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Sie
Ein lautes Klopfen an der Haustür riss sie aus dem Schlaf und ließ sie sich abrupt aufsetzen.
Wer konnte so früh schon etwas von ihr wollen?
„Nun mach schon auf, ich weiß, dass du da bist!“
-Nick-
Sie stand auf und ging zur Haustür.
Vor dieser stand Nick, ihr Exfreund, und starrte sie mürrisch an.
„Ich will meine Sachen abholen. Dazu hast du mir ja gestern keine Zeit mehr gelassen.“
Täuschte sie sich, oder schwang in seiner Stimme schon wieder der alte Sarkasmus mit, mit dem Nick sich gerne identifizierte.
Wortlos ließ sie ihn rein und ebenso wortlos schloss sie die Tür, nachdem er mit einem Rucksack voller Kleidung die Wohnung verlassen hatte.
Sie hatte ihn gestern nachmittag aus ihrer Wohnung hinausgeschmissen, weil er erneut eine schreckliche Eifersuchtsszene mitten in der Innenstadt Hamburgs abgezogen hatte.
Und das alles nur, weil sie sich mit ihrem Tennispartner Martin unterhalten hatte.
Gestern war total aufgebracht gewesen und war mit einem „Das wirst du noch bereuen!“ aus der Wohnung gestürmt. Heute schien er sich schon wieder beruhigt zu haben.
Denk einfach nicht mehr an ihn, sondern geh dich amüsieren, sagte sie zu sich selbst und zog sich an.
Kurze Zeit später stand sie an der Bushaltestelle und wartete freudig auf den nächsten Bus zum Markt, auf dem die nächsten drei Tage das Stadtfest des Jahres 2002 stattfinden würde.
Nach einer Weile kam der Bus und sie stieg ein. Flüchtig grüßte sie einige Leute, die sie vom Sehen kannte.
Als sie am Marktplatz ankam, blieb sie erst einmal eine Weile stehen und ließ die Kulisse auf sich wirken. Gerüche von gebrannten Mandeln, Muzen und Zuckerwatte stiegen ihr in die Nase und scheinbar ziellos ließ sie sich schließlich von der Menge mitreißen. Händler priesen ihre Waren lauthals an und nach einer kurzen Wegstrecke durch die Innenstadt, an zahlreichen Ständen vorbei, kam sie mit der Menge zu den großen Bühnen und Zelten, wo Schauspieler, Artisten, Zauberer und Zigeuner um die Gunst der Zuschauer eiferten. Mit Sprüchen wie „Vertragen Sie die Wahrheit?“, „Diese Sensation haben Sie noch nie gesehen!“ oder „Wenn Sie wirklich so mutig sind, dann schauen Sie hier herein!“ versuchten die Marktschreier, möglichst viele Menschen für ihr Zelt oder ihre Bühne zu begeistern.
„Halt! Warten Sie!“
Auf einmal versperrte ein Mann ihr den Weg und fragte sie kurz aber nicht hastig: „Soll ich Ihnen Ihre Zukunft aus den Karten lesen? Umsonst versteht sich!“
Er starrte sie förmlich mit seinen stahlblauen Augen an. Und diese Augen, sie kamen ihr so bekannt vor.
Sie bekam eine Gänsehaut und wandte ihre Augen von seinen ab.
Stattdessen ließ sie ihren Blick über seinen Körper schweifen.
Der Fremde hatte ein markantes etwas verschlagen wirkendes Gesicht, schwarze Haare und ein schwarzer Bart rahmten es ein, und ein hervorstehendes Kinn. Sein Mund war blass und zu einem, so schien es ihr, leicht höhnischem Lächeln verzogen. Sein Körper wurde von blauen Tüchern verhüllt und seine verschmutzten Füße berührten schuhlos das Kopfsteinpflaster.
Er sah aus wie ein perfekter Zigeuner, vielleicht etwas zu perfekt.
Sie konnte ihre Gefühle nicht genau deuten, doch er kam ihr seltsam vor.
Dies alles geschah in weniger als zwei Minuten und es kam ihr ewig vor, so dass sie, verschreckt aus ihren Beobachtungen gerissen, zusammenzuckte,
als er sie erneut ansprach.
„Schön, dass Sie so entschlossen eingewilligt haben! Wenn Sie mir nun bitte folgen würden?!“
Aber ich habe doch gar nicht eingewilligt, erwiderte sie in Gedanken.
Sie wollte lauthals protestieren, doch er legte ihr eine Hand auf die Schulter, zog sie vor sich und gab ihr einen kleinen aber eindeutigen Stoß in Richtung eines kleinen Zeltes.
„Aber, aber ich glaube doch gar nicht an solchen Humbug!“
Sie wollte ihm diese Worte überlegen lächelnd ins Gesicht sagen und sich dann abwenden, doch stattdessen stotterte sie leise und wandte nur den Blick ab.
Unwillkürlich bewegte sie sich von ihm weg, in Richtung des kleinen Zeltes.
Nach ein paar Schritten stand sie vor dem Zelt und er trat neben sie und zog eine Plane
Beiseite.
Sie trat vollends verwirrt ein.
Ohne ihre Worte, die ihr sich öffnender Mund von sich geben wollte, abzuwarten, schob er sie auf einen Stuhl.
Vor dem Stuhl stand ein kleiner, runder Tisch, auf dem mehrere Stapel Tarotkarten zwischen dicken, roten, brennenden Kerzen lagen.
Der Fremde nahm ihr gegenüber platz.
Fast nebensächlich versuchte sie, sich umzusehen.
Der Rest des Zeltes wurde durch den Kerzenschein in Dunkelheit getaucht.
Die Flammen ließen schemenhafte Bewegungen entstehen, die das Zelt durchzuckten und sie noch nervöser machten.
„So, dann wollen wir mal sehen, was die Karten uns so über Sie erzählen!“
Er lachte fast hämisch auf und bedeutete ihr mit einer kleinen Geste, einen Kartenstapel zu wählen und durchzumischen.
Anschließend hob er die ersten sieben Karten ab.
Leise murmelnd betrachtete er die Karten und schaute sie kurz an, und allein dieser eine Blick reichte aus, um ihre Panik wachsen zu lassen.
Er sprach zu ihr mit einer leisen, beschwörenden Stimme.
„Das Schicksalsrad liegt in ungünstiger Verbindung mit dem Turm und dem Wagen, das sieht aber gar nicht gut aus... An Ihrer Stelle würde ich mein Haus nicht unbedingt mit dem Auto verlassen.“
Er lachte leise auf und für einen Moment war sie sich sicher, dieses Lachen zu kennen, doch dann verabschiedete sie sich rasch und verließ immer noch verwirrt das Zelt.
Sie nahm den nächsten Bus nach Hause.
Am nächsten Morgen wachte sie gestresst und immer noch unsicher auf. Ihr war noch nicht klar, ob sie der Vorrausage Glauben schenken sollte oder nicht. Im nächsten Moment schimpfte sie sich eine hysterische Tante und schwang sich aus dem Bett, um ins Badezimmer zu wanken.
Noch in Selbstzweifel angesichts der Karten vertieft, verließ sie das Bad kurz darauf und trank einen Kaffee. Während sie trank, reifte in ihr langsam aber sicher der Entschluss, noch einmal zu diesem geheimnisvollen Kartenleser auf dem Fest zu gehen und ihn erneut nach ihrer Zukunft zu befragen.
An der Bushaltestelle angekommen, wartete sie ungeduldig.
Unbewusst fiel ihr auf, dass sie die Möglichkeit, mit dem Auto zu fahren, gar nicht erst in Erwägung gezogen hatte.
Nach einer zehnminütigen Busfahrt kam sie am Marktplatz an und lief suchend zwischen den Ständen und Zelten umher, um den Fremden zu finden.
-vergebens-
Sie war sich sicher, überall nachgesehen zu haben und gab es schließlich auf.
Sie setzte sich in den Bus und hatte andauernd das Gefühl, angestarrt zu werden.
Sie glaubte, förmlich zu spüren, wie sich glühende Augen in ihren Rücken bohrten.
Ruckartig drehte sie sich um und „fand“ die Augen,
die sie angeblickt hatten.
Sie gehörten einem älteren, freundlich wirkendem Mann, der sie gutmütig anlächelte.
Sie schenkte ihm ein erschöpftes Lächeln und war erleichtert, als sie zwei Stationen später aussteigen durfte.
Sie verlebte den Nachmittag im Dämmerzustand und ihre Gedanken kreisten um den Kartenleger, der ihr so bekannt vorgekommen war.
Als es schließlich dämmerte, zappte sie durch das Fernsehprogramm und gab nach einiger Zeit auf, dem laufenden Spielfilm zu folgen, da ihre Gedanken immer wieder abschweiften und ihre Augen des öfteren zufielen. Also beschloss sie, zwei Stunden früher als gewöhnlich zu Bett zu gehen.
Am Sonntagmorgen wachte sie auf und fühlte sich wie erschlagen. „So kann das nicht weitergehen“, sagte sie sich und stand auf. Die Voraussage hin wie eine dunkle, drohende, immer größer werdende Wolke über ihr, und sie hatte das Gefühl, als würde die Wolke nur darauf warten, sich in einem großen Gewitter entladen zu dürfen.
Schließlich raffte sie sich auf und entschloss sich dazu, mit dem Auto Brötchen zu holen.
Sie stieg in ihren roten Polo und fuhr auf die Landstraße, die die einzige Verbindung zum Bäcker darstellte.
Die Landstraße war wie ausgestorben und vom Hunger getrieben fuhr sie schneller als erlaubt, als ein LKW ihr entgegen kam und plötzlich auf ihre Spur wechselte.
„Ein Falschfahrer“
Dieser Gedanke blitzte durch ihren Kopf und sie versuchte, sich an mühsam gelernte Fahrschulregeln zu erinnern.
-nichts-
In diesem Moment sah sie das Gesicht des Brummi-Fahrers.
Es war der geheimnisvolle Kartenleger!
Sie schrie entsetzt auf, als der Fahrer sich Bart und Haare vom Kopf riss, denn der Kartenleger entpuppte sich in diesen Sekunden als eben „ihr“ Nick.
„Ich bin verloren“
Dies schoss ihr durch den Kopf, als der LKW sie auch schon rammte und den kleinen Polo mitsamt seiner Insassin durch die Luft gegen den nächsten Baum schleuderte.
Nick lachte höhnisch auf, als er mit seinem LKW erneut die Spur wechselte und seinen Fahrtweg ganz normal fortführte.
„Rache ist süß, Babe! Und denk bloß nicht, dass du die Einzige gewesen bist!“
Mit diesen Worten verschwand er hinter der nächsten Kurve.
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