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Sie
Sie versucht sich auf den Horrorroman zu konzentrieren, schafft es aber nicht und denkt, dass der echte Horror einem jeden Morgen im Spiegel entgegen blickt.
Wenn sie den Kopf nach rechts wendet (sie liegt auf dem Rücken, ihr Busen dient als Buchstütze) kann sie ihren Freund beim Schlafen beobachten.
Sein Mund steht einen Spalt weit offen, er atmet schwer und sie weiß, dass er bald wieder anfangen wird zu schnarchen. Er schnarcht immer, wenn er auf dem Rücken liegt und es ist sinnlos ihn anzustoßen, mit freundlichen Worten zu vertuschen wie genervt man von diesem ewig an- und abschwellenden Geräuschpegel ist.
Also lässt sie es bleiben, reißt sich vom Anblick seines offenstehenden Mundes los und vertieft sich wieder in ihren Roman. Die Geschichte ist gut und zu einem anderen Zeitpunkt hätte sie die Welt um sich herum vergessen können.
Aber es gibt keinen anderen Zeitpunkt außer diesem.
Die Minuten kriechen dahin, im Flur schabt und wühlt sich einer der Kater durch die Streu im Katzenklo und sie denkt darüber nach, das warme Bett zu verlassen und sich ins Wohnzimmer zu setzen. Noch vor ein paar Jahren hatte sie das gerne gemacht; wenn es schon spät war, war sie nochmal aufgestanden, hatte sich in eine Decke gehüllt vor den alten Fernseher gesetzt und sich durch das Programm geklickt.
Jetzt bleibt sie liegen, spielt nur mit dem Gedanken und legt ihn dann wieder beiseite, weil sie jetzt irgendwie hierhin gehört. Das Bett ist zu groß für einen allein und sie weiß, dass sie liegen bleiben sollte, neben ihrem schnarchenden Freund, den sie so liebt.
Irgendwann legt sie das Buch dann doch weg, knipst die Lampe aus und rollt sich in die Decke ein. Es ist warm aber sie findet keine bequeme Schlafstellung und denkt wieder, dass sie Angst vor dem neuen Morgen hat.
Sie blinzelt, weil der Kater an der Tür kratzt. Während ihr Freund an ihrer Seite munter wird, sich aufsetzt und dem neuen Tag ins dämmrige Gesicht sieht, bleibt sie liegen. Sie starrt das Laken an, hört, wie er möglichst leise aufsteht und die Tür öffnet.
Er redet mit dem Kater, der ins Schlafzimmer gehen möchte und schließt die Tür hinter sich.
Als sie den Blick hebt, hängt der Himmel mausgrau und dicht über ihr und sie stellt fest, dass sie den Anblick mag. Ein Blick auf den Radiowecker riskieren, sichergehen, dass es noch zu früh ist, um aufzustehen. Dann wieder das ruhelose Herumwälzen, weil das verdammte Bett sich unter ihr zu winden scheint. Sie denkt, dass ein warmer Arm um ihre Seite gelegt sie davon abhalten würde sich herumzuwälzen, aber sie spricht es nicht aus.
Draußen wird es heller, Dächer werden sichtbar und sie überdenkt den Tag.
Sie weiß, dass es besser werden wird, wenn sie erst Bad und Frühstück hinter sich gebracht hat, aber im Moment ist sie steif und frustriert und weiß nichts mit sich anzufangen. Unter der Decke fährt sie prüfend ihre nackten Unterschenkel entlang und ärgert sich, weil sie schon wieder stoppelig sind. Irgendwann zwischen mausgrauem Himmel und Selbstmordgedanken steht sie auf, langsam. Es ist kalt, es ist immer kalt und sie schlüpft in ihren rosa Bademantel. Sie fand ihn schön, als sie ihn gekauft hat, so schön mädchenhaft, aber jetzt mag sie ihn nicht mehr ansehen. Rosa Bademäntel passen nicht zu mausgrauem Himmel und spielerischen Selbstmordgedanken und sie fröstelt.
Sie und ihr Freund haben die Kater noch nicht lange, aber sie hat es sich schon angewöhnt nach dem Aufstehen eine Tagesdecke über das Bett zu werfen, denn sie mag keine Katzenhaare beim Schlafen.
Dann verlässt sie das Schlafzimmer und hofft, dass ihr Freund ihr nicht gleich entgegen kommt, denn so wie er die frühen Morgenstunden gerne für sich hat, hat sie den Gang ins Bad gerne für sich. Das ist nicht immer so und manchmal möchte sie noch vor dem Duschen umarmt werden - aber nicht heute.
Sie schließt die Badezimmertür ab. Einer der Kater maunzt anklagend und sie ignoriert es.
Das Duschen dauert nicht lange. Sie tritt aus der Wanne auf den kleinen, runden Teppich vor dem Waschbecken und friert. Als sie das Badetuch um ihre Brust wickelt, denkt sie, dass es keine trostlosere Art gibt, um einen Tag zu beginnen. Trotzdem schüttelt sie die Dose Rasierschaum und verteilt die luftige Masse auf ihrem linken Bein. Zum ersten Mal wird ihr bewusst, dass sie immer mit dem linken Bein anfängt.
Danach das rechte Bein, bis zur Hälfte des Oberschenkels hinauf.
Sie friert noch immer und die Gänsehaut erschwert das Rasieren. Wenn sie nicht aufpasst, schneidet sie sich. Sie betrachtet die vor Kälte lila fleckige, weiße Haut an ihren Oberschenkelinnenseiten und denkt wieder, wie hässlich sie ist. Dass es kein Wunder ist, dass niemand diese Beine berührt, auch wenn sie glatt und weich sind und sie durchaus gewillt ist Feinstrümpfe drüber zu ziehen und in Pumps zu schlüpfen, weil ihr Freund das mag. Er hat sie schon lange nicht mehr darum gebeten.
Irgendwann ist sie fertig und es endet mit dem Kämmen der nassen Haare (es endet immer mit dem Kämmen der nassen Haare, so wie es immer mit dem linken Bein beginnt) bevor sie das Bad verlässt, um sich umzuziehen.
Wenn sie das Wohnzimmer betritt, steht das Frühstück schon bereit und ihr Freund gibt ihr einen leicht feuchten Kuss auf den Mund. Ein Kuss, der bitter ist von Kaffee und sie schmeckt diesen ganz bestimmten Kuss am Morgen sehr gerne.
Während sie Butter auf ihr Brot streicht, denkt sie an die schlechte Nacht, daran, dass sie im Traum schon wieder gestorben ist. Sie stirbt jede Nacht im Schlaf, ihr Unterbewusstsein erweist sich diesbezüglich als sehr kreativ.
Es fällt ihr schwer zu reden, also schweigt sie, betrachtet durch das Fenster die Nachbarhäuser und beißt in ihr Brot.
Dann bittet sie ihren Freund um etwas, irgendeine Belanglosigkeit und er weicht ihrem Blick aus, schließt sich ein in seine Stille, die sie schon kennt, aber die sie immer wieder ärgert.
Sie erkennt diesen Zug um seinen Mund, diesen erzieherischen Zug.
Sie liebt ihn, aber in diesem Moment hasst sie ihn, weil er nicht versteht und auf sie herabsieht, wie ein Vater es tut, der seiner Tochter gegen ihren Willen etwas beibrigen will; sie hasst ihn, weil er nicht versteht, dass sie unglücklich ist in dieser Welt, in der feste Freunde ihre festen Freundinnen behandeln dürfen wie Väter.
Sie schluckt es hinunter, mitsamt dem Bissen Brot und denkt, dass der Alltag ein dicker Kater ist, der den Tag verschläft.