Sie
Sie schaute nach draußen und es war, als wenn der Himmel mit ihr weinen würde. Seit Tagen regnete es und seit Tagen spürte sie diese endlose Leere in sich. Ihre große Liebe hatte sie vor einer Woche verloren, aber jedesmal, wenn sie an die schöne Zeit zurückdachte, wollte sie nicht mehr aufhören zu weinen. So sah es jeden Abend aus, seitdem er sagte, er liebt sie nicht mehr, jeden Abend das gleiche Spiel... Die Ruhe, die Gedanken, die Frage nach dem Warum?! Und vor allem die Tränen die sie nächtelang begleitet haben und ihr stärkster Freund wurden. Wenn ihr Blick nach außen schweifte, fühlte sie sich dem Himmel näher als sonst und zum ersten Mal spürte sie die größte Sehnsucht überhaupt. Die Sehnsucht nach der ewigen Endlosigkeit...
Schon zweimal hatte sie versucht, sich das Leben zu nehmen, aber nie hatte sie zuvor dieses starke Verlangen danach in der Endlosigkeit zu leben. Einen Moment blieb sie so liegen und dachte darüber nach. Sie stellte sich vor, wie es wohl wäre und wusste genau, dass es nur wunderbar sein konnte. Sie schloss die Augen und lächelte. Das erste Lächeln seit Tagen und es war ernst.... Sie drehte sich um und schlug ihr Tagebuch auf. Als sie jedoch die letzten Seiten sah und anfing sie zu lesen, erfüllte sie wieder diese endlose Leere und sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten... Wieder legte sie sich auf den Rücken, dachte noch einen Moment über das Vergangene nach und legte sich dann wieder in den wohligen Traum der unendlichkeit.
Jedesmal fiel sie in eine Art Trance wenn sie daran dachte... Nie bekam sie etwas von der Außenwelt mit, besser gesagt: Sie nahm es nie wahr.
Als sie wieder einigermaßen klar denken konnte, überlegte sie kurz und lief dann in die Küche, vergewisserte sich vorher aber, dass niemand aus ihrer Familie noch wach war. Sie steuerte den Schrank an, in den ihr Vater seine Tabletten gelegt hatte und wühlte dort rum, bis sie auf das stieß, was sie suchte - Paracetamol!
Damit es nicht auffiel, nahm sie nur eine aus der Verpackung, sie wusste aber, dass sie mit einer nicht weit kam. Daher beschloss sie, noch eine Weile ihr trostloses Leben weiter zu leben und jeden Tag ihrem Ziel ein wenig näher zu kommen... Mit einem Lächeln verschwand sie in ihrem Zimmer, schnappte sich ihr Tagebuch und froh wie schon lang nicht mehr schrieb sie die ersten Zeilen, die den Anfang vom Ende beschreiben sollten...
24. April
Liebes Tagebuch,
ich habe heute beschlossen mein Ende selbst zu bestimmen. Ich halte den Druck und die Erwartungen die man in mich gesetzt hat nicht mehr aus und dann noch die Sache mit... naja du weißt ja, wen ich meine, ich habe dir genug über ihn geschrieben, alles Schöne, die glücklichste Zeit meines Lebens, bis ... naja bis zu diesem einen Tag, der mein ganzes Leben veränderte... nur weiß ich jetzt nicht: Soll ich ihm danken, daß er mich verlassen und damit ein Stück weiter runterfallen lassen hat?
Oder soll ich ihm noch böse sein? Nein, böse sein kann ich ihm nicht... auf keinen Fall... schon alleine, weil es nicht seine Schuld war... Aber hier wären jetzt Schuldfragen am falschen Platz, wenn man denn jemandem die Schuld geben könnte. Lieber würd´ ich darüber berichten, was ich gesehen habe, was ich erleben will und auch werde... Ich habe eben in den Himmel geschaut und meine unheimliche Sehnsucht nach ihm gespürt... nach ihm? Ist der Himmel männlich? Hat er überhaupt ein Geschlecht? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Tränen und Sehnsucht nach dem "danach" mein Leben bestimmen würden. Aber wäre das wirklich gut? Nein, ich habe beschlossen, in ein paar Wochen mein Leben zu beenden. Ich will das Schöne endlich erleben. Schlechtes habe ich genug mitbekommen, es wird Zeit für die Stärke, die ich aufgewiesen habe, durch die ganzen schlechten Einflüsse, belohnt zu werden. Ich hoffe, dass ich es schnell hinter mir habe, denn lange will ich hier unten nicht mehr bleiben... Ich möchte oben sein, wo alle glücklich sind, wo keiner Leid oder Schmerz kennt... hab ich davon nicht auch schon genug mitbekommen? Ich denke schon...
Mittlerweile waren drei Wochen vergangen... Jeden Tag schrieb sie wieder in ihr Tagebuch und jedesmal, wenn sie die letzten Seiten las, wurde ihr klar, dass ihre Sehnsucht stärker wurde und dass es bald soweit sein sollte. Sie ging auf ihr Zimmer und holte die gesammelten Tabletten aus ihrem Versteck. Sie schaute in die Dose und bemerkte sofort, dass sie reichen würden, so setzte sie sich hin und schrieb ihre letzten Worte in ihr Tagebuch...
15. Mai
Liebes Tagebuch,
das hier wird mein letzter Eintrag sein, ich hoffe du verzeihst mir. Ich habe beschlossen heut Nacht schlafen zu gehen und nicht mehr aufzuwachen. Ich hoffe, dass sich all meine Wünsche danach erfüllen und ich nicht enttäuscht werde, denn ein Zurück wird es nie geben... Ich denke mir mal, dass meine Eltern dies hier sowieso lesen werden, da sie ja den Grund erfahren werden und den werden sie hier finden. Spätestens, wenn sie den Eintrag von vor drei Wochen lesen. Nunja... Dir habe ich ja nun alles erzählt, ich werde mich jetzt mit ein paar Worten an Verwandte und Freunde wenden... Ich möchte nicht, dass sich jemand die Schuld gibt. Diese Sehnsucht die ich spüre, kam völlig überraschend und ich weiß auch, dass sie jederzeit hätte kommen können. Fragt also nicht nach dem Warum, eine Antwort wird es nie geben. Denkt bitte dran, dass es mir gut geht dort oben und dass ich über euch alle wachen werde, ich werde für jeden Einzelnen den Schutzengel spielen. Weint auch bitte nicht an meinem Grab, ich würde mich sonst mies fühlen... Und ich möchte doch nur, dass ihr und ich und sonst auch alle glücklich sind. Ich werd es oben sicherlich sein...
Sie ließ ihr Tagebuch offen liegen, legte den Stift oben drauf, damit das Buch nicht zuklappen konnte und machte sich fertig für's Bett. Einen Moment lang dachte sie noch drüber nach, doch dann nahm sie ihr Glas und die Tabletten in die Hände und war sich sicherer denn je... Sie kuschelte sich in ihr Bett und wartete bis ihr die Augen zufielen, mit einem glücklichen Gedanken starrte sie in den Himmel und lächelte...
"...Asche zu Asche... Staub zu Staub..." hörte man den Pfarrer eine Woche später auf dem Friedhof, vor einem frischen Grab sagen....
[Beitrag editiert von: Häferl am 10.04.2002 um 20:29]