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Sie wird sagen, dass es ihre Schuld war

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11.01.2003
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Sie wird sagen, dass es ihre Schuld war

Gedankenverloren sitzt sie an dem kleinen Tisch mit der kalten Marmorsteinplatte und beobachtet durch die große Glasscheibe die Menschen die eilig vorbeilaufen. Mit dem Zeigefinger pickt sie immer wieder kleine Zuckerkörner auf, reibt sie kurz zwischen den Fingern um sie dann doch vom Tisch zu kicken, oder im Aschenbecher zu versenken. Oft hat er sich darüber lustig gemacht, dass sie diese dumme Angewohnheit hat. Manchmal hat er ihr sogar absichtlich den Rest vom Zuckertütchen vor die Finger gekippt, nur um sie zu ärgern. Er wusste, dass es sie fast wahnsinnig macht, wenn Krümel am Tisch liegen. Den Kopf stützt sie müde auf ihre linke Hand, die sie zu einer Faust geballt hat. Er kommt ihr so schwer vor. Schwer und voller unvollendeter Gedanken, die doch so endgültig sind. Ihr Atem, der ihren Brustkorb in keinem normalen, ruhigen Rhythmus heben und senken lässt, wird ständig von einem tiefen seufzen unterbrochen. Ihr Herz schlägt schneller und unruhiger als sonst und manchmal stolpert es sogar, als möchte es einfach nur fallen um sich nicht mehr so anstrengen zu müssen. Die Kellnerin schiebt ihr wortlos den kurz zuvor bestellten Cappuccino unter die Nase. Ein wenig ärgert es sie, dass der auf der Schlagobershaube gestreute Kakao, den Rand von der Untertasse beschmutzt. Sie pickt ihn in alt gewohnter Manier mit den Fingern auf, verzichtet aber die Finger abzulecken. Er hätte sich darüber wieder aufgeregt und gesagt, dass sie sich nicht benehmen kann. Eigentlich könnte sie nun froh sein, dass er nicht tatsächlich neben ihr sitzt und ihre schlechten Manieren aufzeigt.

Ihr Blick fällt zum Eingang des Lokals, durch die gerade ein junges Pärchen stolpert. Verliebt halten sie sich an den Händen, und der Junge Mann hilft dem Mädchen aus dem Mantel. Sie stellt sich auf die Zehen und drückt ihm einen Kuss auf die Wange, er zieht sie sanft zu einem freien Tisch und rückt ihr den Stuhl zurecht. Ja, früher hat er das auch mal getan, erinnert sie sich. Und damals war sie beeindruckt von soviel Aufmerksamkeit die ihr entgegengebracht wurde. Genauso, wie sie es nun bei den beiden jungen Fremden beobachtet, von denen sie den Blick nicht abwenden kann. Zusammengekuschelt sitzen die beiden Verliebten auf der Eckbank, stupsen Nase an Nase, küssen sich und albern herum. Sie lachen und scheinen glücklich zu sein.
Gelacht, das hat sie auch gerne. Früher. Obwohl sie trotz allem immer Sehnsucht danach hatte, ist es ihr trotzdem irgendwann vergangen. Vielleicht ab dem Zeitpunkt, wo er ihr statt Küsse auf die Wange, die Faust auf die Lippe gedrückt hat. Nein, es war nicht seine Schuld. Warum musste sie ihn auch immer so provozieren? Sie hat wirklich kein Benehmen und vor allem war sie oft so Verständnislos ihm gegenüber. Sie hätte ihn nicht ständig so reizen dürfen und viel mehr auf ihn eingehen sollen, so wie er ihr es ja immer und immer wieder gepredigt hat. Wie zufällig fährt ihr Mittelfinger über die rechte, immer noch leicht geschwollene Augenbraue. Heute Morgen hatte sich das Blau schon ein wenig grünlich verfärbt und war nicht mehr so entstellend, wie noch vor drei Tagen. Wieder schweift ihr Blick zu dem jungen Pärchen. Der Junge kramt lächelnd in seiner Hosentasche, um dem Blumenverkäufer eine Rose für seine Liebste abzukaufen. Eigentlich hat sie das immer ein wenig kitschig gefunden. Und vielleicht hat er ihr deshalb niemals Blumen mitgebracht, weil sie das irgendwann einmal geäußert hat?

Ihr Blick fällt auf die Uhr, und sie weiß, dass es nun Zeit ist nach Hause zu gehen. Sie weiß, dass sie erwartet wird, und sie weiß, dass man ihr viele Fragen stellen wird. Die rote, blutige Vase wird ihr wahrscheinlich in einem kleinen Plastiksack vorgelegt werden. Und sie wird sagen, dass es ihre Schuld war.

 

Hallo Leonie!

Ich mag deine Art wie du erzählst.
Eine Kleine Geschichte bei der jedes Wort wahr sein könnte aber doch eine gewisse Ausnahmesituation beinhaltet.

Ich frag mich immer nur wie es im richtigen Leben soweit kommen kann. Naja wahrscheinlich gibt es eine art "Point of no Return" und wenn der überschritten wird ist Ratio und Emotion nicht mehr im Gleichgewicht; oder wie denkst du?

Greetings!
------------------
Face your fears.

 

Hallo Mr. Sieb :)

Danke für Deine nette Antwort, hat mich total gefreut :bounce: Ich denke, dass es Situationen gibt, denen man sich lange nicht wehren traut, später kann und sie noch viel später irgendwann doch über hat. Schon lange. Einmal traut man sich schliesslich.. und möglicherweise hat sich schon so viel Hass, Ekel, Abscheu und ähnliches angehäuft, dass "das Fass überläuft". Kurzschlusshandlung ist die Folge. Vielleicht nicht immer.. ach ich weiss auch nicht :bla:

:)

 

traurige geschichte ...

gefällt mir trotzdem ziemlich gut, ich mag solche geschichten weil ich selbst so oft traurig bin .
irgendwie tut es mir gut so was zu lesen, ich weiß aber auch nicht ganz genau warum ...

 

Mir geht's ähnlich. Ich bin zwar humorvoll, kann aber nichts lustiges schreiben. Manchmal tut es gut, traurig zu sein :) So komisch das auch klingt..

 

Hallo Leonie!

Auch in dieser Geschichte spricht die Leere aus der Protagonistin, leider führt diese Leere hier zu einem tragischen Ende.

Ich finde die Geschichte gut verpackt, das Aufpicken der Zuckerkörner ist eine gute Idee, die Leere in der Protagonistin darzustellen, die sich Liebe erhofft, aber Schläge und Schuldzuweisungen bekommen und sie so lange ertragen hat, bis sie nicht mehr konnte.

Finde ich gut gemacht. :thumbsup:

Das Übliche...;) :

"wird ständig von einem tiefen seufzen unterbrochen"
- Seufzen

"den Rand von der Untertasse beschmutzt"
- den Rand der Untertasse

"verzichtet aber die Finger abzulecken"
- verzichtet aber darauf, die

"Ihr Blick fällt zum Eingang des Lokals, durch die gerade"
- durch den gerade - "die" hieße es, wenn zuvor "zur Türe des Lokals" stehen würde

"an den Händen, und der Junge Mann hilft dem Mädchen aus dem Mantel"
- Händen (ohne Beistrich) und der junge Mann
- dem Mädchen? Besser wäre doch "der Frau", "seiner Freundin", oder?

"drückt ihm einen Kuss auf die Wange, er zieht sie sanft zu"
- das wirkt so aufzählend... vielleicht "auf die Wange, worauf er sie sanft zu..."?

"Gelacht, das hat sie auch gerne."
- hier würde ich davor eine Leerzeile machen und den Beistrich durch einen Gedankenstrich ersetzen

"Obwohl sie trotz allem immer Sehnsucht danach hatte, ist es ihr trotzdem irgendwann vergangen."
- entweder "Obwohl" oder "trotzdem" - beides ist um eins zu viel - und "trotz" steht so auch als Wortwiederholung da, also würde ich das "trotzdem" einfach weg lassen, und der Satz paßt. ;)

"war sie oft so Verständnislos ihm gegenüber"
- verständnislos

"Der Junge kramt lächelnd in seiner Hosentasche"
- nachdem ich schon das Mädchen kritisiert hab, muß ich jetzt auch den Jungen kritisieren. "Der junge Mann" oder "Der Verliebte"

"Und vielleicht hat er ihr deshalb niemals Blumen mitgebracht"
- wäre ohne "Und" schöner

"dass es nun Zeit ist nach Hause zu gehen."
- Zeit ist, nach

"Und sie wird sagen"
- das würde ohne "Und" viel besser wirken: Sie wird sagen, ...

Alles liebe,
Susi

 

Hallo leonie

Du hast mit wenigen Sätzen eine sehr gute bildliche Atmosphäre entstehen lassen. Beim lesen konnte ich mich sehr gut in die Gedanken der Frau hineinversetzen, wie auch in die Lokale Umgebung.

An einem Satz blieb ich jedoch hängen.

wenn Krümel am Tisch liegen

Müsste es nicht Auf dem Tisch heißen?
"Am" Tisch hört sich an, als würden die Krümel neben ihr sitzen.

Am Anfang dachte ich noch sie hat sich von ihm getrennt, weil sie alleine in der Kneipe sitzt. Den Schluß fand ich dementsprechend traurig, weil sie es nicht geschafft hat sich von ihm zu lösen.

Gruß
LoC

 

Hallo Leonie!
Deine Geschichte berührt mich, ich fand sie sehr (traurig-)schön. Weiter so.

Liebe Grüsse,
Marana

 

Geschrieben von Lady of Camster
Müsste es nicht Auf dem Tisch heißen?
"Am" Tisch hört sich an, als würden die Krümel neben ihr sitzen.
"Am" heißt ja "auf dem" - deshalb liegen in Österreich die Brösel wahlweise "am Tisch" oder "auf dem Tisch". Sitzen tun wie "beim Tisch". Wenn jemand "am Tisch sitzt", dann sitzt er obendrauf. ;)

 

Moin Leonie.
Auch mir gefiel die ruhige, doch untergründig gespannte Atmosphäre der Geschichte.Dass Du "Schlagobers, und am Tisch" geschrieben hast, sagte mir, dass da eine weiteres Östreicherkind in unserer Runde ist. Gerade die von dir beschriebenen Kleinigkeiten machen die Geschichte lebendig und rund.
Ich frag mich aber, ob man altgewohnt, nicht doch zusammenschreibt?
Ansonsten keine Kritik, trotz der ausweglosen Stimmung innerhalb der Geschichte... traurig-schön.

 

Hallo leonie,

eine schmerzvolle Geschichte mit tiefgehendem Inhalt.
Das Ende ist bedrückend und könnte gerade deshalb jederzeit so passieren. Wut über erlittene Demütigungen, Schmerzen und Ungerechtigkeiten, die im Griff zur Vase gipfeln.
Doch wieder glaubt sie, dass die Schuld bei ihr liegt.
So wird sie es der Polizei sagen.

Ein beeindruckender Text, der zum Nachdenken auffordert.

Liebe Grüße - Aqua

 

Oh! Danke euch allen für die Antworten :) Dachte nicht, dass den Text überhaupt noch jemand liest. Umsomehr freuen mich die positiven Antworten! :bounce: Das tut gut :D

 

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