- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Silberblick
Sie sitzt mir gegenüber in diesem kleinen Cafe, rührt mit dem Löffel ihren Kaffee um, sieht mich an mit ihren dunkelblauen Augen, deren Silberblick sich tief in meinen Kopf gräbt.
Zufällig hatten wir uns vor einer halben Stunde auf der Straße getroffen, uns sofort wieder erkannt, nach fast dreißig Jahren.
Ich lud sie zu einem Kaffee ein, wir erzählten, wie es uns ergangen ist: verheiratet beide, unsere Kinder schon groß, stellten fest, dass wir gar nicht so weit voneinander entfernt wohnen. Merkwürdig eigentlich, dass wir uns nicht schon eher über den Weg gelaufen sind.
„Sag‘ mal...“
Verlegenes Rühren im Kaffee, ihr Blick geht an mir vorbei, ins Irgendwo.
„Warum hast du mich damals eigentlich, nunja..., verlassen?“
Verlegenes Lächeln, kurzes Überlegen.
„Willst du es wirklich wissen?“
„Ja, natürlich!“
Sie war ein Jahr älter als ich, aber ein Stückchen kleiner. Ihr langes, blondes Haar war zu einem dicken Zopf geflochten, und sie schielte. Jahre später lernte ich, dass man eine Fehlstellung der Augen bei Frauen nicht als „Schielen“, sondern als „Silberblick“ bezeichnet, und dass solch ein Silberblick auf viele Männer eine starke Anziehungskraft ausübt. Den Ausdruck „Silberblick“ kannte ich damals noch nicht, aber die Wirkung ihres Silberblicks auf mich war enorm: Vera, süße kleine Vera.
Keiner meiner Spielkameraden hatte an dem Tag Zeit, und mir war langweilig. So beschloss ich, an jenem Haus am Ende unserer Straße zu klingeln, und mir die neue Nachbarin, von der mir meine Eltern erzählt hatten, anzusehen.
Einige Sekunden verstrichen, nachdem ich die Klingel gedrückt hatte, die Haustür wurde einen schmalen Spalt geöffnet, und die blauesten Augen, die ich jemals gesehen hatter, blickten mich an, leicht asynchron.
„Meine Eltern sind nicht da.“
„Kommst du spielen?“
„Nein, ich muss zuhause bleiben“.
„Soll ich reinkommen?“
„Nein, ich darf keinen reinlassen.“
„Dann komme ich morgen wieder, wenn du magst, und hole dich ab, zum Spielen!“
„Ja, ist gut“.
Ich lächelte sie an, sie lächelte zurück.
Es war das erste Mal, dass mich ein Mädchen angelächelt hatte.
Und es war das erste Mal, dass ich ein Mädchen angelächelt hatte.
Mädchen hatten mir und meinen Freunden nie etwas bedeutet – mehr noch: sie waren uns zuwider. Mädchen stellten all‘ das dar, was wir Jungs überhaupt nicht leiden konnten. Sie waren weinerlich, immer sauber gewaschen und ordentlich gekleidet. Jungs, die mit Mädchen Umgang hatten, mit ihnen spielten, sprachen, sie vielleicht sogar auf dem Schulweg begleiteten, waren für uns keine Jungs, sondern Memmen.
Am nächsten Tag wurde ich zur Memme.
In der Schule verabredeten sich meine Freunde für ein nachmittägliches Fußballspiel, diskutierten auch den Bau einer neuen Waldhütte, nahe des Fuchsbaues, an der Bahnanlage.
Mir gingen diese blauen, silberblickenden Augen nicht mehr aus dem Sinn.
„Ich kann heut‘ nicht“, sagte ich meine Teilnahme ab.
„Warum das denn nicht?“, fragte Bruno.
„Ich hab so viele Hausaufgaben auf. Und morgen die Mathearbeit...ich muss noch üben“, antwortete ich ausweichend.
„Seit wann machst du Hausaufgaben zuhause und übst für Klassenarbeiten?“, mokierten sich die anderen, angeführt von Siggi.
„Ich steh in Mathe auf Fünf!“, log ich, schon fast ein wenig verzweifelt. „Eine Fünf in Mathe im Zeugnis und mein Vater schlägt mich tot!“, setzte ich noch eine weitere Lüge drauf.
Nie hätte mein Vater mich wegen einer schlechten Note geschlagen. Aber die Lügen taten ihre Wirkung, meine Freunde akzeptierten die Gründe für meine Absage und planten den Nachmittag ohne mich.
Gegen zwei Uhr nachmittags hatte ich die Jungs aus der Nachbarschaft mit einem Ball in Richtung des Waldes radeln sehen, an dessen Rand wir uns einen eigenen Bolzplatz geschaffen hatten. In gemeinsamer Arbeit hatten wir damals kleine Bäumchen und Büsche ausgerissen, Heidekraut, Moos, Bärenfellgras und Blauschwingel gerodet und zwei Tore zusammengezimmert.
An jenem Tag sollte ich diese verschworene Gemeinschaft verraten, an ein blondes, blauäugiges Mädchen mit entzückendem Silberblick. Ich hatte das Allernötigste an Hausaufgaben erledigt und machte mich auf den Weg zu meiner Flamme.
Auf mein Klingeln öffnete dieses Mal ihre Mutter, eine große, stattliche Frau.
„Du bist bestimmt der Jörg!“, empfing sie mich lächelnd, reichte mir ihre große, warme Hand. „Vera hat mir schon erzählt, dass ihr zusammen spielen wollt.“
„Da bin ich!“, rief mein Schätzchen, das jetzt hinter ihrer Mutter
auftauchte, bekleidet mit einem roten Pulli und einer Nietenhose –
ein Mädchen in Nietenhosen: Traumhaft!
Ich zeigte ihr die Welt – meine Welt. Den Fuchsbau an der Bahnlinie mit seinen zahlreichen Aus- und Eingängen. Die Müllkippe, auf der wir Jungs herrliche Tage verbrachten. Die Kiesgrube, in deren klarem Wasser wir sommers badeten, im Frühjahr und Herbst auf selbstgebauten Flößen zwischen den drei Inseln pendelten, und im Winter über die Eisflächen schlidderten.
Die fischreichen Teiche auf den weiten Flusswiesen. Zwei unserer
selbstgebauten Waldhütten, mit selbstgezimmerten Möbeln. Nur unseren Bolzplatz, den zeigte ich ihr nicht. Hätten meine Freunde
mich zusammen mit einem Mädchen gesehen – ich wäre entehrt gewesen.
Wieder zurück in unserer Straße, holte ich meinen selbstgebastelten Bogen und einige fast gerade, selbstgeschnitzte Pfeile. Ich zeigte ihr, wie gut ich damit zu schießen wusste, erschreckte sie ein wenig, als ich vorgab, schon einmal ein Kaninchen damit erlegt zu haben.
„Und die Pfeile? Trägst du die immer in der Hand? Hast du keinen Köcher dafür?“
„Nein. Woher denn? Den müsste ich nähen und das kann ich nicht!“
„Aber ich! Welche Farbe möchtest du?“
„Ultramarinblau!“
Nicht die Farbe liebte ich wirklich, nur den Namen der Farbe.
Und Vera.
Wir verabredeten uns für den nächsten Tag, bei mir zuhause.
Am folgenden Tag, ich hatte meinen Freuden gegenüber einen dringend erforderlichen Zahnarztbesuch vorgelogen, besuchte sie mich verabredungsgemäß am frühen Nachmittag.
Kaum, dass sie in meinem Zimmer stand, überreichte sie mir strahlend ein zusammengerolltes blaues Päckchen aus Stoff. Ich wickelte es auf. Ein zucchinigrosses, schlauchförmiges Etwas, oben offen, unten geschlossen: mein Pfeilköcher. Mit einem angenähten Gurt, um ihn über der Schulter tragen zu können, so wie Winnetou. Er sah toll aus - so blau! Alle meine Pfeile passten hinein. Über die Schulter gehängt, saß er wie angegossen.
„Klasse ist der! Wirklich! Dankeschön!“ Ich freute mich riesig, und sie sich noch mehr.
Wir wurden unzertrennlich. Ich gab mir keine Mühe mehr, meinen Freunden gegenüber Ausreden zu erfinden. Sie überschütteten mich mit Spott und Häme, wurden gehässig, als sie hinter den Grund meiner Abwesenheit kamen. Es war mir egal. Sie hätten mich verprügeln können; es hätte meine Verliebtheit nur gesteigert.
Oft waren wir bei mir zuhause, spielten in meinem Zimmer mit der elektrischen Eisenbahn, bauten Legohäuser oder veranstalteten mit der Erbsenpistole Zielschießen auf meine Modellbauflugzeuge.
Im Garten ließ ich sie in meiner Schaukel bis in den Himmel fliegen, mein Gartenhäuschen verschönerte sie mit Bildern von Barry Ryan und Christian Anders, die sie aus der „Bravo“ ausgeschnitten hatte.
Waren wir bei ihr, hörten wir ihre Musik. Barry Ryan und Christian Anders. Unglaublich: Ich hörte mir freiwillig diese Schnulzen an!
Manchmal, an schulfreien Tagen, packte sie ihren Rucksack mit Marmeladenbroten: Erdbeer für mich, Pfirsich für sich. Eine Flasche Tritop-Wassergemisch, ein Getränk, dessen Geschmack ganz entfernt an den von Orangensaft erinnerte. Ich schnallte mir den Rucksack über, Bogen und Pfeile dazu, und wir gingen auf Wanderschaft. Über Feldwege und Wiesen, entlang des Flusses zum Beispiel, über die Wehrbrücke in den Nachbarort. Wir picknickten dort bei den tausendjährigen Eichen, wanderten weiter, den Fahrradweg entlang an der damals noch wenig befahrenen Straße, über die kleinen Hügel hinweg wieder Richtung Heimat, kamen erst zurück, als es schon dunkelte.
Im Winter lehrte sie mich Schlittschuhlaufen. Grazil glitt sie über die zugefrorene Kiesgrube, in der wir im vergangenen Sommer Kaulquappen und Mückenlarven gefangen hatten. Mir mangelte es an jeglichem Talent zum Eislauf, ich lag mehr auf dem Eis, als dass ich auf Kufen stand. Es war mir egal, sie freute sich, lachte - das war wichtig!
War sie einmal ein paar Tage nicht da, weil sie gemeinsam mit ihren Eltern Verwandte besuchte, oder waren wir getrennt, weil ich an Tantenbesuchen teilnehmen musste, wurde die Welt für mich grau und langweilig, so sehr hatte ich mich an sie gewöhnt. Ihr ging es ebenso.
Ein warmer, nein: ein heißer Tag im August war es. Wir tobten durch den nahegelegenen Kiefernwald. Besuchten den großen Ameisenhügel an der Waldlichtung, ärgerten die Roten Waldameisen, indem wir kleine Stöckchen, Tannennadeln und -zapfen auf ihren Bau legten, bewunderten die Emsigkeit, mit der diese Insekten die Hindernisse fortschafften. Die Ameisen bestraften uns dafür, indem sie uns an den Beinen empor unter die Kleidung krabbelten, uns dabei kitzelten und bissen.
Ich kletterte in die höchsten Kiefern, winkte ihr, die mich dabei ein wenig ängstlich beobachtete, von oben zu.
Wir fanden eine bemooste Mulde, betteten uns in dem grünen Weich, dicht an dicht, tuschelten uns Albernheiten zu, flüsterten uns Geheimnisse ins Ohr. Ich neckte sie, zog an ihrem dicken Blondzopf, sie neckte mich, zerzauste mein ohnehin recht strubbeliges Haar.
Sie küsste mich.
Auf den Mund.
Ich ließ es geschehen, mit großem Gefallen, küsste sie zurück, sah ihre dunklen, blauen Augen leuchten, ihre Wangen sich röten.
Hand in Hand gingen wir an jenem Abend aus dem Wald nach Hause, Hand in Hand: ein kleines Liebespaar.
„Wie kommst du denn mit deiner Braut zurecht?“ fragte Bruno mich am nächsten Tag in der großen Pause, und: „hast du sie schon mal geknutscht?“
„Klar“ tat ich ein wenig dicke, so, als würden Vera und ich schon seit Wochen nichts anderes tun, als uns in unserer gemeinsamen Freizeit zu küssen.
„Geknutscht? Mehr noch nicht?“ mischte sich Siggi jetzt ein, bereits zweimal sitzen geblieben, somit der Älteste und Stärkste in der Klasse, und einer der Jungs aus meiner Nachbarschaft.
„Neulich, als du am Wochenende deine Tanten besucht hast, war ich bei Vera. Keine zwei Stunden, und ich hab sie nicht nur geknutscht...!“ Leise sagte er das, mit einem hinterhältigen, gemeinen Grinsen im Gesicht.
Schlagartig spürte ich meinen Herzschlag im Hals, ich muss auf der Stelle feuerrot geworden sein:
„Was soll das heißen, nicht nur geknutscht, du....!“ schrie ich ihn an, nahm eine drohende Stellung ein, schlug ihn mit der Faust vor die Brust.
Siggi, ein Heißsporn, sprang sofort darauf an, nahm mich in den Schwitzkasten:
„Was das heißen soll? Willst du’s wissen, du Schlappschwanz?“
schrie er.
Ich boxte ihn in die Niere, trat, so kräftig ich konnte auf seinen Fuß, er schrie vor Schmerz auf, wir kamen ins Stolpern, fielen lang hin auf die grüne Pausenwiese, ich immer noch Gefangener seiner Umklammerung.
„Ich hab’s mit ihr getrieben!“ schrie er mich an, versuchte noch, dabei zu lachen, um den Schmerz, den er mir zufügte, noch zu verschlimmern, mir Nadeln unter die Nägel zu treiben.
„Das lügst du, du Schweinehund!“ schrie ich ihn an, wuchs über mich selbst hinaus, konnte mich einen Moment aus seiner Umklammerung lösen, ihn schlagen, ins Gesicht schlagen! Schon oft hatte ich mit anderen gerangelt, hatte gekämpft, manchmal geboxt, aber noch nie hatte ich jemanden ins Gesicht geschlagen!
Seine Kraft und ein deutliches Mehr an Körpergröße ließen meine Überlegenheit nur von kurzer Dauer sein, dann hatte er mich auf den Rücken gelegt, saß auf meiner Brust, bohrte seine Knie in meine Oberarme – Muskelreiten nannten wir das, eine äußerst schmerzhafte Quälerei für den Untenliegenden.
„Ich durfte ihr meinen Pimmel reinstecken – und es hat ihr gut gefallen“ schrie Siggi mir ins Gesicht. Ich konnte seinen Atem riechen, spürte seine Spucke auf meinen Wangen, hörte das Gelächter und Gejohle der Anderen, die im Kreis um uns herumstanden, uns anfeuerten, mich beleidigten...
Siggi hätte gar nicht mehr zuschlagen müssen, so weh hatte er mir bereits getan. Er drosch trotzdem auf mich ein, immer abwechselnd Ohrfeige links – Ohrfeige rechts – und noch eine – und wieder und wieder. Mein Nase bekam etwas ab, ich spürte ein leichtes Knacken, fühlte es warm über Lippen, Kinn und Hals laufen.
Der diensthabende Lehrer trennte uns, schrie auf uns beide ein, hatte Schwierigkeiten, uns voneinander zu trennen.
Dann lief ich weg. Tränen, Blut und Rotz mischten sich zum hilflosen Ausdruck meiner Enttäuschung.
Viel mehr als Siggis Tritte, Hiebe und Schläge wirkte die Erkenntnis, dass mich ein Mädchen hintergangen und betrogen hatte.
Ich wollte sie nie wiedersehen, nie wieder mit ihr sprechen. Sah ich sie auf der Strasse, lief ich vor ihr davon. Klingelte sie bei uns zuhause, ließ ich mich von meiner Mutter verleugnen.
Ein halbes Jahr später erzählte mein Vater, dass Veras Eltern sich scheiden ließen. Vera würde mit ihrer Mutter in eine andere Stadt ziehen. So kam es auch.
„Ja, so war das damals...“
Ich erzählte ihr, wie entsetzt, enttäuscht und traurig ich war, dass sie mit Siggi das getan hatte, von dem ich damals nicht zu träumen
gewagt hätte.
Stille.
Wieder ihr verschleierte Silberblick aus dunklen Blauaugen, diesmal direkt in meine. Beinahe streng ihre Frage:
„Und das hast du ihm geglaubt?“