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Sieben Jahre Unschuld

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08.11.2001
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Sieben Jahre Unschuld

Sieben Jahre Unschuld

Sieben Jahre Unschuld, sieben Jahre Schuld.

Sieben Jahre alt zu sein ist nicht schwieriger, als andere Zeiten im Leben. Aber wenn man sieben ist, dann erscheint es so.
Vielleicht war es auch dieser Sommer, der mich verändert hat. Der Leben zur Herausforderung machte, mehr als das sonst etwas zwischen meinem Himmel und meiner Erde bisher vermocht hat.

Martin war genau sieben Jahre älter, als ich. Und so sehr uns diese sieben Jahre Zeit meines Lebens getrennt hatten, so sehr schienen sie uns in dieser Zeit zu verbinden. Er war damals genauso alt, wie ich heute. Mathematik hat also auch zwischenmenschliche Bedeutung. Oder man bildet sie sich zumindest ein.

Seine Veränderungen sind mir damals schon aufgefallen. Aber ich war um Jahre zu jung, um sie zu verstehen. Dass er mich öfter mal mitgenommen hat, das hat mich damals interessiert. Und verwundert. Aber eigentlich war ich viel zu glücklich darüber, um es in Frage zu stellen. Anstatt mit seinen Freunden um die Häuserecke zu verschwinden, wollte er allein sein, in meiner Begleitung.
Vor diesem Sommer hatte er mich nicht sehen wollen. "Der Pimpf", sagte er abfällig, "soll mit seinen Windeln spielen gehen." Und dann, auf einmal, saßen wir nebeneinander im Baumhaus und starrten stille Löcher in die Sommerluft. Was sollte ich da sein, als glücklich?
Er war ruhiger geworden, mit Sicherheit. Und nicht mehr so aufbrausend, wie früher. Und er schien sich zu freuen, dass ich mit ihm dasaß. Einfach nur dasitzen. Das, was er wollte. Aber ich durfte dabei sein.
Ich bin froh, dass ich bei ihm war, in diesem Sommer. Auch, wenn ich mir nicht verzeihen kann, dass ich nichts getan habe. Der Tag, an dem ich ihn dabei erwischte, hat sich in mich eingebrannt. Als ich noch einmal zurückging und ihn mit der Kerze und dem Löffel ertappte. Erst dachte ich, er würde wieder nur zündeln. Aber dann sah ich die Spritze neben ihm liegen.
"Ich hab das im Griff", presste er zwischen den Zähnen heraus, ohne dass ich ihn gefragt hätte. "Verschwinde und halt die Klappe!" Die Drohung, die diesen Satz begleitete, musste er nicht aussprechen. Ich erstarrte unter seinen Augen, in denen sich die Flamme spiegelte. Ich habe niemals ein Wort über diesen Tag verloren. Aus Angst, meinen Bruder zu verraten. Aus Angst vor seinem Zorn.

Von diesem Moment an sprach er nicht mehr mit mir. In diesem Sommer war er so alt, wie ich es heute bin. Damals hatte er eine Zukunft, die er jetzt schon hinter sich hat.
"Es hat ja niemand ahnen können", höre ich meine Eltern sagen, als sie davon erfuhren. Als es zu spät war. "Hätten wir doch nur..." Aber ich habe nicht. Und ich kann es ihnen nicht sagen. Nicht einmal jetzt, wo alles vorbei ist. "Depressionen" wurde diagnostiziert. Und daraus hätte sich das alles dann ergeben. Aber ich weiß nicht, ob das eine Entschuldigung sein soll, oder ob es jemanden beruhigt. Mich macht es wütend, auch, wenn ich nicht ausmachen kann, wieso.
"Es war ein Unfall", sagt jemand, und legt mir die Hand auf die Schulter. Aber ich weiß es besser. Ich weiß, dass ich es all die Jahre wusste. Mit mir trage ich sieben Jahre Schuld. Und es werden sieben Jahre der Trauer folgen, bevor ich so alt bin, wie er geworden ist. Mathematik hat keine zwischenmenschliche Bedeutung.

Sieben Jahre Unschuld, sieben Jahre Schuld.

 

Hallo arc en ciel,

eine geschickt aufgebaute Geschichte ist Dir (wieder einmal) gelungen: Die kurzen Sätze, die Andeutungen, stellen gut das Grübeln des Protagonisten dar. Es wird immer deutlicher, dass er von Selbstvorwürfen geplagt ist, langsam, mit Andeutungen beginnend, wird der Leser in das Geschehen eingeweiht, z.B.:
„Seine Veränderungen sind mir damals schon aufgefallen“ Dann die ernüchternde, hilflose Einsicht „Aber ich war um Jahre zu jung, um sie zu verstehen.“
Es folgt der Vorwurf, „nichts getan“ zu haben, kurz danach erfährt man, es geht um den Bruder.
Schließlich weiß man, was geschehen ist, erkennt den Zwiespalt zwischen der Rechtfertigung der Loyaliät zu dem Bruder und der Schuld des versäumten Handelns.
An dem geschilderten Einzelschicksal wird eine allgemeine menschliche Problematik deutlich, die Schwierigkeit, verantwortlich zu handeln.
Zum Schluß kommt noch ein kleiner, zusätzlicher `Twist´: Offensichtlich ereignen sich diese Selbstreflexionen bei dem Begräbnis des Bruders.Die Unwiderruflichkeit des Geschehenen erhöht die Schuldlast des Erzählers.
Hat mir gut gefallen, auch weil´s eine echte Geschichte ist (na, Du weißt ja, dass ich da immer schwer zufrieden zu stellen bin).

Liebe Grüße,

tschüß... Woltochinon

 

Hi Arc en ciel,

eine einfühlsam geschriebene Geschichte, die ich sehr gerne gelesen habe. Sehr gut gefallen hat mir das Spiel mit dem Alter / der Mathematik und dass du die ganze Geschichte um diese 7 Jahre herum baust.

Wenn ich richtig gerechnet habe, ist der Erzähler zum Zeitpunkt der Erzählung 14 Jahre alt. Mir erscheint die Art der Reflektion über die Ereignisse zu erwachsen für einen 14-jährigen.

Was sollte ich da sein, als glücklich?
Sollte das nicht heißen: Was sollte ich da anderes sein, als glücklich?

LG
merenhathor

 

Hallo Frauke,
habe Deine Geschichte gerne gelesen, wie immer.(Du hast mich ja schon vor einiger Zeit als Deinen Fan erkannt :D )
Das Thema ist sehr interessant und am Schreibstil gibt es auch nix zu meckern.
Allerdings gibt es ein paar Kleinigkeiten, über die ich gestolpert bin.
Also erstmal musste ich den Text mehrmals lesen, um mir darüber klar zu werden, wann Deine Prot wie alt war. (Kann aber auch sein, dass ich nicht konzentriert genug gelesen habe, weil ich im Büro ab und zu abgelenkt worden bin:comp: )
Wenn ich das jetzt richtig verstanden habe, dann war das Mädchen sieben Jahre alt, als es ihren Bruder mit der Spritze gesehen hat?
Dann finde ich die Reaktion des Mädchen und auch das, was ihr Bruder sagt, nicht so realistisch. Ich denke jetzt dabei an meine Tochter, die acht ist. Ich glaube, (bzw. ich hoffe) dass sie gar nicht wüsste, was da passiert. Sie würde wahrscheinlich eher neugierig sein und fragen, wozu er denn die Kerze brauchen würde und was er mit der Spritze machen würde. Und der Bruder würde doch wahrscheinlich eher versuchen, das Ganze als harmlos abzutuen, als zu einer Siebenjährigen zu sagen:" Ich hab das im Griff."
Na ja, ist halt nur mein persönliches Gefühl, bezw. meine Vorstellung, wie meine Kinder reagieren würden.

Aber trotzdem hat mir die Geschichte sehr gut gefallen. Du beschreibst sehr gut die Gefühle des Mädchens, den inneren Zwist, den es nun mit sich ausfechten muss, weil es sich schuldig fühlt.

LG
Blanca :)

 
Zuletzt bearbeitet:

@Wolchi!

Ganz lieben Dank für so eine ausführliche Analyse. Schön, daß mei Text die Dinge transportiert, die ich hineinlegen wollte.

@merenhathor:

Danke auch Dir für Dein Lob.

Mir erscheint die Art der Reflektion über die Ereignisse zu erwachsen für einen 14-jährigen.
Das habe ich mit Absicht getan. Ich habe mich dabei daran orientiert, daß dieses Kind eigentlich ein sehr schweres Leben hattte, mit diesem Wissen all die Jahre.
Ich mußte dabei an ein Mädchen denken, das ich vor jahren kannte. Die war mit ihren 15 Jahren damals weit erwachsener, als viele mit Anfang 20. Wohl, weil sie sich auch um ihre kranke Mutter kümmern mußte. So in diese Richtung sollte das gehen...
Trotzdem ist der Prot eben nur 14, deshalb auch Ausdrücke, wie der, den Du zitiert hast. Ein wenig umgangssprachlich.

@Blanca:

.(Du hast mich ja schon vor einiger Zeit als Deinen Fan erkannt )
Oh, vielen Dank!
Deine Prot
Ich hatte eigentlich an einen Jungen gedacht. Wohl, weil er dann seinem Bruder eben viel ähnlicher ist. Das kann man an den meisten Stellen nicht so deutlich sehen. Aber der große Bruder bezeichnet ihn als "der Pimpf" und "seine Windeln" - also männlich.
Braucht das noch Klarstellung?

Dann finde ich die Reaktion des Mädchen und auch das, was ihr Bruder sagt, nicht so realistisch.
Ich finde auch nicht, daß der Bruder besonders geschickt reagiert hat. Aber ich habe eben auch gedacht, daß er ein depressiver 14-jähriger ist. Und deshalb nur in seiner "Welt" reagiert. Ruppig und drohend, damit der Kleine kein Wort sagt.

Ich glaube, (bzw. ich hoffe) dass sie gar nicht wüsste, was da passiert. Sie würde wahrscheinlich eher neugierig sein und fragen, wozu er denn die Kerze brauchen würde
Das würde ich bei meinem eigenen Kind ja auch hoffen. Aber hier hat doch der Bruder ihm gar keine Chance gelassen. Der Kleine denkt erst, er zündelt nur, dann sieht er die Spritze...
Ich denke, die Erkenntnis, was er da gesehen hat, dämmert erst später... im Laufe der Jahre, die es mit dem Bruder bergab geht. Immerhin handelt es sich um eine Zeitspanne von 7 Jahren.

Schön, daß Dir der Text gefallen hat. Und wenn er anregt, darüber nachzudenken, was unsere / manche Kinder heute duchmachen / womit sie konfroniert werden.... dann habe ich damit auch schon was erreicht.

Lieben Gruß,

Frauke

 

Hallo Frauke,
also, dass Dein Prot ein Junge war, hab ich leider überhaupt nicht geschnallt. Weil kleiner Pimpf kann man ja auch zu einem Mädchen sagen. und "seine Windeln" heisst es ja, weil es der Pimpf heisst.
Ausserdem hatte ich mal wieder das dumme Vorurteil vor Augen: weiblicher Autor - weibliche Prot. *sichmalebenindieeckestellundschäm* :D

Mit der Erkenntnis und Deiner Erklärung finde ich es ok.so.:thumbsup:

LG
Blanca

 

hi Blanca!
Gut, daß Du Dich gleich duckst... dann hol ich mal gar nicht erst aus. :D
Ich schreibe oft über Menschen, die mit mir wenig gemeinsam haben - eben weil ich das für mich als Autor viel interessanter finde. Und dabei eben auch oft über Jungen, Männer, etc...

aber ich weiß: vielen liegt der Schluß nahe. Also lasse ich die Keule im Schrank.

Schön, daß es Dir gefällt und danke für das Feedback,

Frauke

 

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