimmige rumoren in Matteos Bauch wurde immer stärker, während er umrahmt von Ben und Anna auf der Matratze lag und zwanghaft versuchte, die Krämpfe zu ignorieren. Als er genervt einsehen musste, dass der Toilettengang unvermeidlich war, streifte er Annas Hand ab, die ungemütlich druckvoll auf seiner Brust lag. Sie grunzte nur kurz und schnarchte sanft weiter. Ben lag sehr dicht an Matteo gekuschelt da und war zweifellos wach, was Matteo an dem unsteten heißen Atem an seinem Hals spüren konnte. Sein bester Freund traute sich trotz des äußerst intimen Augenblicks an diesem Abend nicht, es Anna gleichzutun und seinen Arm auf Matteos Körper zu legen. Matteo richtete sich vorsichtig auf und krabbelte vorwärts von der Matratze herunter. Er zog sich seine Boxershorts an und öffnete die Tür zum Esszimmer.
„Wo gehst du hin“, fragte Ben flüsternd. Matteo drehte sich um und lächelte. Seine weißen Zähne leuchteten im Dunkeln. Die Hütte hatte zwei Toiletten. Ein Bad war hinter einer provisorischen Holzverkleidung direkt im Schlafraum platziert, ein anderes war im Untergeschoss unweit des Ofens und der Sauna. „Zur Toilette. Könnte etwas lauter werden“, sagte er verlegen und verschwand sogleich im dunklen Esszimmer.
Während seiner etwa halbstündigen Sitzung auf der Toilette, in der sich die Magenkrämpfe nur langsam und schubweise lösten, ließ Matteo den Abend nochmal Revue passieren. Anna war schon immer vernarrt in Ben gewesen. Sie zog aus Bens offensichtlicher Zuneigung für Matteo eine Art sexueller Energie, die sich lange aufgebaut hatte und heute Abend entladen wurde. Und wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, konnte auch Matteo diese Energie nicht verleugnen. Er liebte Ben aufrichtig als seinen besten Freund. Und obwohl er wusste dass es egoistisch und besitzergreifend von ihm war, genoss er es auch über alle Maße, dass Ben ihn so begehrte. Er genoss es, dass schon freundschaftliche Berührungen eine Reaktion bei Ben auslösten. Er genoss die verlegenen und oftmals heimlichen Blicke von Ben, wenn Matteo bewusst seinen Körper zur Schau stellte. Ein bisschen schämte er sich für das, was sie Drei heute Abend gemacht hatten. Schämte sich für die enorme Erregung die es ihm versetzt hatte, als er Bens großen Schwanz in Annas zierlichen Händen pulsieren sah.
Als auch der letzte Krampf gelöst war und Matteo sicher sein konnte, dass sich in seinem Magen nichts neues zusammenbrauen konnte, betätigte er die Spülung und freute sich insgeheim schon auf die warmen Körper, die oben auf ihn warteten. Sein Körper war ausgekühlt und er hatte eine dicke Gänsehaut am Leib, als er die kleine enge Toilettenkabine verließ und die steilen Treppen hinauf zur Küche nehmen wollte. Ein langer schwarzer, diagonaler Schatten, den er aus den Augenwinkeln heraus wahrnahm, ließ ihn abrupt innehalten. Er streckte seinen Kopf um die Ecke, um die große Schiebetür zum Plateau sehen zu können, wo er den Ursprung des Schattens vermutete. An der linken Seite der Schreibe konnte er nur die Steinkacheln draußen sehen und das sich wogende Buschwerk des Waldes dahinter. Er beschloss in den Raum hineinzugehen. Und sobald er dies getan hatte, breitete sich augenblicklich eine klirrend kalte Paralyse in seinem ganzen Körper aus. Seine Beine knickten leicht in sich zusammen und sein Blick war auf die große Gestalt fokussiert, die unmittelbar hinter der Scheibe stand. Das ist ein Scherz, schlussfolgerte Matteos Verstand augenblicklich, als er der Kleidung der Gestalt gewahr wurde. Unnatürlich lang, war das Nächste was ihm in den Sinn kam. Die Gestalt stand geduckt, ansonsten hätte sie die zwei Meter hohe Glasfront deutlich überragt. Und sie starrte Matteo an, dass wusste er augenblicklich, obwohl das tiefe Schwarz des Visiers keine Rückschlüsse auf Augen zuließ. Als nächstes baute sich ein leichter Druck in Matteos Kopf auf und er begann zu halluzinieren. Er glotzte wie von einem Bannspruch belegt in die Dunkelheit des Visiers und es schien, als würde sich das Schwarz darin ausdehnen. Wie teerartiges Blut, das einem Magengeschwür oder einem Tumor vorangeht, besudelte es das Fensterglas. Es brennt sich durch das Glas, dachte Matteo verblüfft. Hinter der Gestalt erschienen mehrere große Objekte auf dem Plateau. Trotz ihrer unnatürlich verlängerten und irgendwie verdreht wirkenden Anatomie wusste Matteo direkt, dass es sich um die Kühe handelte. Ich kann die Seelenlosigkeit in ihren Augen sehen, hatte Anna gesagt und irgendwie musste Matteo in diesem schrecklichen Moment genau daran denken. Ihre glotzenden Augen waren von der Schwärze der Kreatur geflutet worden, die nun langsam ihren Kopf durch das Loch im Glas reckte und ihren Hals dabei ausdehnte wie eine Schnecke ihre langen Augenstäbe. Von den Mäulern der Kühe tropfte zähflüssiger, schwarzer Teer. An den Körpern der Tiere waren Wunden zu beobachten, tiefschwarze, gähnende Abgründe die sich im Fleisch auftaten.
Dann erlangte Matteo die Kontrolle über seinen Körper zurück. Was er fälschlicherweise für einen Bannspruch der Kreatur gehalten hatte, waren schlicht und einfach die Angst und der Horror gewesen, die in seine Glieder gefahren waren und ihn Handlungsunfähig gemacht hatten. Er drehte sich um, lief zur Treppe und stolperte und polterte ungeschickt die Stufen hinauf. Er versuchte nach Ben und Anna zu rufen, aber seine Kehle war nach wie vor wie zugeschnürt.
Ben hatte das Poltern gehört, war aufgesprungen und hatte sich T-Shirt und Unterhose übergestreift und wollte gerade nach dem Rechten sehen, als Matteo gegen den Türrahmen krachte und direkt auf Anna zulief um sie durch unsanftes Rütteln aus ihrem Schlaf zu reißen. Sie erwachte unverzüglich und hatte Probleme, das angsterfüllte Gesicht von Matteo zu fokussieren. Als es ihr doch gelang, war sie blitzschnell im Hier und Jetzt und versuchte sich zu orientieren. „Was ist los?“, fragte sie ängstlich. Ben, der wie erstarrt neben der Tür gestanden hatte fragte dasselbe. Matteo versuchte sich zu konzentrieren und Befand seinen ersten Impuls, es mit der Wahrheit zu versuchen als zu lächerlich. Er handelte impulsiv. „Mörder“, sagte er keuchend und griff sich seine Jeans vom Kleiderstapel. Er seufzte erleichtert auf, als er die Autoschlüssel daraus hervorkramte.
Anna war aufgesprungen und hatte sich Matteos Jogginghose und sein T-Shirt angezogen.
„Wir müssen schnell hier raus, kommt schon“, rief Matteo und lief voraus. Als sie die Küche passierten, langte Anna nach der Küchenschublade und hastig griff sie die zwei erstbesten Messer heraus, die ihre zitternden Finger ertasteten. Die drei hatten gerade den Balkonabschnitt erreicht, von dem aus sie zur Eingangstreppe und von dort aus weiter zur Wiese gelangten, als aus dem Untergeschoss das Glas der Schiebetür lautstark zersplitterte und augenblicklich eine Kakofonie aus umstürzenden Gegenständen einsetzte, als etwas sehr großes im Raum unten Amok lief. Ben konnte in seinen Eingeweiden spüren, wie die gesamte Hütte unter der Wut der Angreifer erzitterte und wankte. Anna entfuhr ein kurzer, greller Schrei des Entsetzens. „Was zum Teufel?“, rief Ben über den Lärm hinweg und erhaschte einen kurzen Blick auf Matteos Gesicht. Aus diesem war jede Farbe gewichen und sein ungläubiger, furchtsamer Blick verriet, dass er etwas Grauenhaftes gesehen haben musste. In Windeseile rannten sie die Anhöhe hinauf. Auf halbem Weg trat Anna in etwas Weiches, das sich warm unter ihren nackten Füßen anfühlte und viel zu Boden. Das große Küchenmesser, das sie verkrampft in Händen hielt bohrte sich in den Boden. Das kleinere, spitze Obstschälmesser hatte sich beim Fallen in ihre Seite gebohrt, war aber nicht stecken geblieben sondern hatte sie durch die Hebelwirkung aufgeschlitzt. Durch das Adrenalin in ihrem Körper spürte Anna den Schmerz zunächst nicht. Sie stand wieder auf, ließ das große Messer im Boden stecken, verschwendete keinen Gedanken mehr an das Kleine und rannte weiter. Im Laufen bemerkte sie den stechenden Schmerz an ihrem Bauch und fühlte, wie unzählige Tropfen einer heißen Flüssigkeit ihre Beine beträufelten. „Oh Fuck“, stellte sie seltsam teilnahmslos fest, als die Drei oben am Auto ankamen und sie den kurzen, tiefen Schnitt an ihrer Flanke bemerkte, aus dem unablässig Blut rann. Ben war geistesgegenwärtig genug, um sich sein Shirt abzustreifen und es Anna auf die blutende Wunde zu pressen. „Halt das fest drauf“, sagte er und half Anna auf die Rückbank. Matteo war direkt bei seiner Freundin und streichelte ihren Kopf. Er weinte und murmelte tröstende Worte. Seine Hände zitterten. Von der Hütte hörten sie ein gespenstisches Heulen, dass der Kehle von Tieren entsprang. Wie ein Brunftlaut aus der Hölle. Und etwas anderes, monströseres erwiderte den Ruf. Dieses Geräusch war so widernatürlich, dass die Paralyse sich umgehend in Matteos Extremitäten einnistete. Ben erkannte, dass sein Freund der einzige war, der das Grauen, das für diesen Schrei verantwortlich war gesehen hatte und sich nach wie vor in den Klauen der Angst befand, die er dabei empfunden haben musste. Er entwand Matteo die Autoschlüssel aus den verkrampften Händen und spürte an dem Blick seines Freundes, dass dieser sich sofort ein wenig entspannte und Ben dankbar dafür war. „Setz dich nach hinten zu Anna“, befahl Ben und öffnete die Fahrertür. Obwohl er immer ein ängstlicher Autofahrer gewesen war und auch sonst mit Drucksituationen nicht gut umgehen konnte, genügte Annas schmerzerfülltes Gesicht und die Tatsache dass sie verletzt war, ihn in dieser Situation cool reagieren zu lassen. Er wendete den Wagen präzise und bestimmt, schaute einmal den Hang zu seiner Rechten hinunter, und fuhr los.
Wurmlöcher
Als der Audi den Schuppen passiert und unter den hohen Baumkronen der Nadelbäume hinweggetaucht war, wurde es schlagartig stockfinster. Ben erschrak und merkte erst jetzt, dass er die Scheinwerfer nicht eingeschaltet hatte. Unter freiem Himmel hatten das sternenbehangene Firmament und der kräftige Mond genug Licht gespendet um auf weite Distanz sehen zu können. Er schaltete die Scheinwerfer umgehend ein und drosselte das rasante Tempo des Wagens. "Wir müssen Anna ins Krankenhaus bringen", sagte Matteo mit zittriger Stimme. "Es tut weh, aber ich glaube es geht nicht so tief wie befürchtet", presste Anna keuchend hervor und fügte dann hinzu: "Lasst uns erstmal aus dem Wald raus kommen". Ben beobachtete Matteo im Innenspiegel, wie dieser gedankenverloren und mit ungläubiger Mine aus dem Fenster stierte. "Was hast du da unten in der Hütte gesehen", wollte er wissen. Matteo schaute erst abwechselnd Anna und dann wieder Ben an. Sein hysterisches Kichern wurde durch einen Weinkrampf unterbrochen als er sagte: "Einen Astronauten".
Ben und Anna wechselten einen erstaunten Blick, als Matteo plötzlich lauthals losschrie und auf den engen Waldweg vor ihnen deutete. Er schrie Ben an: "Nicht anhalten, die gehören zu ihm", schluchzte er. Ben trat trotzdem auf die Bremse und der Audi stoppte augenblicklich. Etwa fünfzig Meter vor ihnen versperrten große schwarze Schemen den Pfad. Ben schaltete das Abblendlicht ein, worauf fünf Augenpaare das Licht darin wie Spiegel reflektierten. Anna kreischte und presste sich die freie Hand fest auf den Mund. Ben kniff angestrengt die Augen zusammen. In seinen Eingeweiden machte sich eine lähmende Kälte breit. Die Kühe, die ihnen den Weg versperrten waren anatomisch falsch, dachte Ben. Sie waren ausgemergelt und ihre Extremitäten wirkten lang und dünn im Gegensatz zu den Ballonartigen Köpfen. Sie erinnerten an gigantische Windhunde, an dessen Mäulern sich das Zahnfleisch zurückzog und so den Anblick auf grotesk große Zähne entblößte. Durch ihre enorm gestreckten Beine erreichten sie eine Schulterhöhe von ungefähr zweieinhalb Metern. Schwarzer Seifer tropfte zähflüssig die Leftzen in ihren Gesichtern herunter. "Monster", sagte Anna weinend und dann: "Sowas gibts doch gar nicht". "Da kommen wir nicht durch", stellte Ben fest und wie zur Bestätigung richteten sich zwei der Kühe zu ihrer vollen Größe auf. Wie dressierte Hunde, die einen Menschen imitieren, stellten sie sich auf die Hinterläufe und ragten plötzlich Turmhoch vor ihnen in der Dunkelheit auf. Der Anblick war zu viel für die Insassen des Autos. Schluchzend blickten sich die drei hilfesuchend um, bis Anna ängstlich aber bestimmt sagte: "Wir müssen da durch, Ben." Sie legte Ben die Hand auf die Schulter und drückte sanft zu. "Gib Gas", sagte sie. "Wir könnten auch zurück zur Hütte oder in den Wald laufen", schluchzte Ben. "Auf gar keinen Fall, Mann", sagte Matteo und griff nach dem Arm seines besten Freundes. "Gib Gas", sagte Matteo, schnappte sich Anna und lehnte sich - sie eng umschlungen haltend - im Sitz zurück. Vor ihnen wurde das Schauspiel der Kühe noch grotesker. Sie schienen gen Himmel zu wachsen, während sich ihre langen Körper anfingen spiralförmig aufzuzwirbeln. Das gequälte Geräusch, dass ihren Kehlen entsprang war Markerschütternd. Ben drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch und der Audi preschte voran. Die nunmehr Spindeldürren Beine der Tiere würden kein hinreichendes Hindernis mehr darstellen um den Pkw zu stoppen. Kurz bevor der Audi durch die Herde preschte, schloss Ben für den Bruchteil einer Sekunde die Augen. Ihm ging ein Schwindelgefühl durch den Kopf, so als würde der Audi sich überschlagend und sich um die eigene Achse drehend durch die Luft wirbeln. Vielleicht tut er das ja auch gerade, dachte er und war umso erstaunter, als er die Augen öffnete und nur den Waldweg vor sich sah. Keine Spur mehr von den Kühen. Ohne das Tempo zu drosseln fuhr er weiter. "Wir halluzinieren", sagte er verdutzt zu sich selbst und dann nochmal lautstark an die Rückbank gewandt. Als die Antwort ausblieb schaute er zuerst in den Innenspiegel und drehte sich dann erschrocken um. Matteo und Anna waren verschwunden. Auf dem Rücksitz deutete nichts mehr darauf hin, dass vor wenigen Sekunden dort noch zwei verängstigte junge Leute gesessen hatten. "Wahnsinn", brummte Ben, brachte den Wagen zum Stehen und schlug sich mehrfach mit der flachen Hand ins Gesicht. "Das ist Wahnsinn. Ich bin wahnsinnig", weinte er und spürte sogleich ein überwältigendes Gefühl des Verlusts in seinem Innersten. Er stieg aus dem Auto und wankte wie in Trance den Weg entlang, vorbei an einem Schuppen mit grün gestrichener Tür und hinauf auf eine Hügelkuppe. Als er erkannte wo er sich befand, erwachte er schlagartig aus seiner Trance, sackte kraftlos zu Boden und weinte. Er wand sich im Gras und beschwor ein Mantra herauf: "Wach jetzt auf Ben. Bitte wach jetzt auf Ben", wiederholte er immer wieder. Als die Kräfte ihn verließen und er schlapp auf dem Rücken zum Liegen kam, bemerkte er die fremdartigen Gestirne und die falsche Farbe des Nachthimmels über ihm. Das Grauen in seinem Inneren formte einen stummen Schrei, der zu diesem fremdartigen Himmel emporstieg und ungehört in dessen tiefschwarzes Nichts hineinsickerte und dort in der Unendlichkeit verebbte.
Nexus
Die Nächte waren am schlimmsten. Ben kauerte auf der Matratze im Schlafraum und glotzte apathisch in die Schwärze des Waldes. Er hatte schrecklichen Hunger und sein Magen rumorte und verzehrte sich selbst. Aber er wusste, dass dieses Gefühl enden würde, sobald ihn die Kräfte verließen, seine Augen zufielen und ihn der Schlaf übermannte. Danach war der Hunger weg. Mein Reset, so nannte Ben diesen Zustand kurz nach dem Aufwachen. Wie oft er mittlerweile resettet wurde, wusste er nicht mit Bestimmtheit. Er hatte nach einem endlosen Tag einen Strich ins Holz der Hütte geritzt, doch dieser war verschwunden, nachdem Ben wieder erwacht war. Gewiss hatte er auch versucht die Nacht durchzumachen, aber bei den unzähligen Versuchen diese Zeitschleife zu durchbrechen, konnte er sich nur an ein diffuses Gefühl der Orientierungslosigkeit in seinem Kopf erinnern. Ähnlich dem, das er hatte als seine Augen geschlossen waren und er mit durchgetretenem Gaspedal aus diesem Alptraum entkommen wollte. Als ob sich Zeit und Raum irgendwie neu formieren würden. Und der Tag begann von neuem. Mittlerweile hatte er keine Tränen mehr übrig. Die erste Zeit war brutal gewesen. Die ersten ängstlichen Ausflüge in den Wald. Als erstes probierte er nach Furtwangen zu laufen. Ungefähr an dem Punkt, wo er Matteo und Anna verloren hatte, überkam ihn das Gefühl der Orientierungslosigkeit. Und ab dem Punkt war es egal in welche Richtung er lief. Er landete immer wieder bei der Hütte. Die anfängliche Panik wich schnell einer stoischen Willenskraft, diesen Alptraum irgendwie zu beenden. Ben lief in alle Himmelsrichtungen, aber alles was er sehen durfte waren Wälder, Bäche und verlassene Schwarzwaldhäuser. Er erinnerte sich an die grässliche Angst, die er nachts alleine im Wald hatte. Er wusste, dass ihn irgendetwas hier festgesetzt hatte. Er hatte diesen Astronauten selbst als Schemen am Waldrand stehen sehen. Seitdem war er ihm allerdings nie wieder begegnet. Die grotesken Kühe waren ebenfalls verschwunden. Ben kam oft der Gedanke, dass dieses Grauen inszeniert wurde, um ihn in eine Art Falle zu treiben. Eine Treibjagd. Und er war nichtsahnend hineingetappt. Als er sich müde und abgekämpft an einem Baum herabsinken ließ in dieser schlimmen Nacht, musste er an Matteo und Anna denken. Anna war verletzt gewesen. Und Ben hatte in dieser Nacht den Wagen gefahren, der immer noch nutzlos nahe der Hütte parkte. „Wo seit ihr?“, fragte er immer wieder laut und in Gedanken. Als er im dunklen Wald einschlief, erwachte er stets nahe der Hütte. Mal am Waldeingang, mal auf der Wiese. Sogar auf dem Beifahrersitzt des Audi und einmal in der Sauna. Nach einer Weile versuchte Ben auch darin eine Art Zeichen zu sehen. Er setzte sich die fixe Idee in den Kopf, dass er von Außerirdischen entführt wurde, die seine Intelligenz erforschten, indem sie ihn Rätsel vorsetzten. Wenn dem wirklich so war, dann mussten sie enttäuscht sein, denn Ben konnte sich auf nichts was hier Geschah einen Reim machen. Die Zeit verging.
Die Nächte waren am Schlimmsten. Ben saß – in den Schein einer Kerze gehüllt – im Esszimmer und sah sich die vielen Relikte einer Zeit an, von der er für immer abgekapselt bleiben würde. Christliche Symbole. Schnapsflaschen, die irgendwo einmal abgefüllt worden waren. Holzschnitzereien, die Peter vielleicht irgendwann einmal selbst angefertigt hatte. Ein Foto von Mutter Theresa und dem Papst. Ben stakste ins Schlafzimmer und kramte ein babyblaues T-Shirt und eine graue Jogginghose hervor. Auf dem Shirt wurde ein flauschiger Teddybär von Baumwolle umschmeichelt. Der Schriftzug „Kuschelweich“ war darauf zu lesen. Er presste sich das Shirt unter die Nase. Dort, wo die Achselhöhlen waren und der Geruch von Matteo am intensivsten. Ein Hauch Axe-Deo und der schwerere, süßlich-herbe Duft darunter. Ben weinte bitterlich. Er presste sich die Jogginghose unter die Nase. Dort, im Schrittbereich roch er seinen besten Freund. Die Liebe seines Lebens. Er ließ sich auf den Boden fallen und die Einsamkeit übermannte ihn wie eine Monsterwelle und riss ihn mit sich. Er sprang auf, lief zum Küchenschrank und schnappte sich ein altes, rostfleckiges Schälmesser. Er schnitt tief in sein linkes Handgelenk und das Blut sprudelte daraus hervor. Die Einsamkeit floss endlich aus ihm heraus.
Der ewige Junge
Er erwachte auf der Steigung zur Hütte. Und diesmal war etwas anders. Oben, wo ansonsten der Audi parkte, stand ein anderes Fahrzeug. Und davor stand ein Mann mittleren Alters und schaute zur Hütte hinab. Seine Fäuste waren geballt und er zitterte. Seine dunklen Haare waren mit unzähligen grauen Sprenkeln durchzogen und auch sein Dreitagebart war grauschwarz. Trotz der vielen hinzugekommenen Falten und der neuen Fülle des Körpers erkannte Ben an den gutmütigen, grünen Augen augenblicklich Matteo. Zeitgleich bemerkte er etwas Ungewöhnliches etwa zwei Meter von Matteo entfernt auf der Anhöhe. Ein Flirren in der Luft, wie von großer Hitze verursacht. Und Matteo unmittelbar gegenüber stand der Astronaut. „Nein“, krächzte Ben und rappelte sich auf. Der Astronaut hatte sich vor Matteos Blicken verborgen, indem er ein Wurmloch zwischen sich und seiner Beute errichtet hatte. Das Wesen reckte zuerst seinen Kopf hervor, als würd es sich im Spiegel begutachten und streckte dann langsam seine langen, spinnenartigen Arme nach Matteo aus. „Nein“, schrie Ben wieder und stürmte mit einer Mischung aus Wut und Entsetzen auf die Entität zu, die ihm diese grauenvolle Existenz in einem Zeitvakuum beschert hatte.
Matteo stand auf der Anhöhe und blickte den Weg zur Hütte hinunter. Sein Körper zitterte heftig und Tränen stiegen ihm in die Augen. Zwanzig Jahre zuvor verschwand sein bester Freund Ben hier spurlos. Er und Anna wurden von einem Förster, bewusstlos und halbnackt auf dem Waldweg liegend, gefunden. Hundertschaften der Polizei suchten daraufhin nach Ben, aber erfolglos. Er blieb verschwunden. Matteos Leben geriet danach völlig aus den Fugen. Anders als Anna hatte er das Grauen nachts in dieser Hütte erblickt. Er konnte ihr keinen Vorwurf machen, dass sie sich wenige Wochen nach dem Geschehen von ihm trennte und den Worten ihres Psychologen, der eine rationale Lösung für die Dinge fand, mehr Glauben schenken wollte. Er blieb sporadisch mit ihr in Kontakt und hatte erfahren, dass sie jüngst geheiratet hatte und schwanger war. Matteo freute sich ehrlich für sie und ihr Werdegang zeigte ihm auf, dass es vielleicht auch irgendwann für ihn die kleine Hoffnung gab, dass Grauen hinter sich lassen zu können. Bis dahin isolierte er sich von Bekannten und Familienangehörigen und hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Mit seiner Sportlichkeit war es dahin. Er hatte kräftig Körpermasse zugelegt und ermahnte sich ständig, den überflüssigen Pfunden den Kampf anzusagen. Aber er konnte einfach nicht akzeptieren, dass Ben verschwunden blieb. Was war in dieser Nacht wirklich passiert da draußen auf dem Waldweg? Wo war der Audi abgeblieben? Matteo hatte nicht vor, die Nacht hier in der Hütte zu verbringen. Aber er musste an den Ort zurückkehren, der sein Leben auf so endgültige Art und Weise aus der Bahn geworfen hatte. Plötzlich wurde er nervös. Dieses Gefühl war vor einem Tag urplötzlich über ihn gekommen. Er musste zurück an den Ort des Geschehens. Es war fast so, als hätte sich jemand oder Etwas seiner Gedanken bemächtigt und ihn hierher befehligt. Das Rauschen des Windes in den hohen Tannen machte ihn jetzt nervös. Auch wenn er nichts Ungewöhnliches sehen konnte war es doch so, als würde sich ein Miasma Ringförmig von der Hütte ausbreiten. Als würde irgendetwas von ihm Besitz ergreifen wollen. Verschwinde schnell von hier, dachte Matteo. Was es auch ist, es ist etwas endgültiges, das spüre ich mit jeder Faser meines Körpers.
Kurz bevor die astartigen, behandschuhten Finger der Kreatur Matteo im Gesicht berühren konnten, warf sich Ben wie ein Rugbyspieler in die Flanke des Wesens. Der Aufprall war heftig und Mensch sowie Kreatur gingen zu Boden. Ben entwich schlagartig die Luft, als er auf einem Erdhügel aufschlug. Er rappelte sich hoch und setzte sich rittlings auf seinen Feind. Er krallte sich an dem faserigen Stoff des Raumanzugs fest und ballte eine Faust. Er visierte das gähnend schwarze Loch des Helms an und schlug zu. Seine Faust und sein kompletter Unterarm verschwanden darin. Ben kam der Gedanke, dass sich sein Arm seltsam gravitationslos anfühlt. Dann kam die Kälte. So etwas hatte er noch nie im Leben gefühlt. Eine Kälte, die sogar massiven Fels zum Bersten bringen konnte, drang in seinen Arm ein. Unter ihm sackte der Raumanzug in sich zusammen. Die Existenz, die ihm eben noch inne gewohnt hatte und eine stoffliche Schwere aufwies, war verschwunden. Sie ist in mir, dachte Ben einen schrecklichen Moment lang. Sie bewegt sich in mir.
Ben stand keuchend auf und besah sich seinen Arm. Raureif glitzerte darauf und der Arm steigerte sein Gewicht exponentiell und drückte den Menschen der daran hing zu Boden. Ben sah sich erschrocken um und blickte Matteo ins Gesicht. Dieser schüttelte den Kopf, seufzte ein: „Es tut mir leid, Ben“ und wandte sich rasch ab. Matteo hastete zum Auto, während Ben ihm hinterherstolperte. Als er ihn rufen wollte, merkte er dass die Kälte seinen Magen erreicht hatte und langsam die Luftröhre hinaufkroch. Werde ich dieses Mal tot bleiben, dachte Ben, als die Kälte sich hinter seinen Augen ausbreitete und die Regenbogenhaut seiner Iris ausradierte wie ein Gemälde, auf dass jemand einen Eimer mit weißer Farbe schleudert. Er schlug geräuschvoll auf dem Boden auf wie ein Sack der mit Eiswürfeln gefüllt war und war tot. Das Gras unter ihm erstarb durch die Kälte seines Körpers.
Epilog
Noch am selben Tag, als Matteo den Wald verlassen und sich auf den Heimweg gemacht hatte, fanden Wanderer Bens Leiche auf der Anhöhe. Sie war am Boden festgefroren. Bens überraschter Gesichtsausdruck war im Eis konserviert. Eine Obduktion zeigte, dass die Flüssigkeit aus seinen Schleimhäuten und seiner kompletten Oberfläche verdampft war und augenblicklich auf ihm festgefroren war. Mediziner standen vor einem Rätsel. Solche Erfrierungen konnten in einer Eiszeit entstehen, oder aber – untermauert mit Untersuchungen der Nasa – als Todesfolge bei Menschen, die sich ohne Raumanzug im Weltall aufhielten. Bens Tod - oder der ewige Junge, wie ihn die Gazetten nannten - wurde ein Jahrzehnte überdauerndes Phänomen, das gleichwohl von seriösen Wissenschaftlern, Verschwörungstheoretikern als auch anderen Spinnern enthusiastisch diskutiert wurde. Auch Matteo und Anna wurden Netz-Berühmtheiten, die jedoch wegen ihrer verschlossenen Art zu dem Thema bald wieder in Ruhe gelassen wurden. Matteo betete jeden Abend für seinen Freund. Und er hoffte inständig, dass auch seine Seele im Hier und Jetzt Frieden finden konnte. Aber wenn er an die kalte, gleichgültige Schwärze im Visier des Monsters dachte, kamen ihm dahingehend grässliche Zweifel …