Sieh was du getan hast
Der Motor des Thunderbirds stöhnte auf als der Fahrer in den vierten Gang zurückschaltete und in einer langen Kurve am Transporter vorbeizog. Hier draußen kam so gut wie nie Gegenverkehr, eigentlich kam überhaupt so gut wie nie ein Auto durch die Gegend, dachte der Mann am Steuer. Zu seiner linken und rechten zogen sich Felder mit allen Arten von Getreide so weit das Auge reichte, die Strasse war lang und überschaubar, und die Highway-Polizei kümmerte sich selten um diesen Abschnitt der weiten amerikanischen Landschaft, also trat er das Pedal noch ein wenig weiter durch und beschleunigte auf 85 Meilen die Stunde. Im Rückspiegel fiel der Transporter hinter ihm zurück, aus dem Beifahrerfenster flog eine Flasche Budweiser und zerschellte schäumend auf dem Asphalt.
Der Mann seufzte schwer und wische sich in einer fahrigen Bewegung über die Augen. Er war jetzt seit 23 Stunden auf den Beinen, und langsam forderte der Schlaf seinen Tribut. Neben ihm auf dem Beifahrersitz holperte ein schwarzer Koffer als er über eine Bodenwelle fuhr. Sein Exemplar-Koffer.
Der Mann war Vertreter für Haushaltsgeräte und Kosmetika, und sein Aufgabengebiet war die weite, öde Leere Iowas.
„Und gerade jetzt könnte in dieser verfluchten Einöde gerne mal ein Motel auftauchen,“ murmelte er und lehnte sich im Sitz ein wenig weiter nach hinten. Im Radio sang ein einsamer Cowboy von seinem Mädchen, und der Mann drehte etwas lauter.
Hinter der nächsten Biegung sah er in der einsetzenden Dämmerung ein Gebäude mit einer Neonreklame. Entweder das Motel das er gesucht hatte, oder ein Imbiss. Beides käme gelegen, aber er brauchte dringend Schlaf, also hoffe er auf ein Motel. Als er dichter heranfuhr, ließ er den Wagen etwas langsamer werden und spähte angestrengt aus dem Fenster.
Volltreffer! dachte er bei sich, als er das Schild lesen konnte, welches diese Absteige als das Stundenmotel „Fairy Land“ auszeichnete.
Er sparte sich die Mühe, zu blinken, als er auf das Gelände fuhr und seinen Wagen abstellte.
In der Lobby saß ein kleiner, feminin wirkender Mann mit einem Teint, der ihn an Spanien erinnerte.
„Kann ich ihnen helfen, Sir?“ meinte der Portier höflich.
„Ja, ich bräuchte ein Zimmer für die Nacht.“
Der Latino schaute in sein Buch, durchblätterte die Seiten und meinte mit einem Ausdruck von Bedauern:
„Es tut mir leid, Sir, aber wir sind ausgebucht.“ Ein leichtes Zögern in seinem Gesicht schien ihn aufzuhalten, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle und sah den Mann mit einer Mischung aus Bedauern und... Angst? an.
Der Mann sah genauer hin. Ja, das war Angst. Man war nicht 20 Jahre lang Vertreter ohne sich eine gewisse Menschenkenntnis anzueignen, und das war eindeutig eine Mischung aus Angst und Hoffnung die er da sah.
„Hören Sie mal, um diese Zeit können sie unmöglich ausgebucht sein, irgendwo muss doch noch ein Zimmer für mich sein!“
„Naja, wir haben schon noch eines, aber...“ Schon wieder dieser Ausdruck auf dem Gesicht seines Gegenübers.
„Ist okay, ich nehme es,“ kürzte der Mann die Angelegenheit ab.
„Wo muss ich unterschreiben?“
„Sir, ich möchte ihnen raten, ein anderes Motel aufzusuchen, mit diesem Zimmer gab es schon häufiger Probleme,“ versuchte der Latino einzuwenden, aber der Mann hatte beschlossen, sich nicht länger als nötig hier aufzuhalten.
„Ich bin mir sicher, ich werde es eine Nacht lang aushalten, danke. Was gibt es denn, Ratten? Wo muss ich übrigens unterschreiben?“
Mit einem Ausdruck von ohnmächtiger Verzweiflung reichte der Portier ihm das Gästebuch und zeigte ihm die Punkte an denen er Angaben machen musste.
Mit einem zufriedenen Lächeln unterzeichnete er den Kontrakt mit seinem Namen: Howard E. Dickens.
In diesem Moment fragte der Portier ihn leise:
„Glauben Sie an Geister?“
Etwas in seiner Stimme lies Howard aufblicken. Der Ausdruck von Angst darin bewirkte ein Gefühl in ihm, dass hier etwas völlig falsch lief, und für einen Moment hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden.
„Nein, tue ich nicht!“ antwortete er abweisend, und schalt sich in Gedanken selbst einen Spinner.
Da bin ich 23, nein fast 24 Stunden auf den Beinen, korrigierte er sich selbst mit einem Blick auf die Uhr, und jetzt kriege ich Geistergeschichten erzählt. Lächerlicher geht’s ja kaum.
Der Latino an der Rezeption sah ihm die in die Augen. „Aber ich glaube an sie. Ich glaube jetzt.“
Mit dem Schlüssel in der Hand ging er durch den Korridor des Motels, und sah auf die Nummern an den Türen.
102, 103, 104, 105... 106! Da war es, und wie er erwartet hatte, sah alles perfekt normal aus. Er seufzte, und steckte den Schlüssel ins Schloss. Die Tür schwang auf.
Einen Moment war dieses Gefühl wieder da, als ob ihn jemand beobachten würde, aber genauso schnell war es auch wieder verschwunden. Ich brauche Schlaf, sagte Howard sich, und trat mit einem Kopfschütteln in den Raum ein. Drinnen sah es so aus, wie in jedem anderen Motel-Zimmer. Ein Bett, dass mit seinen Blümchenlaken und der Vibrations-Vorrichtung den billigen Charme eines Puffs versprühte, ein kleiner Tisch, ein Badezimmer (mit Badewanne, sah Howard erstaunt) und ein kleiner Schwarz-Weiß-Fernseher. Das Fenster zeigte ihm den Innenhof des Motels, und den Blick auf noch mehr Felder. Langsam wurde es allerdings so dunkel, dass er kaum noch erkennen konnte, wie die Ähren sich im leichten Wind bogen.
Der Portier fiel ihm wieder ein, aber er schüttelte den Gedanken schnell wieder ab. Im Dunkeln schien so etwas immer realer, nicht wahr?
Er legte den Exemplarkoffer auf den kleinen Tisch und legte sich aufs Bett. Im Badezimmer kratzte etwas an der Wand.
„Scheisse, nein, das sind ja wirklich Ratten!“ murmelte er, und stand auf. In dem Moment hörte er ein Platschen.
Langsam kam das Gefühl wieder. Da war jemand, beobachtete ihn, wusste von jedem Schritt den er machte, etwas Böses, Hungriges, etwas das... er schlug mit der Faust gegen die Wand und der Schmerz brachte ihn wieder zurück in die Realität.
„Du wirst noch völlig bescheuert, Junge,“ meinte er mehr zum Zimmer als zu sich und ging langsam ins Bad.
In der Badewanne lag ein Fisch.
„Heiliger Jesus und die verschissenen Propheten, wer will mich denn hier verarschen?!“
Verblüfft kniete er nieder und betrachtete den Fisch. Dieser war etwa zwei Hände lang und schlug kraftlos mit seinem Schwanz auf den Boden der Baewanne. Platsch. Platsch.
„Das gibt’s ja nicht.“ Vorsichtig nahm er den Fisch in die Hand – und lies ihn wieder fallen. Dieses Gefühl, beobachtet zu werden, war wieder da, fräste sich durch seine Knochen, von der Stelle aus, an dem seine Hand den Fisch berührt hatte!
Aufkeuchend wich er zurück und lief zur Zimmertür. Er rüttelte am Knauf, doch diese ließ sich nicht öffnen. Mit fahrigen Bewegungen kramte er nach seinem Türschlüssel, als plötzlich dieses Gefühl weg war. Einfach so, von einer Sekunde auf die andere, war er ruhig, gefasst und alles schien in bester Ordnung. Mt einem leichten Unwohlsein in der Magengegend ging Howard zurück ins Bad, und in seinem Innern wusste er bereits was er dort sehen würde. Die Badewanne war leer.
„Du brauchst Schlaf, du brauchst Schlaf, du brauchst Schlaf...“ wie ein Credo murmelte er es immer wieder vor sich hin, als er wie betäubt zurück zu seinem Bett ging, sich seine Sachen auszog und unter die Laken schlüpfte. Innerhalb von zehn Minuten war er eingedämmert.
Mitten in der Nacht wachte er plötzlich wieder auf.
Ein Gestank nach Fisch zog sich durch das Hotelzimmer.
„Shit, wenn da jetzt ein Wal drin rumliegt, geh ich mich beschweren,“ sagte er leise, aber ihm war nicht zum Lachen zumute.
Dieses Gefühl war wieder da, schlimmer als je zuvor, und er fühlte sich wie er sich als kleiner Junge gefühlt hatte, wenn er nachts im Bett lag, und halb fürchtete, halb wusste dass dieser Schatten in der Ecke kein Stapel Spiderman-Comics war, nein, es war etwas anderes, etwas unglaublich Böses, das Monster unter dem Bett, der Schwarze Mann, wie auch immer man es nennen wollte, und es war hinter ihm her, es würde ihn holen, und dann würde es schreckliche Dinge mit ihm tun. Nur dass jetzt noch eine Gewissheit dazukam, dass es nicht helfen würde, das Licht anzumachen, weil das Monster diesmal real war, und es stank nach Fisch, dieser gottverdammte Gestank!
Er merkte kaum dass seine Schritte ihn bereits zur Tür des Badezimmer geführt hatten, bis er durch den Türschlitz den Rand der Badewanne sehen konnte. Aus dem Raum pulsierte ein scheußliches, gelbliches Licht, das irgendwie mehr war als normales Licht, es kroch an ihm hoch, berührte ihn, machte ihn Wahnsinnig.
Langsam, ohne sein Zutun, schoben seine tauben Finger die Tür auf, und machten den Blick frei auf etwas, das ihm das Gefühl gab, sich übergeben zu müssen. Es saß in der Wanne, und es blickte ihn aus toten, schwarzen Augen an. Das Ding war einmal eine Frau gewesen, doch jetzt war es eine Wasserleiche, die ihn mit ihrem fürchterlichen, offenen Mund ansah, eine Brust hing leblos und bleich, verfault über den Rand der Wanne, und das Ding sah aus wie seine Mutter, das wurde ihm jetzt klar, als er da stand, das Ding ansah, und ein hohes Summer in seinem Kopf vernahm, bis er mit dumpfer Verwunderung feststellte, dass er selbst dieses Geräusch erzeugte, dass er schrie wie ein Mädchen, ein hohes, schrilles Kreischen.
Und oh mein Gott, es war seine Mutter, sie war vor 10 Jahren ins Wasser gegangen und nie mehr wieder gekommen, aber jetzt war sie hier, und sie begann in Howards Kopf zu kreischen:
„SIEH WAS DU GETAN HAST! DU SCHMUTZIGER, KLEINER BENGEL, SIEH NUR WAS DU GETAN HAST!“
Howard fühlte etwas warmes, feuchtes an seinem Hosenbein, und wusste dass er sich nass gemacht hatte, und er kreischte, kreischte noch mehr, als das Ding (seine mutter) anfing, aus der Wanne zu krabbeln, und auf ihn zukam, mit ihren toten Augen und ihrem Wasserleichen-Mund der sich nicht bewegte, aber sie schrie trotzdem, oh wie sie schrie, und es stank nach Fisch, dieser GOTTVERDAMMTE GESTANK!
„Sieh nur was du deiner Mutter angetan hast, Howi-Baby, sieh nur wie ich jetzt aussehe! Ich werde dir den Hintern versohlen müssen, du hast dich nassgemacht, morgen ist Thanksgiving und du hast dich nassgemacht, du kleiner Bastard, und SIEH WAS DU GETAN HAST!“
Er wich zurück bis er in der Mitte seines Zimmers stand und das Ding (seine mutter) fast an ihm dran war, sie streckte ihre Wasserleichenarme nach ihm aus, und er fühlte immer noch diese Stimme in seinem Kopf, die ihn wahnsinnig machte, und irgendwie war es nicht die Stimme seiner Mutter, aber das spielte keine Rolle, es war der Schwarze Mann, das Monster unter dem Bett und seine Mutter, und dieser Gestank, oh wenn doch dieser Gestank aufhören würde, mach das Licht an, Klein-Howie, aber das wird nichts nützen, denn dieses Mal ist es real und es wird dich kriegen!
In diesem Moment stießen seine Knöchel gegen etwas hartes und er wurde sich bewusst dass es sein Exemplarkoffer war. Er griff zu, doch der Koffer schien Tonnen zu wiegen, er würde ihn nicht anheben können, und das war das Ding/seine Mutter, und es/sie berührte ihn, der Wasserleichenarm kroch langsam an seinem Bein hoch, und der kalte, tote, offenen Wasserleichen-Mund kam näher, und Howard wusste was es/sie wollte, es/sie wollte ihn mit ins Wasser ziehen, er würde ertrinken und dann würde er auf immer mit ihr gefangen sein, Hölle ist Wiederholung, plus ça change, plus c’est la même chose.
Er kreischte und schlug ihr den Koffer ins Gesicht. Der schwere, metallverstärkte Rahmen krachte wuchtig in das bleiche, verfaulte Gesicht seiner Mutter und riss einen Fetzen Haut ab, der wie ein toter Fisch auf den Boden plumpste, und Howard dachte dass dieses Geräusch ihn wahnsinnig machen müsste.
Er holte noch einmal aus, doch diesesmal riss ihm das Ding mit einer ungeheuren Kraft den Koffer aus der Hand und schleuderte ihn aus dem Fenster. Das Glas zerbrach in tausend Stücke und Howard konnte hören wie diese auf den Boden des Innenhofen fielen, aber das war ein Geräusch aus einer anderen Welt. Jetzt zählte nur das hier und jetzt, und dieser Gestank nach Fisch und Tod und der See, und seine Mutter die auf ihn zuwankte, von ihrer Wange fehlte jetzt ein gutes Stück, und sie kreischte wieder in seinem Kopf, seine Knochen vibrierten und seine Augen schmerzten, aber sie hörte nicht auf!
„Du hast deiner Mutter weh getan, Howard, du bist ein böser Bastard, aber Mommie hat dich lieb, komm mit, komm mit mir, du hast dich nassgemacht, du hast deine Frau betrogen, du böser kleiner Bastard, aber Mommie hat dich lieb, und SIEH WAS DU GETAN HAST!“
Howard kreischte immer noch, und er wankte nach hinter, Tränen liefen ihm über das Gesicht, seine Nase lief, und vor ihm kreischte der Wasserleichenmund seinen Namen, und diese nasse, klebrige Haut, von der sich Fetzen ablösten, tastete nach ihm, als er mit dem Rücken gegen die Wand stieß.
Dann war seine Mutter ganz dich an ihm, und sie strich ihm über das Gesicht, und er war ekelhaft, es war die pure Widerlegung all dessen was schön war, und es war das konzentrierte Grauen, aber gleichzeitig war es auch angenehm, er wurde geliebt, und seine Mommie war wieder da, und er hatte sich nassgemacht, sicher, aber Mommie würde das wieder hinkriegen, sie kriegte alles wieder hin. Es roch noch nach Fisch, aber da war mehr, da war der Geruch nach der See, und Howard fühlte plötzlich ein starkes Fernweh, er sehnte sich danach, die Wellen zu spüren, nicht nur unter sich, nein. Über sich musste er die Wellen spüren, wie sie zusammenschlugen, und dann die wunderbare Stille des Meeres, das Gefühl, wenn man versank, Wasser atmete, und alles schwarz wurde. Er lächelte sie an, und auch wenn der tote Wasserleichenmund weit aufgerissen blieb, als schnappe sie noch immer nach Luft, hatte er das Gefühl dass seine Mommie zurück lächelte.
In dem Moment bohrte sich ein Glassplitter in seine Hand und der Schmerz lies ihn wieder klar werden. Plötzlich stieß er sich mit aller Kraft von dem Ding ab, und fiel rückwärts durchs Fenster. Ein Glassplitter riss ihm schmerzhaft den Oberschenkel auf, aber der Schmerz war wunderbar, der Schmerz war ehrlich, und er fiel und schlug hart mit dem Kopf auf, und das letzte was er sah, bevor er in eine tiefe Ohnmacht versank, war des gelbliche, pulsierende Licht dass aus seinem Hotelzimmer kam.
Er wurde noch einmal wieder wach, und sah den Portier über sich stehen. Der Ausdruck auf dem Gesicht des Latinos war bekümmert, traurig.
„Jetzt glauben sie an Geister, nicht wahr, Sir? Jetzt glauben sie auch.“
Howard versuchte zu Nicken, aber er versank wieder im Dunkel.
Heute, zehn Jahre später lebt Howard in einem kleinen Apartment in der Stadt. Er lebt allein, weil es keine Frau mit ihm aushält. Er schläft wieder mit Licht, er ist zum Bettnässer geworden, und Nachts wacht er auf und schreit, ohne zu wissen warum. Er hat immer wieder den gleichen Albtraum, aber er weiss nicht, welchen, weil er ihn immer wieder vergisst. Er weiss nichts mehr davon, was in jener Nacht im „Fairy Land“-Motel passiert ist, aber er hat noch heute Angst vor dem Meer, und er kann keinen Fisch mehr essen. Einmal hat er es probiert, er ist schreiend aus dem Lokal gelaufen, weil etwas in ihm eine panische Angst hat, er könnte eine Stimme hören, die in seinem Kopf kreischt:
„JETZT SIEH NUR WAS DU GETAN HAST!“