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Sie
Es steht 8 zu 9. Wenn Gope noch ein Tor macht haben er und Burhan mich und James zum dritten mal im Kickern geschlagen. Höchste Konzentration. "Streng dich an zwei Tore noch" James klopft mir auf die Schulter. Einwurf, Klack, Schuss auf unser Tor. Ich fange mit dem Torwart ab. Pass vor zu James, Klack, Wumm. Tor vom Mittelfeld aus. 9 zu 9. Gope trinkt einen Schluck. James tippt mich an "Ist das nicht sie?" "Klappe" Er fragt mich das oft, nur um mich aufzuziehen. Doch es ist nie sie. Sie wohnt seit einem Jahr in Hamburg. "Nein, wirklich".
Ich schaue mich um, und wirklich, da steht sie. Ich stehe kurz in Schockstarre da. Es fühlt sich an als hätte mir jemand in den Bauch geschlagen, alle Luft aus der Lunge gepresst. Klack, Wumm. 10 zu 9. "Pass doch auf, den hättest du locker gekriegt" James Stimme tönt leise im Hintergrund meiner rasenden Gedanken. Ich muss hier raus. Meine Jacke in der Hand, bewege ich mich wie in Trance auf die Tür zu. Gope schaut mich im vorbeigehen an "Gehst du schon?" Ich schüttle den Kopf "Ich brauch nur kurz frische Luft." Draußen hole ich mein Drehzeug aus meiner Tasche und beginne mir zitternd vor Kälte und brausenden Emotionen eine Kippe zu drehen.
Ich ziehe das Gift, von dem ich seit damals, als wir heimlich an ihrem Fenster standen und heimlich den Rauch nach draußen bließen, damit ihre Eltern nichts bemerkten, abhängig bin, mit einem tiefen Atemzug in meine Lunge.
Ich versuche meine Gedanken zu ordnen, doch sie entziehen sich meinem Griff.
Wie oft habe ich vor zwei Jahren noch über sie nachgedacht, mir genau diese Situation vorgestellt. Was ich ihr alles sagen würde. Ich würde mich entschuldigen. Vielleicht würde sie das auch tun, vielleicht würde man sich versöhnen. Doch auch wenn nicht, wäre mir das egal. Hauptsache alles wäre aus der Welt, und ich hätte gesagt, was von einer Seite aus gesagt werden muss.
Dann, nach einem Jahr hatte ich begonnen weniger an sie zu denken, die Erinnerungen verblassten, und die, die blieben waren in den Hintergrund gerückt, in die kleine Kammer des Gedächtnisses, welche nur sporadisch, äußerst selten, aufgemacht wurde. Die, in der alles lag an das man möglichst nicht denken wollte.
Seit Monaten war diese Kammer nicht mehr geöffnet worden, doch jetzt wo sie da war, stand steht sie sperrangelweit offen, und alles, was ich so sorgfältig und gründlich in diese Kammer verbannte, strömt auf einmal auf mich ein.
Benommen drücke ich die Kippe aus und mache mich auf den Weg hinein, fest entschlossen das ein für alle mal aus der Welt zu schaffen. Doch dann trete ich ins Warme, da steht sie, den Rücken zu mir gewandt, und alle Entschlossenheit weicht. Ich stehe da, unfähig mich zu bewegen.
Was ich all die Zeit nie bedacht hatte war, wie schwer es sein würde, sie anzusprechen, den ersten Schritt zu tun. Ich versuche mich aufzuraffen , es endlich zu tun. Doch ich schaffe es nicht. Gehetzt drehe ich mich um und eile auf die Tür zu. Ich kann das nicht. Die Tür fällt ins Schloss. Ich stehe da, in der kalten, frischen Winterluft. Atme tief ein. Versuche meine, noch immer rasenden, Gedanken und Gefühle wieder zurück in die kleine Kammer zu schieben. Mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern trotte ich los zum Bus.
Ich bin ein Feigling. Vielleicht nächstes Mal. Vielleicht nie.