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19.05.2014
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SIE

Da steht sie. Umhüllt von hauchdünner blassrosa Seide, die sanft die Konturen ihres Körpers umspielt. So steht sie da. Verletzlich. Zart. Wunderschön. Ihre Seele so vogelgleich, federleicht, dass sie beinahe davonschwebt. Ihr verschleierter Blick ist auf den Boden gerichtet, die Arme schützend vor ihre Blöße gelegt. Eine Träne läuft ihre Wange entlang. Salzige Erinnerungen auf ihren Lippen.
Sie steht allein vor dem Spiegel, ihre Kleidung liegt wie eine zweite Haut abgestreift am Boden und wirft einen dunklen Schatten auf die Holzdielen. Durch das sperrangelweitstehende Fenster fällt schräges Sonnenlicht, das sie von der Seite erhellt. Weite Vorhänge aus weißem Chiffon bauschen sich in der spätsommerlichen Mittagsbrise. Lichtreflexe spielen auf ihrem Körper, tanzen in der Luft und verzerren das Spiegelbild. Sie sieht sich selbst, und doch wieder nicht.

Unwohl fühlt sie sich. Klein. Verletzlich. Allein. Ihr Körper kommt ihr vor wie ein groteskes Kostüm. Zu weit ist es, zu breit, zu tief. Sie fühlt sich wie in einem Alptraum. Nimmt weder ihre sanft geschwungenen Hüften, noch die elfenbeinfarbene Haut oder ihr makelloses Gesicht wahr. Was sie sieht, ist ein hängender Kopf mit traurig schimmernden Augen, gekrümmte Schultern und ein unproportioniertes Etwas, das das Gestell ihrer Seele sein soll. Betrübt schüttelt sie ihr langes, elfenblondes Haar und zieht sich an. Eine andere Erinnerung dringt zu ihr heraus.

Sie steht nass im Regen, das Gesicht verklebt von goldenen Schlingen. Ein junger Mann steht auf der anderen Straßenseite und schaut sie irritiert an. Sein Blick verdüstert sich und er eilt schnell vorbei. Ihr Lächeln erstirbt. Sie kennt ihn doch noch nicht einmal. Sieht sie denn wirklich so grauenhaft aus? Sie ist sich nicht bewusst, dass er nicht sie, sondern die Person hinter ihr angeschaut hat und sich während dem Vorbeieilen bestimmt fünfmal den Kopf verrenkt, um ihr hinterherzuschauen.
Während die Erinnerungen an ihr vorbeischweifen wie ein alter, zeitloser Film, sitzt sie auf ihrem Bett, die schmalen Hände in dem goldenen Schopfe vergraben. Sie denkt an früher. Als noch alles schön war. Als sie glücklich war. Unbeschwert. Sorgenfrei. Ausgelassen.
Das ist lange her. Sehr lange.

Denn sobald sie die ersten Veränderungen an ihrem Körper bemerkte, fühlte sie sich unwohl. Plötzlich war alles anders. Sie bekam auf einmal Rundungen. Rundungen, die ihr nicht gefielen. Sie verabscheute sie. Ihre Hüften waren nicht mehr so schmal wie früher und ihre Taille nahm auch zu. Dass dies der natürliche Verlauf der Natur war, verdrängte sie. Es war der Moment in dem etwas in ihr zerbrach. Ein kleiner goldener Schein erlosch in ihrem Inneren. Sie kam sich entsetzlich vor, gar abscheulich.

Alle anderen bemerkten nichts von ihrem Wandel. Sie sah noch immer wunderschön aus, die leichten Kurven machten sie erwachsener und femininer. Doch sie empfand etwas anderes. Sie sah nur die negativen Seiten an sich. Es lag nicht daran, dass sie unbedingt Aufmerksamkeit wollte, oder hören wollte, wie hübsch sie doch war. Nein, ganz und gar nicht. Im Gegenteil. Sie wollte lieber im Hintergrund bleiben, andere nicht bedrängen und einfach versuchen glücklich zu sein. Doch das war gar nicht so einfach.

Sie mochte sich selbst nicht. Das war ihr Problem. Daran änderten auch nicht die vielen Komplimente, die sie von Freunden erhielt, oder die bewundernden Blicke der Männerwelt, die ihr hinterherschauten, während sie nichts davon mitbekam. Sogar ein Blick in den Spiegel bewirkte nichts Positives. Statt der strahlend blauen Augen, die wie ein Ozean aus Licht glühten, sah sie stumpf blickende Fischaugen. Statt des satten, vollen Lächelns das ihre zartrosa Lippen umspielte, sah sie eine Fratze die sich ihr entgegenstreckte und sie auszulachen schien.

Das sind ihre Erinnerungen. Ihre Leben. Sie ist nie über sie hinweggekommen. Sie sitzt noch immer da, regungslos. Wartet. Darauf, dass etwas passiert in ihrem Leben. Eine Wendung. Doch es passiert nichts. Sie sitzt noch immer da, bemerkt nicht die ausgemergelten Arme, die wie dünne Fäden an ihr herabhängen. Früher waren sie noch mit Muskeln besetzt. Jetzt empfindet sie selbst die als unpassend, und treibt keinen Sport mehr. Früher liebte sie es, abends, nach einem Streit im Wald zu joggen und einfach ihren Gedanken freien Lauf zu lassen. Jetzt sitzt sie auf ihrem Bett und wartet, dass der Tag sich dem Ende neigt.

Ein Hungergefühl kommt plötzlich auf. Sie erinnert sich an die Waffeln, die sie immer so gerne mit ihrer Freundin gegessen hat. Die Kuchen, die sie gebacken haben. Schnell verdrängt sie die Gedanken. Sie darf nicht an Essen denken. Essen ist schlecht. Essen ist ekelhaft. Essen macht dick. Ja so ist es besser, Essen ist nicht gut für sie. Vom Thema ablenken. An was Schönes denken. Was Schönes? Hmm, was gefällt ihr denn noch, was macht ihr noch Spaß im Leben? Sie überlegt. Und überlegt. Denkt nach. Grübelt. Wird still. Runzelt die Stirn.

Ihr fällt auf, dass jeder Tag monoton vor sich dahinplätschert wie ein Jahrhunderte alter Fluss. Immer vorwärts, ohne Ende. Sie weiß natürlich ihre Freunde zu schätzen und freut sich auch über die gemeinsame Zeit mit ihnen, aber sonst? Der Alltag sieht eher düsterhaft grau und eintönig aus. Morgens ein Kaffee, dann in die Schule. Sie setzt ihr Strahlelächeln auf, obwohl sie gar keine Energie hat. Die andern sollen sie doch nicht für einen Miesepeter halten. In einer größeren Gruppe verschwindet sie, geht unter. Tausend Menschen stehen um sie herum, aber was sie fühlt, ist Leere. Sie fühlt sich so allein inmitten der Masse. Was für ein tragisches Paradox.

Mittags geht sie mit Freunden raus, isst aber nichts. Die fragenden Seitenblicke der anderen übergeht sie einfach, erfindet Ausreden, warum sie heute nichts isst. Lacht wieder. Strahlt. Die anderen sind beruhigt – ein Glück! Dann wieder Schule, sie hat keine Kraft mehr.
Zuhause legt sie sich aufs Bett und versucht ein bisschen zu lesen. Das ist ihre einzige Rettung. Sie verschmilzt mit dem Papier, befindet sich in einer anderen Welt voller Menschen, die ebenso wie sie trauern, oder betrübt sind, denen jedoch auch Gutes widerfährt. Sie fühlt mit ihnen, ist dabei, bei ihrem ersten Kuss, dem ersten Streit, einem Abenteuer, das sie voll und ganz fesselt, dass sie die Welt um sich herum vollkommen vergisst. Sie blendet sie einfach aus, als existierte sie nicht. Sie ist nun Teil der Geschichte. Schreibt sie mit. Liest sie. Lebt sie. Es ist unglaublich. Doch dann, ein Klopfen an der Tür. Sie wird aus ihrer Traumwelt herausgerissen, dem elfenbeinfarbenen Käfig, in den sie sich stets begibt und immer weiterdringt in das Labyrinth der Worte.

Ein Schock. Schon halb acht. Der Vater fragt, ob sie runterkommt und mit der Familie isst. Hastig streicht sie sich eine Strähne aus dem Gesicht. Sie hätte schon etwas Kleines gegessen. Müsste noch was für die Schule erledigen. Würde später vielleicht kommen. Alles kleine Lügen. Lügen, die sie immer öfter anwenden muss und die sie betrüben. Am liebsten würde sie die Wahrheit sagen, sie herausschreien, dass die ganze Welt sie hört. Doch sie kann nicht. Will nicht. Wer möchte schon das Problemkind der Familie sein? Das, um welches man sich am meisten kümmern muss, dass nicht „normal“ ist und spezielle Hilfe braucht. Zuneigung, das könnte sie jetzt gebrauchen. Unterstützung auch.

Doch sie traut sich nicht zu fragen. Möchte nicht anders sein als die andern. Das Gesellschaftsspiel weitertreiben. Bloß nichts anmerken lassen. Die andern sollen nicht wissen, dass sie ein Wrack ist. Denn das ist sie doch, oder? Hässlich wie die Nacht, mit Selbstkomplexen bestückt. Großartig. Sie möchte niemandem zur Last fallen. Denn das tut sie doch bestimmt schon. Wieso geben sich die anderen überhaupt mit so einer wie ihr ab? Bestimmt, weil sie das Spiel mitspielt. Den Schein bewahrt. Ihre Maske trägt. Eine Maske, die ihr mittlerweile in Fleisch und Blut übergeht, die sie meisterhaft hervorzaubern kann, wann immer sie es wünscht. Das macht sie noch trauriger. Wieso bemerkt denn niemand, wie sie sich fühlt? Ist sie den anderen so gleichgültig?

Sie weint still und leise. Nimmt ihr Kuscheltier in die Hand. Drückt es fest an sich. Langsam fließen die Tränen in den weichen kastanienbraunen Stoff ein. Sie wischt sich über die Augen und legt sich hin. Will schlafen. Endlich schlafen. Schlaf ist Erholung. Erholung ist Schlaf. So ist es. Im Schlaf kann sie der Realität vollkommen entgleiten, da kann sie dort sein, wo sie sich am wohlsten fühlt. An dem Ort, an dem niemand ihr etwas Böses antun kann, an dem sie in Ruhe ist, wo alle Probleme ausgeblendet sind. Wenn man doch nur im Traum leben könnte. Wie gerne sie doch manchmal gefangen sein möchte, in der Traumwelt, wie in einem undurchdringbaren Schloss aus Dornen. Schlaf ist Erlösung.

 
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Hallo shmittydreams

Herzlich Willkommen in unserem Forum.

Ich finde es schade, dass du in deinem Text keine richtige Geschichte erzählst - die Magersucht wird zwar thematisiert, aber letzten Endes belässt du es bei einer Aneinanderreihung von Symptomen und etwas beliebigen Beschreibungen, die man - auch als Nicht-Betroffener - mehr oder weniger schon alle kennt und auch schon öfter drüber gelesen hat. Gerade weil es auch um ein Thema geht, das schon oft in Texten verarbeitet wurde und über das man auch immer wieder Berichte liest oder hört - erst vor ein paar Tagen hab ich wieder einen Artikel darüber gelesen, da ging es um Magersucht speziell bei Männern.

Das Problem bei solchen Texten ist, du versuchst bestimmte Gefühle beim Leser zu wecken - Mitleid zum Beispiel - aber du versuchst das, indem du zeigst, wie schlecht es der Figur schon geht.

Sie wollte lieber im Hintergrund bleiben, andere nicht bedrängen und einfach versuchen glücklich zu sein. Doch das war gar nicht so einfach.

Sie mochte sich selbst nicht. Das war ihr Problem.

Das sind ihre Erinnerungen. Ihre Leben. Sie ist nie über sie hinweggekommen. Sie sitzt noch immer da, regungslos. Wartet. Darauf, dass etwas passiert in ihrem Leben. Eine Wendung. Doch es passiert nichts.

Ich frage mich, was ist mit diesem Menschen passiert, dass es so weit gekommen ist? Hinter solchen Schicksalen steckt eine Geschichte, für so etwas gibt es einen Grund - und in einem literarischen Text sollte es dein Anspruch sein, genau diesen Hintergrund zu beleuchten. Denn das gibt dem Text eine Geschichte, das macht ihn individuell, und genau dann bekommt man auch den Draht zu deiner Figur, den du aufzubauen versuchst - die Figur bekommt ein Gesicht, und dann kann man auch so etwas wie Mitleid mit ihr empfinden. Aber nur zu schreiben, wie schlecht die Welt und die persönliche Situation ist - tja, das zündet nicht so recht.

Doch sie traut sich nicht zu fragen. Möchte nicht anders sein als die andern.

Hier könntest du auch ansetzen, diesen Gedanken weitertreiben. Welche Konsequenzen ergeben sich denn für den Alltag? Wie reagieren denn die Eltern, denn die sehen doch auch, was da passiert. Solche Konfliktsituationen solltest du szenisch aufarbeiten, das macht den Text dann gleich viel lebendiger und interessanter für den Leser.

Sonst finde ich es vom Stil her in Ordnung. Manchmal übertreibst du es mit den Wiederholungen:

Als noch alles schön war. Als sie glücklich war. Unbeschwert. Sorgenfrei. Ausgelassen.*
Das ist lange her. Sehr lange.

Da musst du aufpassen, das hat auch immer schnell so was Holzhammer-mäßiges an sich. Man versteht es schon eher. Wenn du den Absatz mit "Das ist lange her." beendest, hat das eine ganz andere Wirkung, wie wenn du noch "Sehr lange." dahinterhängst. Ich würde das streichen. Es reicht auch zu schreiben: "Als alles noch schön war." Der ganze Rattenschwanz, den du da noch dranhängst, verwässert das.

Auch zu Beginn gleich reicht ein Adjektiv:

Ihre Seele so vogelgleich, federleicht, dass sie beinahe davonschwebt.

vogelgleich - federleicht - davonschwebt - das ist dreimal ein ziemlich ähnliches Bild. Auf solche Ausschmückungen könntest du verzichten, vor allem, weil hier halt allzu sehr durchscheint, dass du sie nur verwendest, um die Traurigkeit deiner Figur zu betonen.

Dann ist mir noch aufgefallen, dass du aus Sicht eines auktorialen Erzählers schreibst. Ich würde da überlegen, konsequent auf die Perspektive des Mädchens umzuschalten, da man dann als Leser näher an der Figur dran ist. Auch bei einer solchen Stelle hier:

Statt der strahlend blauen Augen, die wie ein Ozean aus Licht glühten, sah sie stumpf blickende Fischaugen. Statt des satten, vollen Lächelns das ihre zartrosa Lippen umspielte, sah sie eine Fratze die sich ihr entgegenstreckte und sie auszulachen schien.

Ich finde die Idee gut, diese Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der anderen und der eigenen - aber man könnte das auch so erzählen: "Alle sprachen von ihren strahlend blauen Augen, die wie ein Ozean aus Licht glühten, doch wenn sie in den Spiegel sah, glotzten ihr nur stumpfe Fischaugen entgegen" - irgendwie so. Ich finde diese Perspektive in dem Fall interessanter, weil man dann als Leser auch im Unklaren gelassen wird, inwieweit die Einschätzung des Mädchens der Wahrheit entspricht.

Und positiv möchte ich am Ende auch noch anmerken, dass der Text sauber überarbeitet ist, was (leider) keine Selbstverständlichkeit ist.

Also ich hoffe ich konnte dir ein paar Anregungen geben & wünsche dir noch viel Spaß hier.

Grüsse,
Schwups

Edit: Den Titelzusatz hab ich übrigens entfernt. Ich finde es nicht glücklich, den Titel in Großbuchstaben zu setzen - welchen Effekt soll das haben?

 

Vielen Dank für deine ausführliche Kritik Schwups.
Ich schätze und akzeptiere sie, auch wenn diese Geschichte für mich emotional und lebendig wirkt.
Das liegt natürlich auch daran, dass ich über meine beste Freundin geschrieben habe,
die vor zwei Jahren magersüchtig war.

Die Erzählung ist in dieser Zeit entstanden und daher habe ich nur das aufgeschrieben,
was ich wusste. Den genauen Hintergrund kannte ich selbst nicht, da sie nicht sehr offen darüber gesprochen hat und ich mir vieles selbst zusammenreimen musste. Mir ging es vor allem darum, mich in ihre Lage hineinzuversetzen, verschiedene Momente ihres Lebens zu beleuchten und selbst damit fertig zu werden. Ich wollte ihre Gedanken und Erinnerungen in den Vordergrund setzen, nicht die Krankheit selbst.
Ihre Selbstwahrnehmung war mir wichtiger.

Mir ist jedoch bewusst, dass es vielleicht nicht "spannend" genug für den Leser ist, da er nicht mit der wahren Geschichte vertraut ist und die Person nicht so kennt wie ich sie kenne, doch damals habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht. Ich wollte lediglich das Thema verarbeiten, da es mich sehr mitgenommen hat.

Wie ihre Eltern darauf reagiert haben, weiß ich nicht genau. Ich habe sie nur am Rande erwähnt, da ich den Eindruck hatte, dass sie ihrer Tochter nicht genug geholfen und sie ein wenig im Stich gelassen haben. Dies hatte mir meine Freundin erzählt, doch war ich nicht sicher, da es sich schließlich um ihre Sicht handelte, also wollte ich auch nicht zu streng mit den Eltern ins Gericht gehen.

Des Weiteren konnte ich nicht aus ihrer Sicht erzählen, da es mir sonst zu nahe gegangen wäre.
Ich wollte distanziert darüber schreiben, aus meiner Sicht, so wie ich sie sehe und denke, dass sie sich fühlt. Deshalb habe ich den Text in dieser Erzählform geschrieben.

Vielen Dank noch einmal für die Kritik, ich werde sie beherzigen und versuchen, mich nächstes Mal vielleicht etwas mehr vom Thema zu distanzieren und auch ein wenig auf die Leser einzugehen.
Ich war zu emotional geladen um darüber nachzudenken, wie meine Erzählung ankommt, deshalb habe ich einfach aus mir heraus geschrieben ohne mir groß darüber Gedanken zu machen was der Leser erwartet.

Liebe Grüße,
shmittydream

 

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