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Sie lebten ja noch
Es gab einmal ein Haus. In diesem Haus, da wohnten Menschen. Viele Menschen. Gute Menschen, schlechte Menschen.
Sie waren alle glücklich, hatten was es braucht zum Leben.
Hatten warmes und kaltes Wasser. Hatten zu essen, zu trinken, waren verheiratet oder allein, waren jung oder alt.
Sie lebten alle. In einem Haus. Das Haus war alleine, es stand in einem Stadtteil. Ganz alleine.
Um es herum war alles flach. Ganz flach, kilometerweit in alle Richtungen. Flach wie ein Brett, oder wie die Pfannkuchen, die die Mutter Sonntagmorgens hin und wieder zubereitete.
Wenn es mal Milch gab. Und Eier.
Ohne Zucker dann zwar, weil Zucker gab es nicht, aber doch trotzdem gut.
Gut schmeckten sie, die Pfannkuchen. Am Sonntagmorgen. In dem Haus, in dem so viele Menschen wohnten und das in einem Stadtteil stand, den es nicht mehr gab.
Die Menschen waren glücklich. Sie lebten.
Sie lebten noch.
Das war nichts Selbstverständliches in dieser Zeit. Viele lebten schließlich nicht mehr.
So wie der Älteste von oben. Der war vor ein paar Monaten weggegangen. Da war der Stadtteil noch nicht platt gewesen, wie die Pfannkuchen von Sonntagmorgens.
Da war er weggegangen. Mit seiner tollen neuen Tasche und seinem Fahrrad. Zum Bahnhof hatten sie ihn gebracht, Truppentransport, ganz klar.
Er war nicht wieder gekommen.
Nur ein Zettel. Ein Zettel lag da eines Tages plötzlich vor dem Haus, in dem so viele Menschen wohnten. Gelblich war der, der Zettel.
Mit schwarzen Buchstaben darauf.
Die Menschen hatten geweint. Der Älteste von oben kam nicht wieder. Er lebte nicht mehr, so wie die Menschen, weil die waren ja noch da.
Und glücklich waren sie, die Menschen, weil sie zu essen und trinken hatten, wenn auch nur Kartoffeln und komisch riechendes Wasser, aber sie lebten. Und deshalb waren sie froh, die Menschen.
Es gab auch einen Hund, in dem Haus, in dem so viele Menschen wohnten und das in einem Stadtteil stand, den es nicht mehr gab.
Ein Labrador war das gewesen, ein schönes Tier. Bello hatten sie ihn genannt, weil er immer so viel bellte. Gelacht hatten sie, die Menschen, wenn er sie dann immer begrüßte, vor der Haustür. Dann wurde er immer gestreichelt, als ob er ein Plüschtier wäre wurde er gedrückt und geknuddelt bis er beinahe winselte.
Ja, das war Bello gewesen.
Aber jetzt war Bello fort. Er lebte auch nicht mehr.
„Hunde schmecken gut“, hatte der vom Kellergeschoss gemeint.
Die Menschen hatten in traurigem Einverständnis genickt.
Aber sie lebten ja noch.
Nicht so, wie die, denen damals in der einen Nacht die Decke auf den Kopf gefallen war. Bei dem einen Vorfall damals, als die Bunkertür geklemmt hatte.
Der vom Kellergeschoss hatte gemeint:
„Die könnwa nich reinlassen. Det jet nich, da gehen wa ja alle drauf, wa?“
Und die Menschen hatten auf ihn gehört. Auf den aus dem Kellergeschoss, mit der komischen Sprache.
Und dann war denen nebenan die Decke auf den Kopf gefallen.
Einfach so.
Und denen auf der anderen Seite auch. In der nächsten Nacht war es denen in der Blümeleinstraße passiert und danach denen direkt gegenüber.
Da war nichts mehr. Kilometerweit.
Die Menschen fanden es merkwürdig in einem Stadtteil zu wohnen, den es gar nicht mehr gab, aber eigentlich waren sie glücklich, weil sie lebten ja, hatten zu essen und zu trinken, auch wenn es nur Kartoffeln und komisch riechendes Wasser war.
Sie lebten noch.
Und dann war der vom dritten Stock plötzlich auch weggegangen. Einfach so, eines Tages, hatte gar nicht Auf Wiedersehen gesagt und war einfach weggegangen, mit dem Zug, wie der aus dem Kellergeschoss meinte. Er war auch nicht wieder gekommen, aber die Menschen waren hoffnungsvoll. Schließlich nahm ja alles mal ein Ende.
Auch der Krieg, nicht wahr?
Tja, und dann, ja dann eines Tages standen dann plötzlich die Polizisten vor dem Haus, in dem so viele Menschen wohnten und das in einem Stadtteil stand, den es nicht mehr gab.
Ganz viele Polizisten, in Uniform und Mütze und fragten nach dem aus dem dritten Stock.
Wollten alles wissen, ganz viel.
Aber natürlich konnten die Menschen nicht viel sagen. Der aus dem Dritten war ja einfach so gegangen, ohne etwas zu sagen.
Da hatten sie dann den aus der Nachbarwohnung mitgenommen.
„Staatsverhör“, hatte der aus dem Kellergeschoss gemeint.
Und die Menschen nickten.
Aber waren glücklich.
Sie lebten ja. Immer noch. Und sie hatten ihr Haus und das Dach auf dem Haus, das ihnen nicht auf den Kopf gefallen war und sie hatten zu essen und trinken.
Sie lebten.
Sie lebten ja schließlich.
Immer noch.
In der einen Nacht kamen dann die von da drüben, die, die keiner mochte, die jeder hasste.
Die kamen dann und flogen über den Stadtteil, den es nicht mehr gab.
Flogen ganz tief und schauten und lauschten, ob da irgendetwas war.
Sie sahen nichts. Nur den Pfannkuchen, nur die Trümmer, nur kilometerweit nichts.
Lange flogen sie da, sehr lange.
Und dann rief plötzlich einer etwas.
In einer komischen Sprache, die da unten wahrscheinlich keiner verstand. Ganz aufgeregt deutete er hinunter.
Und dann sahen es alle, alle die, von da drüben, die, die alle hassten.
Sie sahen es und warfen alles weg. Warfen ihr Verderbnis, die Bomben. Warfen den Tod, die Unvergesslichkeit.
Eiskalt fielen sie zu Boden.
Und das Dach fiel den Menschen, die in dem Haus wohnten, das in einem Stadtteil stand, den es nicht mehr gab, auf den Kopf.
Sie lebten nicht mehr.
Das Dach war zu stark, zu unabdingbar, zu tödlich.
Die von da drüben lachten.
Die, die keiner leiden konnte, die jeder hasste, sie lachten. Laut und schallend in die deutsche klare Nacht hinein.
Sie lachten.
Und sie hatten auch allen Anlass zum Lachen.
Sie lebten ja schließlich.
Immer noch.