Was ist neu

Sieben Jahre

Mitglied
Beitritt
14.12.2013
Beiträge
4
Zuletzt bearbeitet:

Sieben Jahre

Es war bereits dunkel, als sie in die zugewucherte Einfahrt bog. Früher einmal war Deephill Manor ein herrschaftlicher Landsitz gewesen. Nun war er umgeben von unbeschnittenen Tannen und hochgewachsenem Gras. Die Natur holt sich früher oder später alles zurück, schoss es ihr durch den Kopf als sie die vertrauten Umrisse des alten Familienbesitzes durch den grauen Nebelschleier betrachtete.

Ein letztes Mal wollte sie Deephill Manor betrachten, sich nur noch ein Mal von seiner früheren Schönheit blenden lassen. Aus dem angrenzenden Waldstück schrie eine Eule. Es war ein einsamer Laut zwischen den zirpenden Zikaden und dem Rascheln der Pflanzen im Wind. Vor nicht einmal fünfzehn Jahren wurden in diesem Garten noch Picknicks und Feste veranstaltet. Sie erinnerte sich, wie sie einmal mit ihrer Großmutter im Schatten einer großen Tanne gesessen hatte. Stundenlang hatten sie kein Wort gesprochen, nur den Geräuschen der Umgebung gelauscht. Wahrscheinlich hätten sie bis spät in die Nacht dort gesessen, wenn ihr Großvater sie nicht zum Essen gerufen hätte. Deephill Manor war schon immer schön gewesen und selbst der seit dem Tod ihrer Großeltern eingetretene Verfall hatte dem keinen Abbruch getan.

Nachdenklich ließ sie sich ins Gras fallen und sah hinauf in den Himmel. Sie spürte die eiskalte Hand, die sich um ihr Herz gelegt hatte. Zum letzten Mal würde sie den Sternenhimmel über Deephill Manor betrachten. Nichts hatte sie auf diesen Moment des Abschieds vorbereiten können. Hier war sie daheim gewesen. Zwar hatte sie immer nur die Ferien auf dem Landsitz verbracht, aber nirgends fühlte sie sich so zu Hause. Erinnerungen an vergangene Tage brachen über sie herein und sie ließ sie gewähren. Ein Frühstück auf der Terrasse an einem sonnigen Tag im Mai, die Vielfalt der Farben im Oktober, ein blutüberströmtes Kind auf der Straße vor dem Haus im Februar. Tränen liefen ihr über die Wangen als sie an den schicksalhaften Tag dachte.

Ein einziger Augenblick der Unachtsamkeit hatte ein kleines Mädchen das Leben gekostet. Immer wieder hörte sie das Geräusch des Aufpralls auf der Motorhaube, hatte den unverkennbaren Geruch von Blut in der Nase. Kein Psychiater konnte ihr die Schuld nehmen, die sie auf ihren Schultern trug. Sie hatte das Leben eines Kindes auf dem Gewissen, daran würden auch die, wie sie vom Gericht betitelt wurden, mildernden Umstände nichts ändern. Sieben Jahre war das nun her, auf den Tag genau sieben Jahre. Aus ihrer Hosentasche holte sie den Zeitungsartikel, der sie Tag für Tag begleitete, um ihr ins Gewissen zu rufen, was für eine schreckliche Tat sie begangen hatte. Sieben Jahre Schmerz hatte sie sich aufgebürdet, sieben Jahre lang hatte sie Buße getan. Nun war ihre Zeit um. Einer ihrer Psychiater hatte ihr dazu geraten, sie solle solange den Schmerz zulassen, bis dieser Zeitraum der Lebenszeit des kleinen Mädchens entsprach. Danach solle sie loslassen. So hatte er es gesagt.

Sieben Jahre waren vergangen und kein Tag war darunter, an dem sie den erstickenden Druck der Schuld nicht spürte. Jetzt war es an der Zeit loszulassen. Mit einem letzten Blick auf Deephil Manor nahm sie den Revolver aus ihrer Handtasche, setzte ihn an ihre Schläfe und drückte ab. Nur der einsame Ruf einer Eule hallte als Echo des Schusses aus dem Wald zurück.

 

Hallo Surrogat

Und Herzlich Willkommen hier im Forum!

Ein Frühstück auf der Terrasse an einem sonnigen Tag im Mai, die Vielfalt der Farben im Oktober, ein blutüberströmtes Kind auf der Straße vor dem Haus im Februar.

Ich mag diesen Satz, diesen Wechsel vom Idyllischen ins Schreckliche. Die Struktur dieses Satzes entspricht auch der Struktur deiner gesamten Geschichte. Du beschreibst zunächst die Gefühle deiner Protagonistin beim Anblick des großelterlichen Anwesens, da schwingt viel Sentimentalität und Nostalgie mit. Das sind bekannte Gefühle, die viele auch nachempfinden können, und denen man entsprechend oft in der Literatur begegnet.

In deiner Geschichte ist es aber nicht der Lauf der Zeit und eine diffuse Erinnerung an frühere, vermeintlich schönere Tage, die diese Gefühle auslösen, sondern es war einst ein schrecklicher Unfall, der die Idylle damals für immer zerstörte. Und deine Protagonistin hängt jetzt dieser Zeit vor dem Unfall hinterher, möchte ihn ungeschehen machen und leidet seitdem unter dem Druck, einen Menschen getötet zu haben.

Eigentlich geht es in deinem Text vor allem um Stimmungen. In der ersten Hälfte möchtest du dem Leser diese frühen Tage näher bringen, was eigentlich das Schöne daran war und weshalb es sich lohnt, sich wieder daran zu erinnern. Da suchst du dir in deinem Debüt-Text gleich ein schwieriges Thema aus, man verfällt dann oft in Standardformulierungen und mehr oder weniger austauschbare Bilder. Das machst du auch, schau mal diese Stelle beispielsweise:

Vor nicht einmal fünfzehn Jahren wurden in diesem Garten noch Picknicks und Feste veranstaltet. Sie erinnerte sich, wie sie einmal mit ihrer Großmutter im Schatten einer großen Tanne gesessen hatte. Stundenlang hatten sie kein Wort gesprochen, nur den Geräuschen der Umgebung gelauscht. Wahrscheinlich hätten sie bis spät in die Nacht dort gesessen, wenn ihr Großvater sie nicht zum Essen gerufen hätte.

Der Text ist da ziemlich ungenau - Picknicks, Feste, Geräusche der Umgebung - ich fände es schöner, wenn du anhand eines konkreten Erlebnisses zeigen könntest, wie schön das damals war. So bringst du den Leser zwar irgendwie dazu zu nicken und zu sagen, ja, so Feste mit den Großeltern, das ist schon eine schöne Sache, aber mehr, weil der Leser vielleicht an seine eigenen Erlebnisse zurückdenkt. Mit der Großmutter stundenlang schweigend unter einem Baum zu sitzen - ich weiß nicht, macht das wirklich jemand? Es gibt ja so Schlüsselerlebnisse, an die man gerne zurückdenkt, ich fände es schön, wenn du uns da eines davon szenisch beschreiben könntest. Vielleicht eines, in dem mehr passiert, als stundenlang unter einem Baum zu sitzen.

Auch der zweite Teil, der Unfall, die Schuld - das ist schon tragisch, aber richtig nah kommt es an mich nicht ran, weil es halt auch sehr allgemein gehalten ist. Den Ratschlag des Psychologen, das finde ich noch eine schöne Idee, aber da hat der Text auch mal was Individuelles, etwas Eigenes. Solche Stellen hier:

Sieben Jahre Schmerz hatte sie sich aufgebürdet, sieben Jahre lang hatte sie Buße getan.

Was bedeutet das genau? Hatte sie sieben Jahre lang Schlafstörungen? Ist sie jeden Tag in die Kirche und hat stundenlang gebetet? Hat sie seitdem panische Angst vor Straßen und Autos? Etwas Konkretes, das fehlt mir an dem Text, in beiden Teilen eben, am Beginn und am Ende. Solche Schilderungen finde ich persönlich immer interessanter, als wenn man mit den Formulierungen lediglich an der Oberfläche bleibt.

Vom Stil her fand ich den Text flüssig. Es fehlen immer mal wieder Kommas, wenn du Nebensätze mit "als" einleitest, aber im Groß und Ganzen ist das in Ordnung. Was mir aufgefallen ist:

Ein letztes Mal wollte sie Deephill Manor betrachten, sich nur noch ein Mal von seiner früheren Schönheit blenden lassen.

Das finde ich schräg formuliert - kann man sich von einer "früheren Schönheit" blenden lassen? "blenden" scheint mir hier auch das falsche Wort zu sein, geht es doch eher um eine Erinnerung.

Deephill Manor war schon immer schön gewesen und selbst der seit dem Tod ihrer Großeltern eingetretene Verfall hatte dem keinen Abbruch getan.

hatte ... keinen Abbruch getan - das ist eine ziemlich technische Formulierung, passt irgendwie nicht zu der idyllischen Stimmung, die du in diesem Teil erzeugen möchtest.

Nachdenklich lies sie sich ins Gras fallen und sah hinauf in den Himmel.

ließ

Ein einziger Augenblick der Unachtsamkeit hatte einem kleinen Mädchen das Leben gekostet.

... hatte ein kleines Mädchen das Leben gekostet

hatte den unverkennbaren Geruch von Blut in der Nase.

unverkennbar ist hier überflüssig, finde ich.

Insgesamt, Surrogat, ist das ein ordentliches Debüt, das meiner Meinung nach noch ein oder zwei konkrete Szenen vertragen könnte, um die Geschichte individueller zu machen und die Protagonistin mitsamt ihren Gefühlen dem Leser näher zu bringen.

Viel Spaß hier im Forum, beim Lesen, Schreiben und Kommentieren
Schwups

 

Hallo Schwups,

danke schonmal für die nette Begrüßung.

Was du beschreibst, waren zum Großteil auch Punkte, über die ich auch schon gestolpert bin, aber anscheinend ist wohl meine ganze Kreativität dem Text an sich zum Opfer gefallen, so dass mir da einfach irgendwie nichts passendes mehr eingefallen ist.

Mit "ließ" habe ich immer so meine Probleme, da schleicht sich oft das s ein, aber irgendwann merke ich mir das hoffentlich endlich. ;)

Freut mich natürlich, nicht nur negative, sondern auch positive Kritik für die Geschichte zu bekommen, dann lohnt sich wenigstens das Überarbeiten. :)

Lieben Gruß,
Surrogat

 
  • Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:
Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:

Liebe Surrogat,

auch ich finde den Text handwerklich solide. Inhaltlich schön, plötzlich elegant ins Traurige verkehrt, zum Ende leider enttäuschend. Suizidenden sind problematisch, und das sage ich im Bewusstsein, dass ich auch mal eine solche Geschichte geschrieben hatte. Nicht nur, weil sich dem Autor so ein Ende so schön easy aufdrängt bei einer Geschichte, die von einem Schicksal handelt. Mit Suizidenden sollte man schon aus dem Grund vorsichtig sein, dass es Nachahmer geben könnte, denen diese Geschichte gefällt und denen diese Geschichte ein tröstliches, tragischerweise einleuchtendes Ende gibt.

Hast du nach alternativen Enden gesucht? Was wäre, wenn sie den Artikel in einen nahegelegenden Bach wirft und dabei nur ein hohes »Hm« von sich gibt?

Wenn du das Ende in Ordnung findest, dazu stehst, denn du hast es dir wohl überlegt: Dann sag ich nichts dagegen.

 

Hallo Surrogat,

Deine Geschichte lebt von ihrer überraschenden Wendung.
Eine Frau fährt ein Kind tot, ihr Psychologe sagt, sie müsse den Schmerz sieben Jahre zulassen,
sie lässt ihn zu, nach den sieben Jahren allerdings kommt sie nicht etwa in eine Form der Normalität zurück, sondern sie erschießt sich.

In Deiner Geschichte ist Substanz, sie ist für mich aber so dicht, so konzentriert, dass ich sie wie eine Zusammenfassung empfinde.
Ich hätte diese Geschichte gern mit umfassenderen Einblicken in die innere Welt Deiner Protagonistin gelesen, hier reicht mir die eiskalte Hand nicht, die sich um ihr Herz gelegt hatte, auch der erstickende Druck der Schuld könnte sich aus dem Text heraus entwickeln.

Mir gefällt Dein flüssiger und sauberer Stil.
Mit gefällt die Idee Deiner Geschichte.
Ich würde diese Geschichte gern auf vier bis fünf Seiten lesen.
Ich freue mich auf weitere Geschichten von Dir.

 
  • Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:
Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:

Hallo floritiv,

tatsächlich muss ich zugeben, dass mir ein Suizid als Ende der Geschichte wirklich "einfach" vorkam und dass ich mich nicht unbedingt um ein alternatives Ende bemüht habe. Eine Überlegung wert wäre es aber durchaus, wobei ich dann auch einiges anderes Verändern würde, weil für mich der Suizid eine Art "Steigerung" war. Ich habe ehrlich gesagt auch nie darüber nachgedacht, dass es potentielle Nachahmer geben könnte, aber auf jeden Fall eine Sache, die ich im Hinterkopf behalten werde, vielen Dank! :)


Lieber Svenson,

es freut mich, dass dir meine Geschichte gefallen hat. :)
Eine "Verlängerung" hatte ich bisher gar nicht im Sinn, werde ich aber, wenn die Zeit da ist, mal in Angriff nehmen.
Vielen Dank für die Blumen. ;)

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom