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Silbegg

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20.09.2010
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Silbegg

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Kleinstädte haben Vor- und Nachteile. Ein Vorteil ist die Nähe zur Natur, während man dennoch alle Dinge des täglichen Bedarfs in Reichweite vorfindet. Dass man der Kleinstadt schnell überdrüssig wird, weil man vor allem als junger Mensch nach mehr sucht als nach Natur und Dingen des täglichen Bedarfs, darf als Nachteil gesehen werden.

Silbegg war eine gewöhnliche deutsche Kleinstadt. Sie hatte 12 000 Einwohner. Es gab drei Kirchen, zwei katholische und eine evangelische. So war auch das Verhältnis der Glaubensbekenntnisse unter den Einwohnern verteilt. Silbegg lag in Baden-Württemberg, dort wo der Neckar eine scharfe Biegung vollzog. Es gab einen Bahnhof mit 2 Gleisen, im Ort verteilt vier Schulen, ein Altenheim, zwei Friedhöfe, eine Bücherei. Wer das Gymnasium besuchen wollte, musste in die Nachbarstadt. Suchte man nach einem Unterschied zu einer beliebigen anderen deutschen Kleinstadt, so suchte man lange. Wenn man denn richtig suchte. Denn Silbegg trug ein finsteres Geheimnis mit sich.

Silbegg war nicht etwa anders in der Anzahl kultureller Einrichtungen, des Vorhandenseins oder Nichtvorhandenseins von Industrie, der Beschaffenheit der Bevölkerungsstruktur, des Menschenschlags oder der Anschlussmöglichkeiten zu Straße, Schiene oder Flughafen. Nichts von all dem war grundlegend anders zu anderen Orten. Doch in Silbegg schlummerte eine alte Geschichte, die nur manchmal, alle Jahre, zu Tage trat. Und wenn sie das tat, dann verschloss sich der Himmel, verdunkelten sich die Seelen und bis der Spuk vorüber war, mussten ein paar Menschen ihr Leben in Silbegg lassen. So war das seit Hunderten von Jahren. Die Einwohner Silbeggs spürten, wenn es wieder Zeit wurde. Dann blieben sie bei Dunkelheit zu Hause und mieden die Wälder. Doch der letzte Spuk war lange her, die jungen Leute in Silbegg nahmen die alten nicht ernst und selbst unter den alten Leuten gab es nur noch wenige, die sich an die letzten diesbezüglichen Begebenheiten erinnern konnten – oder wollten - und so kam es, dass niemand die folgenden Ereignisse wirklich kommen sah.

Als Bernhard mit seinem VW-Bus das Ortsschild von Silbegg passierte, wurde er von Kindheitserinnerungen geradezu übermannt. Es hatte sich fast nichts verändert in all den Jahren. Hier und da ein neuer Kreisverkehr oder ein verbreiteter Gehweg, doch die Häuser waren dieselben und jede Ecke schien Bernhard vertraut. Egal, wohin sein Blick während der Fahrt durch den Ort wanderte, überall fielen ihm Szenen längst vergangener Tage ein. Ihm fielen Gesichter ein, die seit langem vergessen schienen. In welcher Windung seines Gehirns waren diese Menschen nur all die Zeit abgespeichert gewesen? Nach über 20 Jahren Abwesenheit hatte er einige seiner früheren Bekannten schlicht vergessen.

Von anderen dagegen wusste er genau, wie sie heute aussahen. Facebook sei Dank. Das war auch der Grund, warum Bernhard zum ersten Mal seit 1993 hierher kam. Die wenigen guten Freunde von damals wohnten alle nicht mehr in Silbegg. Bernhard hatte deshalb eigentlich keinen Grund, hierher zurück zu kehren. Bis er vor vier Wochen von einem der Facebookfreunde, die wie er aus Silbegg stammten, eine Einladung erhielt. Andreas Bergmann feierte seinen 40. Geburtstag und lud jeden der früheren Freunde und Bekannten ein, hieß es auf seinem Facebookprofil. Gefeiert werden sollte an der Hütte beim alten Waldspielplatz. Früher, als sie zwischen 15 und 20 Jahre alt waren, feierten sie dort im Sommer viele Partys. Im ersten Jahr waren vielleicht 50 Leute zur Party gekommen. Im zweiten waren es schon 150 und irgendwann waren es unüberschaubar viele und längst nicht nur Jugendliche aus Silbegg. Bis die Partys ein abruptes Ende fanden mit dem überflüssigen Tod eines Mädchens, eines der ersten Ecstasy-Opfer der damals noch jungen Techno-Welle: Nicole.

Bernhard war damals 20 und er kannte Nicole von früher. Mit 15 hatte er sich in sie verliebt. Auf dem Abschlussball der Realschüler küsste er sie zum ersten und einzigen Mal. Am selben Abend noch, Bernhard war überglücklich nachhause gekommen, rief sie ihn an und teilte ihm mit, dass alles nur ein Spaß gewesen sei und sie mit einem anderen zusammen wäre. Am Tag darauf schwänzte Bernhard zum ersten Mal in seinem Leben die Schule. Er fuhr bis zum Nachbarort, dessen Gymnasium er besuchte. Dort stieg er aus und trieb sich den Vormittag über herum. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, wie sehr Liebe ihn verletzen konnte. Er hasste sie. Als Nicole 5 Jahre später auf dem Boden liegend beim Waldspielplatz zuckte, als hätte sie einen schweren epileptischen Anfall und als dann Schaum aus ihrem Mund hervortrat, da tat sie ihm unglaublich leid. Alle waren um sie herum gestanden und starrten auf sie herab. Sie hatte Bernhard in die Augen gesehen, vielleicht nur ein oder zwei Sekunden lang, bevor ihr verzweifelter Blick wieder weiter wanderte, mit dem Tode ringend, suchend nach Rettung unter gaffenden Gesichtern. Das war das erste Mal, dass Bernhard die Ohnmacht des Menschen angesichts des Todes verspürte. Nicole war gestorben, als ihr Leben erst so richtig losgehen sollte. Bernhard konnte sie niemals vergessen.

Auf dem Weg zu Bernhards eigenem 40. Geburtstag waren noch einige Weggefährten mehr gestorben, manche durch Unfälle, manche durch Krankheit. Doch keiner der Tode prägte sich so tief in sein Bewusstsein ein wie der von Nicole. Zu ihrer Beerdigung waren damals weit mehr als 500 überwiegend junge Leute gekommen. Nach ihrem Tod fand sich niemand mehr, der die Party im nächsten Jahr fortsetzen wollte. Zu tief saß der Schock über Nicoles Tod. Zudem gingen nun die meisten fort aus Silbegg, um zu studieren, zu heiraten oder weil sie woanders Arbeit fanden. Wahrscheinlich hätte auch ohne ihren Tod keine Party mehr stattgefunden. Nach den wenigen Jahren der stetigen Steigerung ließ sich kein Superlativ mehr für die Party finden. Man hatte den Zenit erreicht, die größte Party veranstaltet, die Silbegg vermutlich jemals gesehen hatte. Und Nicoles Tod gehörte vermutlich einfach dazu, weil zum Leben der Tod gehört und die Party war das Leben und die Ecstacy-Tablette der Tod. Oder irgendwie so, reimte sich Bernhard auf seiner Fahrt durch den Ort zusammen.

Einige meinten damals, dass ihr Tod mit Silbeggs Geschichte zusammen hing. Doch selbst die, die das behaupteten, konnten nicht mehr sagen, als das. Es gab zu viele unterschiedliche Gerüchte um die unheimliche Vergangenheit des Ortes, als dass die jungen Leute mit Sicherheit der einen oder anderen Version geglaubt hätten.

Bernhard hielt vor dem Hotel zum Löwen an. Das sah früher nicht so schmuck aus, dachte Bernhard.

„Ich habe ein Zimmer reserviert, für zwei Nächte. Ramon, Bernhard Ramon.“, sagte er.
„Ah, sie sind dieser Schriftsteller, stimmt’s? Jeder hier in Silbegg kennt sie, wir haben eines ihrer Bücher in unserer Hotelbibliothek. Sie sind ja ein alter Silbegger!“, sagte die Hotelangestellte. Sie war vielleicht 19, höchstens Anfang 20, schätzte Bernhard. Und hübsch. Lange blonde Haare und eine Art Trachtenkleid mit einem tiefen Dekolleté. Sie trug ein Namensschild mit der Aufschrift Katharina.
„Sie haben eine Hotelbibliothek? Das ist aber schön! Aber hören sie, ich bin eigentlich kein Schriftsteller. Ich bringe Bildbände heraus.“
„ Na, haben sie Wracktauchen im Mittelmeer geschrieben oder nicht? Ich habe übrigens alle ihre Bücher gelesen.“
„Alle beiden?“
„Schreiben sie hier über Silbegg? Das wäre ja megacool! Nicht? Ach schade! Oh, entschuldigen sie bitte, ich bin albern. Hier ihre Zimmerschlüssel, ich zeige ihnen das Zimmer.“

Bernhard bekam ein Doppelzimmer mit Blick über Silbegg. Das Hotel lag auf einer Halbhöhe am Rande der Kleinstadt. Am vorderen Fenster sah man die Stadt, nach hinten raus den Feldweg über die Wiesen und die Felder bis hin zum Waldrand. Im Wald sollte das Wiedersehen stattfinden. Es gab dort eine Lichtung, auf der eine Hütte stand und ein Spielplatz befand sich daneben. Die erste Waldparty seit 1993! Mann, krass!

In diesem Jahr 1993 war auch Bernhard, wie viele seiner damaligen Freunde, aus Silbegg weggezogen. Es lag nicht nur an Nicoles Tod. Es war einfach an der Zeit, neue Ufer zu erforschen. Bernhard war nach Hamburg gegangen. Später dann nach Berlin, dann wiederum lebte er eine Weile in New York, bevor er letztlich in Ribe, Dänemark, hängen geblieben war. Nach Jahren des schnellen Lebens in den großen Städten liebte er die weite Einsamkeit an der Nordsee. Und dass er nach Ribe, Dänemark, kam, daran hatte natürlich eine Frau Schuld. Er lebte seit 8 Jahren mit Mathilde zusammen und seit vier Jahren waren sie verheiratet. Er liebte sie sehr. Sie hatten sich in New York kennen und lieben gelernt. Und als sie ihm offenbarte, dass sie nach Ribe zurückkehrte, da kam er mit. Bildbände entwerfen konnte er auch dort, die Nordsee mochte er schon immer und vom Großstadtleben hatte er nun ebenfalls genug.


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Rund um Silbegg gab es viele Wälder. Manche von ihnen waren schon sehr alt. Die Wälder um Silbegg gehörten dazu und wie viele alte Ortschaften hatte auch Silbegg eine Geschichte zu erzählen.

Bei den meisten dieser alten Geschichten rund um einen Ort handelt es sich für gewöhnlich um ursprünglich natürliche Begebenheiten, die sich die Menschen früher nicht erklären konnten und darum sagenhafte Geschichten zu deren Entstehung erdichteten. Im Laufe der Zeit glaubten die Menschen daran, ohne die Wahrheit zu hinterfragen, bis man die Geschichten in moderneren Zeiten wieder vergaß, weil man es fortan besser wusste: Scheinbar riesige Radspuren entsprangen nicht etwa tatsächlich dem Wagen eines Riesen, sondern entpuppten sich als Überreste von Gräben und Wällen aus der Römerzeit. Findlinge wurden nicht von Elfen bewohnt, sondern waren schlicht Überbleibsel der letzten Eiszeit oder, wie vieles, schlicht eine Laune der Natur.

Eine der Versionen der Geschichten um Silbegg sagte, dass das damalige Dorf im 30-jährigen Krieg mehrmals von Soldaten heimgesucht und verwüstet wurde. Eine kleine Horde von vielleicht 20 Söldnern stach jedoch daraus hervor: Sie blieben, bewohnten die Wälder und kamen nur in den Mantel der Nacht gehüllt zum Vorschein. Und immer dann, wenn sie im Ort bei auftauchten, fehlten einige der Bürger aus Silbegg.

Im Laufe einiger Jahre hatte sich die Einwohnerzahl Silbeggs so dezimiert, dass die Bürger in ihrer Verzweiflung handelten: Die Söldner wurden gesucht, gejagt und getötet. Dann hat man sie verbrannt. Fortan gab es keine vermissten Bürger mehr.

Doch, so eben die Sage, soll man nicht alle gestellt haben, so dass zumindest noch einer oder zwei von ihnen in manchen Nächten im Wald von Silbegg umherging und wer sich zufällig und unglücklicherweise gerade dann im Wald aufhielt, wurde nicht mehr gesehen. Wann Gefahr drohte, wusste niemand so genau. Manchmal vergingen Jahre, bis wieder jemand verschwand. Aber wenn es wieder so weit war, dann spürten es die Leute und fürchteten sich.

Als Kind hatte Bernhard immer furchtbare Angst gehabt, wenn er im Wald oder auf der Wiese am Waldesrand spielte und die Dämmerung allmählich hereinbrach. Dann rannte er immer so schnell er konnte nach Hause. Als Jugendlicher ließ die Angst nie ganz von ihm ab. Jedoch ergaben Alkohol und Joints ein Übriges. Wenn er am Waldspielplatz an der Hütte auf einer der Partys war, dann war er meistens so zugedröhnt, dass er nicht einmal Angst bekommen hätte, wenn er den Leibhaftigen erblickt hätte; das glaubte Bernhard zumindest. Außerdem hätte er nie vor den andern zugeben können, dass ihm nicht ganz wohl zumute war, wenn sie nachts über den dunklen Waldweg nach Hause gegangen waren.

Bernhard ertappte sich beim Gedanken an die alte Sage, als er in seinem Hotelzimmer durch das hintere Fenster über die Felder zum Waldesrand blickte. Komisch, wie lange das alles her ist. Und trotz der Schönheit der vor ihm liegenden Wiesen und des Waldes unter strahlend blauem Himmel, so lief ihm doch ein unerklärlich kalter Schauer über den Rücken. Irgendetwas in ihm sagte ihm, er solle hier verschwinden.

Am Abend checkte Bernhard noch einmal seine E-Mails. Treffpunkt Waldspielplatz, ab 20 Uhr, 45 bestätigte Gäste, sagte Facebook. Ganz schön viele, dachte Bernhard. Wer hätte gedacht, dass das Internet so viele alte Bekannte zusammenbringen kann. Ohne das Web würde das hier doch nie stattfinden. Andererseits gaben manche User im Web Daten von sich preis, die sie im realen Leben keinem anvertrauen würden, den sie nicht persönlich kannten. Fluch und Segen, dachte Bernhard.

Er fuhr mit seinem VW-Bus bis kurz vor den Waldrand. Von da an ging er zu Fuß den Schotterweg durch den Wald bis zum Waldspielplatz. Die Musik war schon vom Weitem zu hören, Mr. Vain dröhnte durch die erstaunte Natur. Nach knapp zehn Minuten sah er die Waldeslichtung hell durch die Nacht leuchten. Es war fast 22 Uhr, Bernhard wusste, wann man auf einer Party erscheinen musste.

„Hey, ich glaub’s nicht, das ist doch der Bernie! Mensch, alter Sack! Komm her!“, gröhlte es ihm entgegen. Rythm is a dancer schallte über den Platz. Bernhard fühlte sich nach 1993 katapultiert. All die bekannten Gesichter gaben ihm den Rest. Obgleich er fast widerwillig hierher gekommen war, nicht wissend, was ihn erwartete, außer vermutlich unnütze Gespräche mit Leuten zu führen, die man besser in der Vergangenheit ließe – jetzt zauberte ihm die Stimmung ein fettes Grinsen ins Gesicht. Scheiß auf Morgen, scheiß auf alles. Bernhard fühlte sich wie befreit. Wann war er das letzte Mal auf einer so coolen Party? Wann war er überhaupt zuletzt auf einer Party mit mehr als zehn Personen? Three Little Pigs von Green Jelly löste die Disco-Sound-Runde ab und auf der Party war die Stimmung am Überkochen. Kaum zu glauben, aber hier waren zu den 45 auf Facebook geladenen Gäste geschätzte 150 Leute um die 40, die ihre gelichteten Häupter zu Metal Musik bangten. Bernhard unterhielt sich mit einigen alten Freunden und Bekannten.

Ab 1 Uhr gingen immer mehr von den Partygästen nach Hause, der Unterschied zu damals war dann auch daran erkennbar. Er saß schließlich mit Andreas, einem früheren Klassenkameraden und dem Facebookfreund, der ihn einlud und Heidi, einer alten Freundin aus Silbegg, an einem Tisch und sie unterhielten sich über alte und neue Zeiten. Dann sagte Andreas:

„Weißt du, Bernie, seit diese Leute verschwinden und dann Tage später wieder auftauchen, als wäre nichts geschehen, herrscht eine ungute Stimmung in Silbegg. Manche sagen, das hätte mit der alten Sage zu tun, du weißt doch noch, oder?“
„Die Söldner-Story?“, stieß Bernhard erstaunt hervor. Aber etwas in ihm ließ ihm die Haare zu Berge stehen. „Komm schon, Andi, das ist eine blöde alte Sage. Sagen sind im Prinzip nichts anderes als Märchen, nur dass es eine genaue Ortsangabe dazu gibt.“
„Aha!“, sagte Andreas, „und wieso? Glaubst du nicht, das hat einen Grund?“
„Wer ist denn verschwunden?“, fragte Bernhard und klang absichtlich genervt. Er sah auf die Uhr. Kurz nach zwei. So langsam wollte er auch nach Hause.
„Zehn. Aber manche kamen wieder.“
„Na, wozu dann die Panik?“, fragte Bernhard.
„Es gibt keine Panik. Aber merkwürdig ist es schon. Drei kamen total verändert zurück, völlig apathisch. Man sieht sie außerdem nicht mehr in der Öffentlichkeit. Nur wenn es dunkel wird, da gehen ihre Männer, Frauen, Söhne und Töchter oder Väter und Mütter mit ihnen Spazieren. Und zwei von ihnen sind schließlich gestorben. Warum? Keiner weiß es. Ein alter Mann von 86 Jahren. Ok, kann vielleicht sein, ganz normal. Und dann aber ein Junge, 12 Jahre alt. Kerngesund. Verschwindet, kommt zurück und spricht so viel wie eine Schaufensterpuppe und dann, Peng, stirbt er. Einfach so. Ich sag dir, hier im Ort herrscht eine ungute Stimmung. Keiner weiß, was los ist.“
„Wieso erregt das nicht mehr Aufsehen? Wieso sind keine Fernsehsender vor Ort, wenn das wirklich so außergewöhnlich ist? Warum untersucht die Polizei die Sache nicht?“, fragte Bernhard.
„Die Polizei ist an der Sache dran. Das Fernsehen ist nicht da, weil … es gibt niemanden, der bereit ist, darüber zu reden. Die Menschen hier haben Angst! Und sie wollen sich nicht der Lächerlichkeit preisgeben. Sie sind eben auch unsicher, weil niemand weiß, was genau passiert. Was sollen sie denn den Medien erzählen?“
„Alter, hör jetzt auf mit dem Scheiß! Lass uns nach Hause gehen. Mir macht das jetzt keinen Spaß mehr hier. Du hast es früher doch nicht so mit gruseligen Geschichten gehalten. Fuck it!“, sagte Bernhard, „Das alles hat sicher eine völlig normale Erklärung.“
„Du hast es damals gesehen, Bernie! Tu nicht so! Du weißt, das Böse ist in Silbegg zu Hause! Pass einfach auf dich auf, so lange du hier in Silbegg bist!“, presste Andreas durch die Lippen hindurch.

Bernie ging mit Andreas und Heidi den Waldweg entlang und über die Felder nach Hause. Den Wagen ließ er stehen, er hatte zu viel Alkohol getrunken. Joints waren auch herum gereicht worden, doch davon hielt er mittlerweile Abstand. Seinen Bus wollte er am nächsten Tag holen.

„Was hast du damals gesehen, Bernie?“, fragte Heidi, die offensichtlich gehört hatte, was nur Bernhards Ohren galt.
„Ach … ich hab bis zu diesem Augenblick, als Andreas mich daran erinnerte, nicht mehr daran gedacht. Hab’s vermutlich verdrängt. Verrückte Geschichte, aber ja, ich kann’s erzählen. Mal sehen, ob ich mich noch dran erinnere.“
„Na, dann lass mal hören!“, sagte Heidi, „Was gibt es Schöneres, als eine Gruselgeschichte auf dem nächtlichen Nachhauseweg!“

„Es war so um 1987, ich war damals 17 Jahre alt, das weiß ich noch genau. Es war ein gutes Jahr. Wir jubelten für Boris Becker, Bumbum-Boris, wisst ihr noch? Ich weiß auch noch, dass Kenny Logan den Hit „Hold me Now“ hatte, mit dem gewann er den Grand Prix. Heidi, du hast mir den Song auf Kassette aufgenommen! Und Bayern holte wie so oft den Meistertitel, damals allerdings noch mit fast nur deutschen Spielern. Na ja, jedenfalls waren gerade Sommerferien. Meine Eltern bereiteten den Urlaub vor und ich fuhr mit dem Mokick zu dir, Andreas. Als du nicht da warst, fuhr ich allein über die Felder in Richtung Wald. Ich fuhr den Schotterweg hoch zur Hütte. Oben hatte ich ein merkwürdiges Gefühl, es kam mir vor, als beobachtete mich ständig jemand. Kennt ihr das Gefühl, wenn es einem kalt den Rücken runter läuft? So fühlte es sich an. Fuck! Jetzt fällt mir alles wieder ein! Es war Mittag, die Waldlichtung hell erleuchtet. Aber zwischen den Bäumen, das war es dunkel. Ich setzte mich auf meine Yamaha DT 50 M – das waren noch die Mopeds mit den runden Scheinwerfern, Baujahr ‚79 etwa. Jaja, ich komm zur Sache. Zuerst hörte ich, wie plötzlich jemand meinen Namen flüsterte. Bernie, bleib hier!, flüsterte es. Da sah ich ihn. Er stand direkt vor mir, ein Mann in einer Art … Kostüm. Ich musste sofort an diese Sage denken, denn in der Kleidung sah er aus wie ein Söldner aus dem 30-jährigen Krieg. Er war vielleicht drei Meter von mir entfernt und ein entsetzlicher Gestank drang mir in die Nase. Er starrte mich einfach an. Ich war einen Moment starr vor Angst. Dann trat ich den Kickstart. Im gleichen Moment machte er einen Schritt auf mich zu. Beim ersten Startversuch rutschte mein Fuß ab und mein Bein schrammte über den Kickstart, der dadurch einklappte. Ich rollte rückwärts einige Meter, lenkte nach rechts an ihm vorbei, schob erst im Sitzen vom Moped aus, dann sprang ich ab und schob das Mokick im Laufen an, ließ die Kupplung kommen und der Motor heulte schrill und laut auf. Ich schaffte es wegzukommen und fuhr so schnell es ging den Schotterweg den Berg hinab durch den Wald. Im Rückspiegel sah ich einen zweiten Mann aus dem Wald auf den Weg treten, beide sahen mir mit leerem Blick hinterher. Ich hab seit damals nicht mehr daran gedacht, scheiße Mann, Andreas, vielen Dank du Arsch! Hat jemand eine Zigarette?“

„Mein Gott, das ist ja furchtbar!“, sagte Heidi. „Vielleicht waren das ja nur irgendwelche Männer … Obdachlose oder so?“
„Ich … habe das vergessen gehabt. Mit der Zeit wusste ich selbst nicht mehr, ob das wahr war oder ob mir mein Gehirn einen Streich gespielt hatte. Wer weiß. Vermutlich war es nichts. Oder es waren wirklich nur irgendwelche Typen und ich hab’s einfach mit der Panik gekriegt. Keine Ahnung. Obdachlose hätten nicht so gestunken. Das roch so süßlich faul, ich glaube, so riecht Verwesung.“


3

Heidi verabschiedete sich von Andreas und Bernhard mit Wangenküsschen und Umarmung. Bernhard war nie ihr Traumtyp gewesen, immer nur ein toller Freund, aber heute Abend hatte sie sich ein bisschen in ihn verknallt. Sie wusste, sie sollte lieber eine Nacht darüber schlafen. Aus einer Stimmung heraus wollte sie sich zu nichts verleiten lassen. Sollte es am nächsten Tag noch immer so sein, dann konnte sie ihn ja fragen, ob er vielleicht mit ihr etwas trinken gehen wollte.

Da kam Heidi eine Idee. Oh ja, das würde eine feine Überraschung werden! Als Andreas und Bernhard sich von ihr verabschiedet hatten und um die Ecke gebogen waren, steckte sie ihren Hausschlüssel wieder zurück in ihre Handtasche und ging noch mal in Richtung Feldweg. Auf dem Weg zum Stadtrand kamen ihr einige letzte Partygäste entgegen getaumelt. Es war drei Uhr. Heidi ließ das letzte Haus der Stadt hinter sich und begab sich auf den Feldweg zum Wald. Sie spürte, wie kalt es plötzlich wurde, sobald sie die schützenden Häuserwände der Stadt hinter sich gelassen hatte. Die Stadt hielt die Wärme des Tages in sich wie eine Isolierflasche heißen Kaffee, während die kalte Nachtluft sich fern der Häuser über das freie Feld legte und die Natur von der warmen und geborgenen Sicherheit der Stadt abschnitt.

Beim Gehen kam ihr Bernhards unheimliche Geschichte wieder in den Sinn. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, mitten in der Nacht ganz alleine den Feldweg entlang zu gehen? Aber sie wollte Bernhard mit einer süßen Nachricht an seinem Auto überraschen. Wenn er morgen früh oder am Mittag zu seinem Auto kommen würde, würde er einen Brief am Scheibenwischer vorfinden. Zettel und Stift hatte sie in ihrer Handtasche. Die Nacht war ruhig, Heidi hörte ihre eigenen Schritte auf dem Asphalt des Feldwegs. War da was? Heidi blieb stehen. Stille. Müssten nicht wenigstens irgendwelche scheiß Grillen zirpen oder so etwas? Irgendetwas glaubte sie aus dem Augenwinkel wahrgenommen zu haben. Ach was, dachte sie, reiß dich zusammen, Mädel! Es gibt weder Geister noch Vampire und hier bist nur du allein mit deiner albernen Angst! Nur weil es dunkel ist! Es ist hier genauso wie am Tage, da hättest du schließlich auch keine Angst. Heidi ging weiter. Nach wenigen Minuten kam sie an Bernhards VW-Bus an. Es stank hier. Irgendwie süßlich. Sie holte einen Zettel und den Stift aus ihrer Handtasche. Der Zettel war von einem kleinen Block von Amnesty International. Darauf war der Name Amnesty gedruckt und das Wort Denkzettel. Sollte Bernhard ruhig denken, dass sie sich für Menschenrechte interessierte. Dabei hatte Amnesty ihr den Block nur mit einer Werbung zugesandt. Aber sie glaubte, schaden konnte es nicht, wenn Bernhard das annahm. Auf den Zettel schrieb sie: Hallo du kleiner Grusel-Freak! Wie wär’s mit einem Glas Rotwein heute Abend? Heidi

Jetzt hatte Heidi aber ganz deutlich etwas gehört! Sie erstarrte. War das ein Atmen? Heidi blickte sich um. Nichts. Sie klemmte den Brief hinter den Scheibenwischer und drehte sich um. Fast gelähmt vor Angst ging sie los in Richtung Stadt. Sie war sich sicher, jemand war in ihrer Nähe. Nur nicht umdrehen, Süße, einfach weiter gehen. Es waren noch etwa 300 Meter bis zum Stadtrand. Sie sah die Lichter der Straßenlaternen, erinnerte sich an die Wärme der Stadt. Scheiß Idee, hier her zu gehen! Wieso muss ich auch immer so einen Blödsinn machen? Wie hatte Mutter heute früh gesagt: Geh bloß nicht allein nach Hause übers Feld! Hätte ich nur einmal auf sie gehört!

Da hörte Heidi Stimmen aus den Feldern, die wie ein Flüstern klangen. Unverständlich, aber deutlich Stimmen. Ohneinohgott, was ist das? Noch 250 Meter, dann hatte sie es geschafft, dann war sie in der Stadt, sicher, im Licht und in der Wärme. Ein Kichern rechts von ihr. Sie sah nichts. Schneller! Ihre Beine schienen wie gelähmt und obwohl sie es wollte, konnte sie nicht schneller gehen. Kein Aufsehen erregen, vielleicht fällt mich jemand erst recht an, wenn ich beginne zu laufen?

Heidi begann zu weinen. 200 Meter. Sie hörte aus einem der ersten Häuser am Stadtrand eine Klospülung gehen. Ein gutes Geräusch! Nur bis dahin kommen! Alles andere ist egal.

„Heidi!“, hörte sie ein Flüstern aus dem Feld zu ihr vordringen. „Heidi, hihihi, bleib doch da!“, sagte das Flüstern. Ich will nicht sterben! Ich will nicht sterben! Verfluchte Kacke, lass das nicht wahr sein! Mama, hilf mir, bitte!!

150 Meter. Ein Auto ließ seine Scheinwerfer zwischen zwei Häusern durchblitzen. „Heidi, komm zu uns. Bleib doch stehen. Du kleiner Grusel-Freak, du. Hihihi.“, flüsterte es. Dann wieder unverständliches Murmeln. 100 Meter. Sie war gelähmt vor Angst. Tränen liefen ihr über die Wangen, während ihre Beine diese stupiden Schritte machten, die viel zu langsam waren, um zu entkommen. „Heidi, gleich stirbst du! Hihi.“, flüsterte es. Ihr Handy fiel ihr ein! Heidi griff in die Hosentasche ihrer Jeans. Ihre Hände zitterten wie Espenlaub. 80 Meter. „Mami wird böse sein, Heidi, dass du nicht auf sie gehört hast.“ „Hihihi.“ Die Stimmen kamen jetzt von überall her. Sie sah Schatten, die sich im Restlicht der Stadt übers Feld bewegten, etwa 5 Meter rechts und links von ihr. „Sag tschüß zum Leben! Hihi.“ „Sie hat Angst.“ „Sie wird sterben.“ Wieder hörte sie ein Atmen, diesmal ganz dicht neben ihr. Etwas riss unvermittelt ihre Handtasche von ihrer Schulter. Heidi kreischte auf. Sie blieb stehen und drehte sich um. Kurz vor ihrem brutalen Tod mischte sich Überraschung in ihre Panik, als sie ihre Mörder erblickte. Nicht länger als eine Sekunde, denn dann wurde ihr der Hals aufgerissen und ihr Blut getrunken.


4

Als Bernhard seine Reisetasche gepackt hatte – er wollte einen Tag früher abreisen als geplant -, piepste sein Handy. Die Nummer war ihm nicht bekannt, also las er die SMS: „Hallo du kleiner Grusel-Freak! Ich warte heute Abend auf dich an der Hütte am Waldspielplatz. Kisses Heidi“

Bernhard klappte sein Notebook auf, steckte den Internetstick ein und schrieb Mathilde eine Email.

Dann packte er seine Sachen wieder aus. Eine Nacht, was soll’s! Der guten alten Zeiten wegen. Mit Heidi wollte er nichts anfangen, aber er genoss es doch, ein wenig begehrt zu sein. Schon auf dem Nachhauseweg von der Party dachte er, da ist was zwischen ihm und Heidi.

Er nahm sich vor, eine Flasche Wein zu besorgen und damit und mit einer warmen Decke heute Abend zu Heidi zu der Hütte im Wald zu gehen. Er erinnerte sich an einen lauen Sommerabend, als er früher schwer in Heidi verliebt gewesen war. Sie saßen gemeinsam in eine Decke gekuschelt auf dem Marktplatz, eine Flasche Wein und eine handvoll guter Gespräche dabei. Am Ende wurde es trotz Decke so kühl, dass sie eng aneinander gekuschelt da saßen, Wange an Wange, die Gespräche wurden spärlicher, die Freundschaft wurde mehr. Dieser eine Abend verband sie mehr als 20 Abende im Kino oder in einem Club oder sonst etwas. Dieser Abend war einer von Bernhards glücklichsten in seinem Leben. Heidis Wange an seiner zu spüren war besser als Sex. Es gibt nicht viele vollkommene Momente im Leben. Dieser Abend war so einer. Bernhard dachte oft daran.

Die Zeiten änderten sich, Bernhard war irgendwann nicht mehr in Heidi verliebt. Er liebte Mathilde, seine Frau. Und beste Freundin. Dennoch war er es Heidi schuldig, -dem Abend von damals schuldig -, dass er heute Abend zur Hütte kommen würde. Er würde sie nicht küssen, vielleicht wollte sie das ja. Er wollte mit ihr reden, wie damals, als man noch nicht alles als gegeben hinnahm, sondern sich die Welt versuchte zu erklären, über den Sinn des Lebens philosophierte, in die Sterne blickte und darüber rätselte, ob man wohl allein im Universum war und ob es Gott gab und wie jeder von beiden darüber dachte, nicht wissend, wohin einen das Leben noch treiben würde. Heute wollte Bernhard noch einmal der Junge von früher sein, dem Musik Lebenselixier bedeutete und der die wahre große Liebe kompromisslos mit immer währenden Schmetterlingen im Bauch gleichsetzte. Schade, dass ihm damals nicht bewusst war, wie einzigartig diese Zeit des Heranwachsens tatsächlich ist. Aber selbst, wenn ihm das klar gewesen wäre, so überlegte Bernhard, hätte es ihm nichts gebracht, denn das Wertvolle an einem Moment ergibt sich erst mit der Zeit danach. Darum versucht doch jeder ab 30 jeden Moment so zwanghaft genießen zu wollen: Man weiß irgendwann, dass die wertvollsten Momente so schnell vergehen wie Sand durch die Hände rinnt. Doch die perfekten Momente, dachte Bernhard, während er die Treppen des Hotels hinab stieg, die perfekten Momente liegen alle in unserer Vergangenheit und so sehr wir uns auch bemühen, es wird nie wieder so magisch sein wie früher.

Bernhard ging zur Rezeption: „Katharina, ich bleibe doch noch eine Nacht. Geht das?“ „Wenn sie wollen, können sie für immer hier bleiben, Herr Ramon.“ „Haha, nein, für immer bleibe ich hier sicher nicht.“

5

„Hören sie, ich sagte ihnen schon, das letzte Lebenszeichen meines Mannes ist diese Email! Ich würde nicht hier vor ihnen stehen, wenn ich nicht schon die Möglichkeit des Verlassenwerdens oder sonst eines Grundes seines Verschwindens ausgeschlossen hätte! Diese Nachricht zeugt ja wohl nicht davon, dass er sich aus dem Staub machen wollte, oder?“ Mathilde kam sich selbst hysterisch vor. Aber es war ihr egal. Seit drei Tagen hatte sie nichts mehr von Bernhard gehört. Die Email vom Samstag war die letzte Nachricht. Weder schien er über sein Handy erreichbar zu sein noch wusste jemand in Silbegg etwas zu seinem Aufenthalt zu sagen. Und die Polizei schien sich wie üblich dumm zu stellen.

„Gut, Frau Ramon, ich gebe die Email meinem Chef. Er soll entscheiden, ob wir eine Suche starten oder nicht. Ich bin auf ihrer Seite, bitte glauben sie mir. Aber jemand wie ihr Mann … und seine Gewohnheiten! Und dann möchte ich einfach keine Panik schüren. Bitte warten sie hier, ich bringe die Email meinem Vorgesetzten.“

Mein geliebte Mathilde,

heute wollte ich eigentlich zu Dir zurück fahren, ich habe nämlich größte Sehnsucht nach Dir! Wie sehr ich Dich liebe, ich kann es nicht in Worte fassen! Mein großer Schatz, mein Herz, erst jetzt, wo ich einige Tage von Dir getrennt bin, stelle ich wieder fest, wie sehr ich Dich doch liebe!

Hier in Silbegg ist es, als hätte ich mich in eine Zeitmaschine gesetzt und wäre 20 Jahre zurück gereist. Die Party im Wald war echt witzig, ich habe sogar geheadbangt (komisch, wie heißt das in der Vergangenheitsform? – und wann hast du das zuletzt gemacht?).

Jedenfalls hat mich heute Abend Heidi eingeladen, mich mit ihr an der Waldhütte zu treffen. Ich schreibe Dir das, um Dir nichts zu verschweigen. Du weißt, wer Heidi ist und wer sie für mich war. Ich verheimliche Dir nichts, damit Du aber auch sicher sein kannst, dass nichts weiter ist, als dass ich mich mit ihr treffe, eine Flasche Wein kippe und mit ihr quatsche. Ich liebe nur Dich und nur Du bist mein Herz! Ich schreibe Dir heute Nacht nach meiner Heimkehr ins Hotel eine SMS. Morgen schon sehen wir uns wieder! Wie ich mich auf Dich freue! Ich küsse Dich 1000 mal,

Dein Bernie!

P.S.: Du glaubst es nicht, aber Andreas glaubt tatsächlich an die alte Sage hier – ich wusste, dass es schadet hier zu bleiben!

„Er hat ihnen keine SMS geschrieben? Hören sie, Frau Ramon, diese Heidi aus der Email … wir nehmen an, es handelt sich dabei um eine verschwundene, 39-jährige Frau. Sie kam jedoch schon am Freitagabend nicht nach Hause. Ihre Mutter hat sie am Samstag als vermisst gemeldet. Diese Email ihres Mannes ist vom Samstag Vormittag.“

„Das könnte heißen, das der Grund, warum diese Heidi verschwunden ist, der gleiche Grund ist, der auch für das Verschwinden meines Mannes verantwortlich ist.“, sagte Mathilde.

„Um ehrlich zu sein, Frau Ramon, hier verschwinden in letzter Zeit auffällig viele Leute. Manche kommen wieder. Aber … wie soll ich sagen … anders. Einige bleiben verschwunden. Ihr Mann, ist das nicht dieser Schriftsteller? Na, von mir aus, Fotograf. Ist er das?“, sagte Bleier, der Polizeichef von Silbegg.

„Wo ist diese Hütte im Wald?“, fragte Mathilde.

In seinem Labtop war die Facebook-Seite mit Passwort gespeichert, so dass Mathilde leicht heraus finden konnte, wer alles zu der Wiedersehens-Party eingeladen war. Heidi war dabei. Und einer hatte mit Bernhard einige Nachrichten ausgetauscht: Andreas Bergmann.

Mathilde steckte das Labtop in die Tasche und hing sich diese um. Dann rannte sie die Treppen des Hotels hinunter, ging durchs Foyer an der Rezeption vorbei, nickte Katharina freundlich zu und verließ das Hotel. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und ging zurück zur Rezeption.

„Hallo Frau Ramon, haben sie noch einen Wunsch? Konnten sie ihren Mann erreichen?“, fragte Katharina höflich.
„Hören sie, kennen sie einen Andreas Bergmann?“
„Ja, das ist der Förster hier bei uns.“
„Können sie mir sagen, wo ich ihn finde?“
„Na ja, der Andreas ist meistens im Wald – ist ja sein Beruf, gell? Warten sie, wir haben hier ein Telefonbuch.“

Mathilde hatte Andreas’ Nummer herausgesucht und war auf dem Weg zu ihm. Wenn dieser Andreas hier der Förster war, vielleicht konnte er dann mit ihr in den Wald gehen und nach Bernhard und dieser Heidi suchen. Was, wenn Bernhard doch fremd ging? Nein, das würde er nicht. Oder doch?

Andreas bat sie herein.
„Möchten sie etwas trinken?“
„Nein, danke. Sie waren doch auch auf dieser Party. Hat Bernhard irgendetwas gesagt, was darauf hindeutete, wo er jetzt sein könnte?“
„Frau Ramon, die Polizei hat mich auch schon … schon gut, beruhigen sie sich. Ich weiß von dem Date mit Heidi. Er hat es mir erzählt. Er klang aufgeregt, erwähnte immer wieder, wie toll Heidi heute aussehen würde und dass er schon immer auf sie stand. Ich sagte ihm noch, er solle sich nicht so von seinen Hormonen leiten lassen, aber, Frau Ramon, ich sage das nur ungern: Bernhard war total spitz auf Heidi.“
„Das kann ich einfach nicht glauben, das hätte ich ihm einfach nie zugetraut. Er hat mir gestern noch … Wo ist diese Hütte? Bringen sie mich hin!“

Als Andreas an Bernhards Wagen am Waldrand hielt, sagte er zu Mathilde:
„Hier muss ich sie alleine lassen, ich habe noch zu tun. Bernhard wird sicher früher oder später auftauchen. Sie gehen jetzt einfach den Weg entlang, dann stoßen sie von allein auf die Hütte. Sie liegt auf einer kleinen Lichtung mit einem kleinen Spielplatz.“

Die Warterei auf der Polizeiwache, das Durchsuchen des Labtops im Hotel und der Besuch bei Andreas Bergmann hatte Mathilde viel Zeit gekostet. Es dämmerte allmählich, als Mathilde Ramon den Schotterweg durch den Wald betrat.

Nach etwa 10 Minuten erreichte sie die Waldlichtung. Hier war es wieder etwas heller als auf dem Waldweg, aber es würde keine halbe Stunde mehr dauern, bis die Dunkelheit das Tageslicht verdrängen sollte. Mathilde sah auf einem der Holztische eine Flasche Wein. Sie ging hin. Am Boden lag eine Decke. Das ist unsere! Bernhard hatte sie mitgenommen. Sie betrachtete die Weinflasche. Ein Tempranillo, der kann nur von Bernhard sein! Er liebt diesen Wein. Sie sah, dass der Wein zwar geöffnet war, aber aus der Flasche fast nichts fehlte. Merkwürdig. Wieso öffnen sie eine Flasche, trinken aber nicht daraus? Ist Bernhard womöglich etwas passiert? Vielleicht wurden sie überfallen. Mathilde schaute auf. Das Tageslicht machte der Finsternis immer mehr Platz und Mathilde wurde sich gewahr, dass sie ganz allein hier im Wald war. Sie war kein ängstlicher Typ, aber allmählich machte ihr diese Situation Sorgen. War da nicht ein Geräusch?

Dann sah sie am Rande der Lichtung den Umriss einer Gestalt. Die Gestalt hob sich kaum vom dunklen Hintergrund ab. Lass das bitte Bernhard sein! dachte sie. Sie griff in ihre Jackentasche, wo sie das Schweizer Taschenmesser spürte, dass sie vorsichtshalber mitgenommen hatte. Dass sie es vielleicht als Waffe verwenden müsste, das hätte sie nicht gedacht.
„Mathilde! Was tust du denn hier?“, sagte Bernhard.


Mathilde seufzte vor Erleichterung.
„Bernhard! Meine Güte, bin ich froh, dass ich dich endlich gefunden habe! Du glaubst nicht … ich hatte hier allmählich schon Angst.“, sagte sie.
Bernhard kam auf sie zu. Erst da bemerkte Mathilde, dass sie selbst nicht auf ihn zugegangen war. War sie noch misstrauisch, ob er es wirklich wahr?
„Bernhard?“, rief sie.
„Mathilde, du hättest nicht hierher kommen dürfen.“, sagte Bernhard.
„Oh Bernhard, lass uns hier verschwinden. Du kannst mir später alles erzählen. Ich habe die Schnauze voll von diesem Ort, diesem Wald und allem!“
„Ja. Warte. Lass uns hier hinsetzen. Ich möchte dir doch erst alles erzählen.“
„Hat das denn keine Zeit?“

Mathilde umarmte Bernhard.
„Du bist ganz kalt, Bernhard, komm, ich leg dir die Decke um. Was machst du nur hier? Wo ist denn diese Heidi?“, fragte Mathilde.

Sie saß neben Bernhard auf einer der Bänke am Tisch, auf dem die Rotweinflasche stand, die Bernhard hierher mitgenommen hatte. Er hatte die Decke um seinen Körper gewickelt und sah Mathilde lächelnd an. Mathilde runzelte die Stirn.
„Alles klar mit dir? Was war denn jetzt, Bernhard?“
„Eine verrückte Sache, Mathilde. Weißt du, Heidi ist weg. Wir saßen hier, genau so, wie wir beide jetzt saßen. Nachdem wir eine Weile miteinander gesprochen hatten, versuchte sie mich zu küssen. Ich wehrte ab …“
„Das will ich doch hoffen! Sorry, sprich weiter!“
„Ich wehrte mich, sie ließ von mir ab. Doch dann hörte ich es rascheln zwischen den Bäumen, hörte ein Flüstern. Etwas flüsterte meinen Namen.“
„Was? Das ist mir jetzt zu unheimlich, Bernhard, komm, lass uns gehen.“ Mathilde versuchte aufzustehen, aber Bernhard riss sie unsanft zurück auf die Bank. Mathilde erschrak.
„Au, das hat weh getan! Spinnst du?“, entfuhr es ihr. „Ich will hier weg, was ist nur los mit dir? Es stinkt hier außerdem ganz furchtbar. Bist du das?“

„Tut mir leid, Schatz. Heidi hat dasselbe mit mir gemacht. Ich wollte nämlich auch gehen. Wie du jetzt. Und auch ich konnte hier nicht weg.“
„Was soll das heißen … was geht hier vor? Du machst mir Angst!“
„Heidi schaffte es doch mich zu küssen, zumindest so etwas ähnliches. Darum bleibe ich jetzt hier. Und du bleibst auch hier. Wir bleiben beide hier. Für immer.“

Mathilde riss sich los. Sie sprang auf und konnte sich einige Meter von Bernhard entfernen. Der saß einfach nur weiter auf der Bank am Tisch und sah sie lächelnd an. Dann hörte sie flüsternde Stimmen sagen:
„Bleib bei uns, Mathilde! Hihi. Es ist lustig hier.“ Mathilde hob sich eine Hand vor den Mund.
„Bernhard, was ist nur mit dir?“ Dann hörte sie ein weiteres Flüstern, dass zwischen den Bäumen hervorkam.
„Mathilde! Mathilde! Heeey, Mathilde! Komm her! Spiel mit uns!“ Bernhard stand auf. „Es hat keinen Zweck wegzulaufen, Schatz“, sagte er mit ruhiger Stimme, „es ist überall. Lass es einfach geschehen, es dauert nicht lange, dann gehörst du dazu.“ „Wem auch immer du beigetreten bist, Bernhard, vergiss es, nur über meine Leiche!“ „Aber genau darum geht es ja, mein Liebling.“ Bernhard lachte laut auf.

Mathilde machte einen Haken, rannte dann den Schotterweg hinunter und schaute sich nicht mehr um. Von links und rechts hörte sie es rascheln. Etwas bewegte sich zwischen den Bäumen. Etwas, das sie aufhalten würde, würde sie stehen bleiben. Etwas, dass sie vermutlich jeden Augenblick angreifen würde.
„Hihi“, hörte sie es flüstern. „Mathilde, bleib stehen! Du stirbst gleich, hihihi.“ Mathilde rannte und rannte. Der Schotter unter ihren Füßen knirschte bei jedem Schritt und übertönte das unheimliche Flüstern aus dem Wald. Gut so, sie wollte nichts hören, wollte nur hier raus aus dem Wald. Was hier geschah – was mit Bernhard geschehen war – darüber wollte sie sich jetzt keine Gedanken machen. Er schien zu etwas Bösem geworden zu sein, zu jemand, der nicht mehr auf ihrer Seite war. Und das genügte, um allein zu flüchten und ihn zurück lassen zu können. Sie erreichte den Waldrand und rannte weiter auf den asphaltierten Weg über das Feld.
„Bleib doch, Mathilde! Du kommst sowieso nicht mehr weg hier, hihi.“ Mathilde rannte und rannte. Vor ihr erkannte sie in etwa 20 Metern Entfernung wieder den Umriss einer Gestalt. Sie rannte weiter auf ihn zu, ergriff das Schweizer Messer in ihrer Jackentasche und zog es hervor. Im Rennen öffnete sie die Klinge und nahm es so in ihre rechte Faust, dass sie gleich damit zustechen können würde. Die Gestalt entpuppte sich als Bernhard. Wie zur Hölle kann er vor mir hier sein? Mathilde täuschte rechts an und zog links an ihm vorbei. Seine ausgestreckte Hand verfehlte sie nur knapp. Dann spürte sie den Schlag seiner Hand ihren Rücken streifen. Das tat weh. Mathilde taumelte, rannte weiter. Der nächste Schlag, diesmal ein Volltreffer. Mathilde ging zu Boden. Scheiße! Sie drehte sich blitzschnell am Boden herum und sah Bernhard über sich. Sie drehte das Messer in ihrer Hand, sprang auf ihre Bein und stach zu. Niemals hätte sie gedacht, dass sie eines Tages auf den Mann, den sie mehr als ihr eigenes Leben liebte, einstechen würde. Aber das hier schien nicht mehr ihr Mann zu sein. Bernhard schaute wie verwundert auf die Einstichstelle.
„Was ist nur mit dir, Bernhard? Lass mich doch!“
„Aber Schatz, das bringt doch alles nichts, du zögerst alles nur unnötig hinaus. Ich bin doch schon tot, das weißt du doch längst, oder etwa nicht?“ Etwas ließ Bernhard von Mathilde weg und nach oben aufschauen. Mathilde sah, wie blaues Licht im Sekundentakt Bernhards Gesicht anleuchtete. Jedes Mal blickte sie dabei in ein Gesicht, dass jeden menschlichen Zug verloren hatte. Er hatte kleine schwarze Augen, statt seiner sonst so strahlend blauen. Die Haut in seinem Gesicht war aufgedunsen. Dann hörte Mathilde die Sirene, die zu dem blauen Licht gehörte. Bernhard sah Mathilde an und lächelte. „Bis gleich, mein Schatz!“ sagte er und verschwand in der Dunkelheit.

Mathilde sah sich um und sah einen Streifenwagen der Polizei heran rasen. Nie zuvor war Mathilde so froh über das Blaulicht eines Polizeiautos gewesen wie in diesem Moment. Sie ließ sich auf ihren Hintern plumpsen und stieß laut Luft aus, um ihrer Erleichterung Ausdruck zu verleihen.

Ein Polizist näherte sich ihr. Scheinwerfer erhellten die Szenerie.
„Frau Ramon? Haben sie keine Angst, jetzt sind sie in Sicherheit. Hier ist die Polizei! Mein Name ist Bleier, wir hatten heute Vormittag schon miteinander gesprochen. Kommen sie!“ Bleier legte eine Decke um Mathilde.
„Woher wussten sie …?“
„Dass sie hier sind? Wir wussten das nicht. Sie haben ihre Rettung dem einfachen Zufall zu verdanken, dass wir das Auto ihres Mannes inspizieren wollten. Wir wussten erst nicht, dass es noch immer hier stand, erst Herr Bergmann hat uns darauf aufmerksam gemacht.“
„Andreas!“
„Ja, Andreas Bergmann. Wir wollten eigentlich schon am früheren Abend raus, hatten jedoch keine Zeit. Also sind wir jetzt raus gefahren. Manne, also mein Kollege, der hat ein Nachtsichtgerät. Er hat vom Stadtrand aus erst einmal Ausschau gehalten. Da hat er sie gesehen, wie sie gerannt sind.“
„Und Bernhard? Mein Mann? Er hat mich verfolgt. Ach, da waren auch diese Stimmen. Es war schrecklich! Hat ihr Kollege gesehen, wohin mein Mann gerannt ist?“
„Nein. Frau Ramon, sie sind allein den Weg herunter gerannt.“
„Aber sie sahen doch, dass er sich eben noch über mich gebeugt hatte!“
„Tut mir leid, Frau Ramon, wir haben nur gesehen, dass sie in heller Panik zu sein schienen, da sind wir ihnen entgegen gefahren. Sie sagen, ihr Mann hat sie verfolgt?“
„Was? Ja, ich weiß nicht. Ich weiß gar nichts mehr. Er muss hier noch irgendwo sein.“
„Frau Ramon, kommen sie bitte mit uns mit, wir fahren sie ins Hotel. Dort schlafen sie sich erst einmal gut aus und morgen früh holt sie ein Kollege ab und wir sprechen über alle Einzelheiten. Einverstanden?“ Ein weiteres Fahrzeug fuhr heran. Bleier schaute dem ankommenden Auto entgegen.
„Der Bergmann!“

Andreas stieg aus.
„Frau Ramon! Gottseidank ist ihnen nichts passiert! Kommen sie, ich bringe sie zu mir nach Hause, meine Frau wird ihnen einen heißen Tee machen!“
„Würden sie das tun, Herr Bergmann?“, sagte Bleier, „Das ist sehr freundlich von ihnen. Frau Ramon, sind sie damit einverstanden, wenn Herr Bergmann sie mitnimmt? Gut, die Decke können sie erstmal behalten. Wir sehen uns morgen!“

Mathilde wusste nicht recht, wie ihr geschah. Andreas öffnete ihr die Tür hinter dem Beifahrersitz. Sie stieg bei Andreas ein und sah, wie die Polizei wendete und ohne Blaulicht wegfuhr. Andreas startete den Motor. Er fuhr los. Wieso wendete er nicht, zur Stadt geht es in die andere Richtung?
„War es sehr schlimm, Mathilde?“ fragte Andreas.
„Wieso wenden sie nicht? Sie fahren in die falsche Richtung! Hier geht es ja zum Wald zurück!“ Mathilde drückte den Türgriff. Die Kindersicherung war aktiviert, die Tür blieb verschlossen. Zwischen Rückbank und Fahrer war ein Gitter angebracht. „Was soll das, Herr Bergmann, drehen sie um!“
„Mathilde, es tut mir sehr leid. Ich muss das tun. Ich arbeite hier im Wald und es gibt hier Leute, die schon seit langer Zeit Anspruch auf dieses Gebiet erheben. Die sind länger da als ich und ich muss mich mit denen arrangieren. Bernhard und sie sollten gar nicht getötet werden. Das ist nur, weil Heidi noch mal zurück musste, nachts, allein – verrückt! Für das Fest hatte ich das Versprechen, dass niemand zu Schaden kommt. Aber Heidi ging noch mal zurück. Und dann ihr Mann. Und damit sie hier nicht weiter für Tumult sorgen, Mathilde, bringe ich sie jetzt in den Wald. Das wird ihr neues Zuhause.“

Mathilde ließ jede Anspannung in ihrem Körper los. Mit leiser, müder Stimme sagte sie: „Sie wissen, was passiert ist. Darum sagte Bernhard vorhin bis gleich?“ Mathilde drehte ihren Kopf herum und schaute, wie sich hinter ihnen die Lichter der Stadt entfernten.

 
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ARGH!

Äh, ich meine selbstverständlich: Herzlich willkommen auf KG.de! :)

Angenehm fehlerarm. Aber: wo wird's gruselig? :susp:

Hier kann man wirklich ganz kurz was zu sagen: Sehr schön, daß es mal eine kleine Spießerstadt als setting ist, so ganz normale Leute, nix verkrampft-cooles. Der Spannungsbogen ist aber defnitiv weit überdehnt, wenn das kein Auftakt zu einem Roman sein soll (oder ist?), und der blutig-grausame Hauptteil hier fehlt.

Versetz Dich einfach in den Leser - wir sind hier im Horror, und möchten etwas angenehm-klassisch Gruseliges oder etwas Grausames oder eine phantastische Überraschung. Aber dies sind 9/10 Nacherzählung (teils wirklich unwichtiger Details, die nur anfangs noch nett skurril wirken) in Berichtstil und ein bißchen Andeutungen. Und nachdem man nun denkt, das alles nur, weil am Ende der wirklich absolute Hammer kommt, der mit diesem beschaulichen Stil bricht und einen aus den Socken haut, klingt die Geschichte nach ein paar Kleinigkeiten und weiteren Andeutungen ebenso leise aus.

Hier könnte was Nettes & Neues draus werden, aber ich lege Dir dringend an Herz, ein bißchen dran zu feilen, und vor allem: weit mehr als die Hälfte zu kürzen; und sich mehr auf die Haupthandlung konzentrieren. Ich bin nicht sicher, ob dieser lapidar-flapsige Stil bei den "gruseligen/blutigen" Szenen gewollt ist, für mein Empfinden wäre es sinnvoller, wenn die Sprache hier knapp & harsch wäre. So rutscht es von berichtend-beschaulich zum Plauderton, und man hat eigentlich nicht mehr viel, was man von dieser Rubrik erwartet hatte.

Hier z.B. - wie auch im vorletzten & letzten Absatz - steckt Deine eigentliche Geschichte drin, das wird so zack zack abgehakt:

Bernhard schaute wie verwundert auf die Einstichstelle.
„Was ist nur mit dir, Bernhard? Lass mich doch!“
„Aber Schatz, das bringt doch alles nichts, du zögerst alles nur unnötig hinaus. Ich bin doch schon tot, das weißt du doch längst, oder etwa nicht?“ Etwas ließ Bernhard von Mathilde weg und nach oben aufschauen. Mathilde sah, wie blaues Licht im Sekundentakt Bernhards Gesicht anleuchtete. Jedes Mal blickte sie dabei in ein Gesicht, dass jeden menschlichen Zug verloren hatte. Er hatte kleine schwarze Augen, statt seiner sonst so strahlend blauen. Die Haut in seinem Gesicht war aufgedunsen. Dann hörte Mathilde die Sirene, die zu dem blauen Licht gehörte. Bernhard sah Mathilde an und lächelte. „Bis gleich, mein Schatz!“ sagte er und verschwand in der Dunkelheit.

Es gibt das Prinzip show don't tell - etwas wird nicht berichtet/behauptet, sondern in einer kleinen Szene, einem Bild aufgelöst. Schau Dir das am besten mal an, das würde diesem Text sehr guttun, und den Leser im Geschehen halten, mit den Figuren fiebern lassen. Oder mach Satire draus, und bring slapstick rein.
Schau auch mal nach Dialogen, die lebensnah klingen, Angst ausdrücken. Vllt in guten Horror-Anthologien. Barkers Books of Blood sind auch nicht übel hierfür.

Hoffe, Du kannst mit den Tips was anfangen.
Wünsche noch viel Erfolg, und viel Spaß beim Lesen, Schreiben und Kommentieren hier. ;)

Herzlichst,
Katla

 

Hallo Katla,

danke für Deine ausführliche Kritik an meiner Story. Dass sie so "ungruselig" ist, hätte ich jetzt nicht gedacht bzw. empfinde ich nicht so. Jedoch werde ich mir einige Deiner Anmerkungen bestimmt zu Herzen nehmen und die Geschichte nochmal überarbeiten.

Herzliche Grüße

Phil

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Phil

Eins vorweg - deine Geschichte hat mich gut unterhalten. Erzählerisches Talent ist aus meiner Sicht also durchaus vorhanden, und ich würde mich freuen, noch mehr Geschichten hier von dir zu lesen.

Mir gefällt ebenfalls die Natürlichkeit der Situation - es sind normale Leute in einem (mehr oder weniger) normalen Dorf. Eine Alltagssituation, etwas, das man kennt, mit dem man sich identifizieren kann. Da ist erstmal nichts Abgehobenes, Groteskes. Das fand ich von Beginn an sympathisch, und das war auch einer der Gründe, weshalb ich die Geschichte gerne gelesen habe.

Allerdings habe ich den Eindruck, die Geschichte ist dir an der einen oder anderen Stellle (vor allem zum Ende hin) etwas entglitten. Ich weiß nicht, wie oft du sie zwischen der ersten Version und dieser hier überarbeitet hast, aber du solltest sie dringend nochmal durchgehen und inhaltlich daran arbeiten. Zu oft verlierst du den roten Faden, zu oft machst du Nebenschauplätze auf, die nichts mit der eigentlichen Geschichte zu tun haben - so dass das eigentliche Thema, die Söldner im Wald, zu oft in den Hintergrund rücken.

Ich gebe dir mal ein paar Beispiele: Die Geschichte mit Nicole und damit auch die früheren Partys im Wald kannst du komplett streichen. Nicht nur, dass sie nicht zu der Stimmung passen, die du beim Leser erzeugen willst, sie bringen die Geschichte auch nicht voran. Hätte Nicoles Tod etwas mit den Waldbewohnern zu tun, wäre es vielleicht ein ganz guter Einfall gewesen, aber es ist ja etwas vollkommen anderes. Also warum gehst du über hunderte von Wörtern auf dieses Thema ein? Du willst doch eine andere Geschichte erzählen! Führ den Leser nicht immer wieder auf irgendwelche Trampelpfade, die dann in Sackgassen enden - halte ihn auf dem Hauptweg.

Von Beginn an versuchst du, der Stadt eine mystische, gruselige Vergangenheit zu geben. Sie wird von einem unbekannten, unheimlichen Schrecken in Atem gehalten, der alle paar Jahre mal zuschlägt. Da passt es doch nicht, dass Jugendliche ständig in diesem Wald Partys feiern, vor allem, weil sich dein eigener Protagonist ja ständig fürchtete - wenn nicht gerade Alkohol oder Drogen im Spiel waren. Gerade auf die Vorgeschichte der Stadt hättest du mehr Augenmerk legen sollen. Immer wieder machst du Andeutungen, wie bspw. hier gleich zu Beginn:

Denn Silbegg trug ein finsteres Geheimnis mit sich.

Nichts von all dem war grundlegend anders zu anderen Orten. Doch in Silbegg schlummerte eine alte Geschichte, die nur manchmal, alle Jahre, zu Tage trat.

Oder auch etwas später

Rund um Silbegg gab es viele Wälder. Manche von ihnen waren schon sehr alt. Die Wälder um Silbegg gehörten dazu und wie viele alte Ortschaften hatte auch Silbegg eine Geschichte zu erzählen.

(btw, das "Die Wälder um Silbegg gehörten dazu" kannst du dir hier sparen, da sich das "Manche" schon auf "viele Wälder rund um Silbegg" im ersten Satz bezieht.)

Es dauert eine Weile, bis du dann endlich auf diese ominöse Geschichte zu sprechen kommst, aber sie wird viel zu schnell, fast ein wenig lieblos heruntergerattert. Da hättest du dir mehr Zeit nehmen können, das Ganze ein wenig ausbauen. Sie ist auch für mich nicht wirklich schlüssig: Was hat es denn jetzt mit diesen Söldner auf sich? Warum töten sie manche Bewohner, und andere kehren wieder zurück (und sind dann stumm)? Und was ist das für eine seltsame Abmachung mit Andreas Bergmann, dass die Leute eine Nacht im Wald feiern dürfen? Warum lädt er überhaupt die ganze Gesellschaft in den Wald ein, wenns dort so gefährlich ist? Und warum schnappen sich diese Söldner dann Heidi trotz Abmachung? Und was ist sie dann, eine Untote? Etwas wie ein Vampir oder eher ein Zombie? Und warum bemerkt Bernhard das erst so spät? Und warum bringt Andreas Mathilde am Ende in den Wald? Du siehst, bei mir bleiben Fragen über Fragen offen. Genau hierauf müsstest du dein Augenmerk richten, denn das ist die eigentliche Geschichte.

Die Söldner selbst werden kaum beschrieben wenn sie auftauchen, was in Ordnung ist. Aber ihre Stimmen sind leider nicht gut gelungen. Dieses "hihi" am Ende eines jeden Satzes wirkt eher lächerlich, kindisch. Nicht gruselig.

Stilistisch / von der Rechtschreibung her lässt sich auch noch das Eine oder Andere verbessern. Manche Dinge sind dir hingegen auch schön gelungen.

Ich geh mal schnell über die Punkte, die mir so aufgefallen sind:

Silbegg war eine gewöhnliche deutsche Kleinstadt. Sie hatte 12 000 Einwohner.

Diese Beschreibungen zu Beginn würde ich im Präsens halten. Ist ein schöner Einstieg in die Geschichte, und da es die Stadt ja immer noch gibt, wäre das Präsens angebracht.

Doch in Silbegg schlummerte eine alte Geschichte, die nur manchmal, alle Jahre, zu Tage trat.

Es sind Ereignisse, die zu Tage treten, keine Geschichten.

Und Nicoles Tod gehörte vermutlich einfach dazu, weil zum Leben der Tod gehört und die Party war das Leben und die Ecstacy-Tablette der Tod. Oder irgendwie so, reimte sich Bernhard auf seiner Fahrt durch den Ort zusammen.

Lass den letzten Satz weg, der ohnehin keine Aussage hat, dann hast du einen schönen Schlusspunkt für den Absatz.

Einige meinten damals, dass ihr Tod mit Silbeggs Geschichte zusammen hing. Doch selbst die, die das behaupteten, konnten nicht mehr sagen, als das. Es gab zu viele unterschiedliche Gerüchte um die unheimliche Vergangenheit des Ortes, als dass die jungen Leute mit Sicherheit der einen oder anderen Version geglaubt hätten.

Diesen Absatz würde ich komplett streichen. Er ist recht wirr und hat absolut keine Aussage. Auf die unheimilche Geschichte bist du ja zu Beginn schon eingegangen.

Bernhard hielt vor dem Hotel zum Löwen an. Das sah früher nicht so schmuck aus, dachte Bernhard.

", dachte er", dann hast du die Wortwiederholung (zweimal Bernhard nacheinander) weg.

„Ah, sie sind dieser Schriftsteller, stimmt’s?

Wenn "Sie" als Anrede gemeint ist, immer groß schreiben.

„ Na, haben sie Wracktauchen im Mittelmeer geschrieben oder nicht? Ich habe übrigens alle ihre Bücher gelesen.“
„Alle beiden?“

:D

„Schreiben sie hier über Silbegg? Das wäre ja megacool!

Ja genau das ist noch so ein Ding. Achte doch auf die Sprache. Die reden in deiner Geschichte alle so, als wären sie immer noch 17. "Megacool", "Alter", "Fuck" etc. Ich denke, ab nem gewissen Alter hat man sich das abgewöhnt. Ich fands jedenfalls unpassend.

Und immer dann, wenn sie im Ort bei auftauchten,

Da fehlt irgendwas.

Aber wenn es wieder so weit war, dann spürten es die Leute und fürchteten sich.

und etwas später kommt:

Irgendetwas in ihm sagte ihm, er solle hier verschwinden.

Dieses "spürten es die Leute" und "irgendetwas in ihm sagte" ist mir viel zu vage. Hier musst du deutlicher werden, damit die Leser es dir abnehmen, auf diese Art machst du es dir zu einfach. Damit Gefühle für den Leser nachvollziehbar sind, müssen sie sich entweder aus dem Charakter der Person ergeben oder auf konkrete Ereignisse zurückgehen. Aber einfach nur zu sagen, "irgendetwas in ihm sagt, er soll verschwinden" ist zu einfach. Wo spürt er in diesem Moment die Gefahr? Was genau macht ihm Angst?

Andererseits gaben manche User im Web Daten von sich preis, die sie im realen Leben keinem anvertrauen würden, den sie nicht persönlich kannten. Fluch und Segen, dachte Bernhard.

Wieder ein weiterer "Nebenschauplatz". Ist doch völlig wurscht (für die Geschichte) wer was von sich im Internet preis gibt. Solche Sätze ziehen die Geschichte in die Länge, versuche so etwas beim Überarbeiten zu entfernen.

„Wieso erregt das nicht mehr Aufsehen? Wieso sind keine Fernsehsender vor Ort, wenn das wirklich so außergewöhnlich ist? Warum untersucht die Polizei die Sache nicht?“, fragte Bernhard.
„Die Polizei ist an der Sache dran. Das Fernsehen ist nicht da, weil … es gibt niemanden, der bereit ist, darüber zu reden. Die Menschen hier haben Angst! Und sie wollen sich nicht der Lächerlichkeit preisgeben. Sie sind eben auch unsicher, weil niemand weiß, was genau passiert. Was sollen sie denn den Medien erzählen?“

Ich denke, die Medien würden so etwas gnadenlos ausschlachten. Zumindest heutzutage. In Zeiten von Facebook, Twitter und Co. bleiben solche Dinge nicht mehr in einem Dorf "unter sich". Das hätte vielleicht vor 50 Jahren noch so funktioniert. Du kannst ja mal darüber nachdenken, die Geschichte etwas in die Vergangenheit zu verlagern? Ich denke, sie wäre dann realistischer.

„Du hast es damals gesehen, Bernie! Tu nicht so! Du weißt, das Böse ist in Silbegg zu Hause! Pass einfach auf dich auf, so lange du hier in Silbegg bist!“, presste Andreas durch die Lippen hindurch.

Diese Befürchtung erscheint mir sehr unglaubwürdig, war es doch gerade dieser Andreas, der sie alle in den Wald nach Silbegg geführt hat.

Ich setzte mich auf meine Yamaha DT 50 M – das waren noch die Mopeds mit den runden Scheinwerfern, Baujahr ‚79 etwa. Jaja, ich komm zur Sache.

Dein Prot. sagt es selbst - er kommt zur Sache. Bis zu der Stelle ist er aber schon über Boris Becker, den Grand Prix und die Anzahl deutscher Spieler bei Bayern München damals und heute derart oft abgeschweift, dass sämtliche Spannung verflogen ist.

Er starrte mich einfach an. Ich war einen Moment starr vor Angst. Dann trat ich den Kickstart.

Achte hier mal auf den ähnlichen Klang der Worte: "starrte", "starr" und "start".

Sie holte einen Zettel und den Stift aus ihrer Handtasche. Der Zettel war von einem kleinen Block von Amnesty International. Darauf war der Name Amnesty gedruckt und das Wort Denkzettel. Sollte Bernhard ruhig denken, dass sie sich für Menschenrechte interessierte. Dabei hatte Amnesty ihr den Block nur mit einer Werbung zugesandt. Aber sie glaubte, schaden konnte es nicht, wenn Bernhard das annahm.

Noch so ein Beispiel: Von wem der Zettel ist und wie sie an ihn gekommen ist, spielt doch keine Rolle für die Geschichte.

Und naja, in dem Stil gibts noch ein paar Punkte mehr. Ich glaub, du hast verstanden, worauf ich hinauswill.

Also um es zusammenzufassen: Ich finde das ist eine gute Idee, da kann man was herausholen, glaubhafte Kulisse, Protagonisten, in die man sich hineinversetzen kann. Ich würde dir empfehlen, nochmal über die Geschichte zu gehen, und alles zu entfernen, was nicht unmittelbar mit den Söldnern und dem Verschwinden der Menschen zu tun hat. Würde mich wirklich interessieren, wie sich die Geschichte dann liest. Und wenn du dann noch die Vergangenheit der Söldner ein wenig deutlicher schilderst und zumindest etwas Licht in die Fragen bringst, warum sie Leute entführen, was aus ihnen wird und weshalb manche zurückkommen, hast du glaub ne richtig schön gruslige Lagerfeuer-Geschichte zustande gebracht.

Wie gesagt, würde mich freuen hier nochmal von dir zu lesen.

Viele Grüße und viel Erfolg.

 

Hallo Schwups,

vielen Dank für Deine sehr konstruktive Kritik! Das hilft mir auf jeden Fall weiter und ich bin mit allen Punkten Deiner Kritik d'accord. Werde auf jeden Fall noch einmal an der Geschichte arbeiten und sie dann hier wieder vorstellen.

Viele Grüße erstmal

Phil

 

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