- Beitritt
- 08.11.2001
- Beiträge
- 2.833
Sieben Jahre Unschuld
Sieben Jahre Unschuld
Sieben Jahre Unschuld, sieben Jahre Schuld.
Sieben Jahre alt zu sein ist nicht schwieriger, als andere Zeiten im Leben. Aber wenn man sieben ist, dann erscheint es so.
Vielleicht war es auch dieser Sommer, der mich verändert hat. Der Leben zur Herausforderung machte, mehr als das sonst etwas zwischen meinem Himmel und meiner Erde bisher vermocht hat.
Martin war genau sieben Jahre älter, als ich. Und so sehr uns diese sieben Jahre Zeit meines Lebens getrennt hatten, so sehr schienen sie uns in dieser Zeit zu verbinden. Er war damals genauso alt, wie ich heute. Mathematik hat also auch zwischenmenschliche Bedeutung. Oder man bildet sie sich zumindest ein.
Seine Veränderungen sind mir damals schon aufgefallen. Aber ich war um Jahre zu jung, um sie zu verstehen. Dass er mich öfter mal mitgenommen hat, das hat mich damals interessiert. Und verwundert. Aber eigentlich war ich viel zu glücklich darüber, um es in Frage zu stellen. Anstatt mit seinen Freunden um die Häuserecke zu verschwinden, wollte er allein sein, in meiner Begleitung.
Vor diesem Sommer hatte er mich nicht sehen wollen. "Der Pimpf", sagte er abfällig, "soll mit seinen Windeln spielen gehen." Und dann, auf einmal, saßen wir nebeneinander im Baumhaus und starrten stille Löcher in die Sommerluft. Was sollte ich da sein, als glücklich?
Er war ruhiger geworden, mit Sicherheit. Und nicht mehr so aufbrausend, wie früher. Und er schien sich zu freuen, dass ich mit ihm dasaß. Einfach nur dasitzen. Das, was er wollte. Aber ich durfte dabei sein.
Ich bin froh, dass ich bei ihm war, in diesem Sommer. Auch, wenn ich mir nicht verzeihen kann, dass ich nichts getan habe. Der Tag, an dem ich ihn dabei erwischte, hat sich in mich eingebrannt. Als ich noch einmal zurückging und ihn mit der Kerze und dem Löffel ertappte. Erst dachte ich, er würde wieder nur zündeln. Aber dann sah ich die Spritze neben ihm liegen.
"Ich hab das im Griff", presste er zwischen den Zähnen heraus, ohne dass ich ihn gefragt hätte. "Verschwinde und halt die Klappe!" Die Drohung, die diesen Satz begleitete, musste er nicht aussprechen. Ich erstarrte unter seinen Augen, in denen sich die Flamme spiegelte. Ich habe niemals ein Wort über diesen Tag verloren. Aus Angst, meinen Bruder zu verraten. Aus Angst vor seinem Zorn.
Von diesem Moment an sprach er nicht mehr mit mir. In diesem Sommer war er so alt, wie ich es heute bin. Damals hatte er eine Zukunft, die er jetzt schon hinter sich hat.
"Es hat ja niemand ahnen können", höre ich meine Eltern sagen, als sie davon erfuhren. Als es zu spät war. "Hätten wir doch nur..." Aber ich habe nicht. Und ich kann es ihnen nicht sagen. Nicht einmal jetzt, wo alles vorbei ist. "Depressionen" wurde diagnostiziert. Und daraus hätte sich das alles dann ergeben. Aber ich weiß nicht, ob das eine Entschuldigung sein soll, oder ob es jemanden beruhigt. Mich macht es wütend, auch, wenn ich nicht ausmachen kann, wieso.
"Es war ein Unfall", sagt jemand, und legt mir die Hand auf die Schulter. Aber ich weiß es besser. Ich weiß, dass ich es all die Jahre wusste. Mit mir trage ich sieben Jahre Schuld. Und es werden sieben Jahre der Trauer folgen, bevor ich so alt bin, wie er geworden ist. Mathematik hat keine zwischenmenschliche Bedeutung.
Sieben Jahre Unschuld, sieben Jahre Schuld.