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Sie ist es nie

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08.05.2002
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Sie ist es nie

Der Regen erstickt die Stadt seit Tagen. Die wenigen Menschen auf den Straßen laufen noch schneller als sonst aneinander vorbei. Heute geht niemand freiwillig raus.
Ich frage die junge Frau nicht, warum sie ihr Baby in einem Kinderwagen mit zum Einkaufen nimmt. Bei diesem Wetter. Ich lächle sie an, als sie sich abmüht, den Wagen rückwärts eine Treppe hinaufzuziehen, greife ihn vorne mit der rechten Hand und helfe ihr, das Hindernis zu überwinden. Die Dankbarkeit, die ihr ins Gesicht geschrieben ist, lässt mich an meine Frau denken.
Der Lüftungsschacht am Eingang des Kaufhauses bläst mir viel zu warme Luft ins Gesicht. Das Gebäude selbst ist überheizt, und durch die Hitze dampft die feuchte Kleidung der Menschen. Der Dampf gibt der Luft einen schimmligen, dreckigen Geruch.
Diese Menschen. Mütter, die damit beschäftigt sind, ihren Kindern zu erklären, warum sie nicht das ganze Süßwarenregal an der Kasse ausräumen dürfen, nur um sie dann mit einem Schokoladenriegel vom Weinen abzubringen. Pärchen, denen der Regen nichts auszumachen scheint. In einem bestimmten Stadium des Verliebtseins findet man wahrscheinlich alles romantisch. Das war schon immer so. Auch bei mir.
Eine Gruppe Jugendlicher, die Alkohol- und Chipsvorräte für die Party kaufen, auf die sie sich schon seit Wochen freuen. Und dann sind da die alten Frauen mit ihren nach Mottenkugeln riechenden Mänteln und den wasserabweisenden Plastikkopftüchern. Braune Einkaufstaschen, gebückter Gang. Seht alle her wie mich das Leben geprägt hat und wie ich leiden musste. Dicke Brillengläser, die die Augen riesig scheinen lassen. Zwei dieser alten Damen sind in ein Gespräch vertieft, und sie reden so laut, dass es scheint, sie wollten alle Welt wissen lassen, wie sehr diese Stützstrümpfe drücken und dass das neue Abführmittel wirklich das beste ist. Seht nur her...
Eine Stimme hinter mir ruft: „He! Sie da, warten sie!“ Ich drehe mich um und sehe eine junge Frau, die schnellen Schrittes in meine Richtung läuft. Sie muss sich durch die Schlangen vor den Kassen drängen. Ich ziehe meine Mütze weiter ins Gesicht und gehe schneller. Wahrscheinlich meint sie nicht mich. Ich gebe es nicht gern zu, aber mein Herz schlägt etwas schneller. Als sie mich einholt, atmet sie erst tief durch und sieht mich dann an. Ich lächle. Sie sieht mich weiter an und ich lächle weiter. Ja? Dann senke ich den Kopf und sehe den Grund für ihre Verfolgung. Jetzt lache ich. „Sie haben ihren Handschuh verloren.“ Mein Handschuh. Natürlich. Danke. Wiedersehen.
Den Handschuh stecke ich in meine Manteltasche und gehe wieder über den Lüftungsschacht, halte aber diesmal die Luft an. Ich spüre die Wärme, doch kurz darauf nimmt mir der schneidende Herbstwind fast den Atem. Es ist selten so kalt im Herbst. Aber dieser Herbst ist ein besonderer.
Ein Häuflein Mensch sitzt auf dem kalten, nassen Boden. Im Vorbeigehen lege ich zehn Euro in seine Büchse. Hey, Alter, der Fusel wird dich irgendwann umbringen. Vielleicht schon heute, wenn du hier auf der Straße pennst. Aber jeder sollte tun, was ihn glücklich macht.
In Gedanken noch bei dem Penner laufe ich weiter, den Blick auf den Boden gerichtet, damit der Wind mir nicht die Tränen in die Augen treibt.
Plötzlich pralle ich auf ein weiches Hindernis. Eine Frau schreit erschrocken auf und fällt mitsamt ihrer Einkäufe auf den nassen Boden.
Ich bücke mich, um der Frau auf die Beine zu helfen. „Entschuldigen Sie bitte! Ich habe sie nicht gesehen! Es...“
Ich falle fast selbst, als sie sich vorsichtig umdreht und mir ins Gesicht sieht. Sie ist es. Ihre Augen, ihre Nase, ihr Mund. Obwohl ihr Haar unter der Kapuze versteckt ist, weiß ich, dass es dunkelbraun ist. Dunkelbraun, schulterlang und mit ein paar hellen Strähnen. Und ich weiß, dass sie am rechten Ringfinger einen silbernen Ring mit einem winzigen Diamanten trägt. Es war kalt draußen, kalt und regnerisch, als ich ihr diesen Ring schenkte. Im Jahr darauf wollten wir heiraten. Im Mai, weil es im Mai sonnig und warm ist.
Im März verschwand sie ohne ein Wort. Und jetzt war sie wieder da, sie war die Frau, die dort auf dem Boden lag und sich aufrappelte.
„Warten Sie, ich helfe Ihnen!“
„Danke. Ich muss mich auch entschuldigen. Weiß nicht, wo ich mit meinen Gedanken war.“
Die Stimme passt nicht so ganz, und ich sehe eine blonde Haarsträhne, die sich aus der Kapuze hervorschlängelt. Aber wen interessiert schon die Haarfarbe? Haare kann man heutzutage sogar blau färben.
Als sie steht, nimmt sie ihre Taschen wieder in beide Hände.
„Ich würde Sie gerne zu einem Kaffee einladen. Als Wiedergutmachung.“
Die Frau zögert, sieht auf die Uhr, sieht mich an. Ich versuche es mit meinem gewinnendsten Lächeln. „Gut, mir ist sowieso kalt und ich habe noch etwas Zeit.“
„Wunderbar. Ich kenne da ein gemütliches kleines Café ganz in der Nähe! Darf ich Ihnen die Taschen abnehmen?“
„Ja, gerne. Gut, gehen wir.“
Als ich ihr die Taschen aus den Händen nehme, sehe ich einen goldenen Ring, wo der silberne hätte sein sollen. Aber wen interessiert so ein dummer Ring?
Wir biegen in eine kleine Seitengasse ein. Der wenige Lärm, den die paar Menschen in der Einkaufspassage machen, verschwindet mit der Zeit völlig. Ich rede lauter, damit meine Stimme das Echo unserer Schritte, die die einzigen sind, und das Prasseln des Regens übertönt. „Wohnen Sie schon länger in dieser Gegend?“
„Nein. Mein Mann und ich sind erst im Mai hierher gezogen. Kurz nach unserer Hochzeit. Ich wusste nicht, dass es hier so kalt wird. Richtig ungemütlich.“
Nein. Die Stimme passt nicht. Ganz und gar nicht. Und ich bemerke, dass diese Frau viel kleiner als sie ist. Sie trägt nicht ihren Ring, und sie hat nicht ihre Haare. Ihre Augen sind dunkel, nicht blau wie ihre. Die Lippen sind schmaler, die Nase spitzer, und eigentlich hat diese fremde Frau, die neben mir läuft, plötzlich nicht mehr die Spur einer Ähnlichkeit mit meiner.
Ich habe mich geirrt, und diese Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag. Warum passierte das immer wieder? Ständig diese Frauen, die aussehen wie sie, und nie ist sie es! Weil sie nie wieder zu mir zurückkommt!
Im Gehen hole ich die Handschuhe aus meiner Tasche und ziehe sie an. Ich wundere mich, warum die Verkäuferin den markanten dunklen Fleck auf dem Handschuh nicht bemerkt hat, als sie ihn mir nachtrug. Vielleicht hielt sie ihn für Motoröl.
Die fremde Frau, die nicht meine verschwundene Frau ist, sieht erschrocken aus, als sie sieht, was ich noch aus der Manteltasche hole. Genauso erschrocken, wie ich war, als ich bemerkte, dass die Frau nicht meine ist. Verdammt, das sind sie nie, aber ich hoffe es immer wieder.
Mehr als einen kleinen Schrei, wie der, als sie vorhin fiel, kommt nicht mehr aus ihrem Mund, bevor mein Skalpell durch ihren Hals fährt. Sie starrt mich ungläubig und entsetzt an, bevor sie zusammenbricht.
Die Taschen, die ich fallen lassen musste, sind nass und dreckig, ein paar Einkäufe liegen verstreut auf der Straße. Ich lasse sie liegen.
Der Regen wäscht das meiste Blut von meiner Jacke, doch ich werde sie zu Hause weg werfen. Genauso, wie die Handschuhe.
Ich hoffe immer noch, dass sie irgendwann zurückkommt. Ich gebe nicht auf.

 

Hi Singerl,

ich fand deine kleine Geschichte persönlich nicht so gut.
Dein Stil ist in Ordnung und sauber, daran liegt es nicht! Vielmehr konnte ich mit der Geschichte nicht so viel anfangen. Ein verbitterter Mann, der seine Frau "wiederfinden" will und desswegen alle anderen Frauen tötet die ihr ähnlich sehen. Irgendwann muss er dann ja mal Glück haben, gell? :)
Für mich ist aber ganz klar zu wenig Handlung in dem Text. Deine Beschreibung von den unterschiedlichen Personengruppen ist zwar amüsant und nicht verkehrt, aber für die eigentliche Story absolut nebensächlich.
Es sei denn, du wolltest die vielen Einzelschicksale deutlich machen.
Horror oder Spannung erzeugst du auch keine. Die Frau ist ja so schnell umgebracht, dass man als Leser meinen muss einen Satz überlesen zu haben.

Hier noch eine Anmerkung:

Bei diesem Wetter geht niemand freiwillig raus.Ich frage die junge Frau nicht, warum sie ihr Baby in einem Kinderwagen mit zum Einkaufen nimmt. Bei diesem Wetter.
"Bei diesem Wetter" würde ich einmal streichen. Vielleicht den Satz mit dem Kinderwagen ein bisschen umstellen.

Und dann sind da die alten Frauen mit ihren nach Mottenkugeln riechenden Mänteln

Haha, wie wahr :D

Also wie gesagt. Deine Geschichte war angenehm kurz und gut lesbar! Ansonsten hats mich nicht vom Hocker gerissen.

*Christian*

 

Hi!

Ich muß mich größtenteils der Meinung von ANiMA anschließen. Die Schilderung der Einzelschicksale ist wirklich gelungen, auch diese düstere Herbst-Atmospähre hast du gut hingekriegt. Am besten gefällt mir jedoch die Andeutung bezüglich des Flecks auf dem Handschuh. Das löst schon eine kribbelnde Vorahnung aus. Doch dann gehts einfach zu schnell, der plötzliche Mord an der Frau und die doch etwas dürftige Erklärung, dass er das nur tut, weil er "seine" Frau nicht wieder findet sind meiner Meinung nach die größten Schwachpunkte dieser Geschichte.

Zusammenfassend würd ich sagen, guter Stil, tolle Atmosphäre aber die Handlung kann da leider nicht ganz mithalten.

Bye, Elroy

 

Danke Blackwood, dass du verstanden hast, dass ich den Mord nicht genauer beschrieben habe, und dass die Trauer diesen Mann eben einfach in den Wahnsinn getrieben hat. Ich denke, es gibt Menschen, die aus wesentlich nichtigeren Gründen morden.
Und danke für das Lob.
Greetings, L.

 

Hallo Singerl,

Deine Geschichte läßt sich gut lesen, angenehmer Stil. Besonders die Atmosphäre, diese leichte Melancholie über allem, hast du gut getroffen.
Ich finde es geschickt, dass du den Mord "nebenbei" erwähnt hast. Ein ausführlich geschilderter Mord wäre in diesem Fall ein stilistischer Bruch, der nicht zu diesem "verfeinerten", von Trauer gekennzeichneten, abgedrehten Mann passt. So hat die story etwas Surreales, was mir gefällt.

Der Plot scheint mir hingegen nicht neu zu sein. Es gibt eine Geschichte von Stephen King [Der Mann, der Blumen schenkte(?)], die deiner in vielem ähnlich ist, aber auch wieder anders. Hab sie nicht zu Hause, sonst könnte ich dir den Titel exakter nennen.
Das soll keine Kritik an deinem Text sein, nur ein Hinweis. Vielleicht kennst du die Story auch?

Pe

 

Hey Petdays!
Die Story,die du meinst, heißt "Der Mann, der Blumen liebte", und ich kenne sie. Ich weiß, dass man gewisse Parallelen erkennen kann, hab aber nicht versucht, Stephen King zu imitieren. Aber ich habe mich beim Schreiben an das GEfühl erinnert, dass ich beim Lesen der Story von King hatte.
Danke für deinen Kommentar!
Greetings, Singerl

 

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