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Sie hat Angst, er nicht
Sie rennt. So schnell, wie ihre Füße sie tragen, solange, wie ihr Herz noch Blut pumpen kann. Immer weiter.
Da sind Schritte hinter ihr, sie kann sie hören, aber ihr Gehirn ist nicht in der Lage, die Information zu verarbeiten. Ihr gesamter Fokus liegt auf der Strecke vor ihr. Alles andere ist unwichtig, nein, mehr noch, alles andere hört auf zu existieren, sobald sie anfängt zu laufen. Es ist Freiheit.
Nur widerwillig entschleunigt sie, bis sie letztendlich stehen bleibt. Ihre Lungen gieren nach Luft und sie hat das Bedürfnis, sich einfach fallen zu lassen, dabei ist das die falsche Reaktion. Langsames Auslaufen ist besser für den Kreislauf.
„Lea!“
Sie dreht ihren Kopf zu ihrem Trainer, auf seinen Lippen ist ein breites Grinsen und als er den Daumen hochhebt, da weiß sie, sie hat nicht nur die Anderen überholt - wie immer - sondern auch sich selbst. Zum ersten Mal seit drei Jahren.
Er kämpft. Das Schwert liegt schwer in seinen Händen, sein Körper ist es nicht gewohnt ein derartiges Gewicht zu stemmen. Doch er kann nicht aufgeben, zumindest nicht, wenn er sein Leben wertschätzt, und das tut er, sehr sogar.
Heißer Atem schlägt ihm entgegen. Er schluckt und blickt der Bestie direkt in die rot glühenden Augen. Jetzt oder nie.
Die Götter um Kraft anflehend, zieht er das Schwert über seinen Kopf und schlägt mit einem lauten Kampfschrei zu.
„Marlon?“
Überrascht tritt er aus der fantastischen Welt seines Buches. Kurz blinzelt er, um sich daran zu erinnern, wo er sich befindet. Vergessen sind die menschenfressenden Drachen und die mutigen Helden, die sie in die Flucht schlagen.
Vor ihm steht seine Ärztin, ein mitfühlendes Lächeln umspielt ihre Lippen. In ihren Händen hält sie sein Medikament.
Er sieht zu seinem Nachttisch, auf dem sich Bücher stapeln. Obwohl ihm vorher bewusst war, dass er sie unmöglich alle hier lesen kann – insbesondere weil er in nur wenigen Stunden sich zu schlecht fühlen wird, um irgendetwas zu tun – hatte dennoch der Optimismus gesiegt.
Sie warten. Unruhig schwingt Lea ihre Beine hin und her, Marlon sitzt ihr gegenüber in ein Buch vertieft. Beide sind die einzigen ohne Eltern, mit ihren sechzehn Jahren fühlen sie sich zu alt, um noch zum Arzt begleitet zu werden.
Genervt stöhnt Lea, genau in dem Augenblick liest Marlon den letzten Satz und sieht auf. In seinem Rucksack befinden sich weitere Bücher, er geht nie ohne mindestens drei Exemplare aus dem Haus. Aber sie hat seine Aufmerksamkeit erregt.
Ihr blondes Haar reicht ihr beinahe bis zum Kinn, die Augen sind braun und wandern ziellos durch den Raum. Es ist diese Rastlosigkeit, die ihn an die Piratenkönigin aus seinem Buch erinnert.
„Wohin setzen wir unsere Segel, mein Kapitän?“
Irritiert runzelt sie die Stirn, dann mustert sie ihn eindringlich. Auffällig an ihm sind nur die unzähligen Sommersprossen, früher auch seine feuerroten Haare, aber die sind schon vor Wochen ausgefallen. Jetzt trägt er schwarze Mützen.
„Norden, immer weiter in den Norden. Bis zum Ende der Welt“, antwortet sie schließlich abenteuerlustig.
„Das klingt nach einer langen Fahrt. Haben wir genug Lebensmittel geladen?“
„Höre ich da Zweifel? Muss ich dich daran erinnern, was ich mit dem letzten Matrosen gemacht habe, der meinte es besser zu wissen?“
Angsterfüllt hebt er die Hände. „Nein, mein Kapitän. Verzeiht. Ich wollte doch nur wissen, was der Plan ist.“
Wütend funkeln ihre Augen ihn an.
„Wenn ich wollen würde, dass du den Plan kennst. Dann würde ich ihn dir verraten. Ich glaube, ein wenig Kielholen könnte dir nicht schaden.“
Sie sehen sich an, ihre Mundwinkel zucken, dann brechen sie gleichzeitig in schallendes Gelächter aus.
Ihr Chatverlauf könnte mehrere Bücher füllen, nicht, dass er es wert ist. Eigentlich besteht er nur aus dummen Witzen, gelegentlichen Absprachen zu Verabredungen und manchmal, aber wirklich nur manchmal, da besprechen sie den Ernst des Lebens – meist mit einem Augenzwinkern.
Trotzdem schlagen ihre Herzen schneller, wenn sie ihr Handy vibrieren spüren und plötzlich sind sie nicht mehr nur er und sie, sondern ein wir.
Nervös spielt sie mit dem Tragegurt ihrer Umhängetasche und liest den Warnhinweis, der an der Eingangstür der Station hängt. Sie kennt ihn.
Es ist die Bitte, nur gesund die Patienten zu besuchen, zu schwach ist ihr Immunsystem, um eine simple Infektion verkraften zu können.
Gesund ist sie, zur Sicherheit ist sie am Morgen noch beim Arzt gewesen. Was sie zurückhält, sind Erinnerungen.
Der Geruch, die Übelkeit, die Medikamente und vor allem die Furcht.
Die Angst ist überall, gleich wohin sie geht, gleich wie schnell sie rennt, ihr kann sie nicht entkommen. Aber sie versucht es, immer wieder.
Und so betritt sie schwungvoll – Flucht nach vorne – die Station.
Im Gegensatz zu anderen Krankenstation bemüht man sich hier einen liebevollen Ort zu kreieren. Die Wände sind bunt und mit Comicfiguren verziert, es gibt eine Spielecke an der rechten Seite für die Kleineren, links einen Schrank mit Brettspielen, Konsolen und DVDs für die Älteren. An Geld mangelt es nicht, denn kranke Kinder ziehen Spenden an.
Zielsicher geht sie an den Spielsachen vorbei und ins Zimmer 311. Sie kennt den Weg.
Wie erwartet sitzt Marlon im Bett und liest. Beim Lesen ist sein Mund immer leicht geöffnet, so als staune er über jedes Wort. Leise schließt sie die Tür, dann baut sie sich vor ihm auf, die Hände in die Hüften gestemmt. Gespielt böse blickt sie auf ihn herab.
„Ein Kapitän wird anständig begrüßt, wenn er den Raum betritt!“
Erschrocken lässt Marlon das Buch fallen, doch beginnt zu lächeln, als er realisiert, wer vor ihm steht. Sofort zieht er sie zu sich aufs Bett. Ihre Lippen berühren sich federleicht. Kurz zögert sie, denkt an all die Bakterien und sein Immunsystem, doch da ist seine Zunge schon in ihrem Mund. Automatisch legen sich ihre Hände auf seine Brust, auf der linken Seite spürt sie den Katheter. Ein vertrautes Gefühl.
„Ist ein Kuss zur Begrüßung angemessen?“
Verschmitzt grinst Marlon.
„Ein guter Kuss wäre es.“
Bevor er ihrer Herausforderung nachkommen kann, weicht sie zurück, um sich die Schuhe auszuziehen und neben ihm ins Bett zu legen. Erst dann erlaubt sie ihm seine Zungenfertigkeiten unter Beweis zu stellen.
Marlon zu küssen ist wie laufen. Es lässt sie Zeit und Raum vergessen.
„Ich unterbreche euch nur ungern.“
Schlagartig trennen sie sich voneinander, Marlons Gesicht verfärbt sich rot, während Lea erblasst. Vor ihnen steht eine Ärztin, die Medikamente in der Hand.
„Lea?“, fragt diese überrascht.
Alles in ihr zieht sich zusammen. Es ist ein zu bekanntes Bild. Sie erinnert sich daran, wie die Medikamente in sie flossen. Da sie kühl gelagert werden mussten, waren sie eiskalt und so wickelte sie sich stets in die Krankenhausdecke, um die Kälte zu vertreiben. Wenn diese verschwand, dann kam das Erbrechen. Ihr Mutter hielt ihr mit einer Hand eine Nierenschale hin, mit der anderen strich sie zärtlich über ihren Rücken.
Aber am schlimmsten war das Warten gewesen. Das Warten auf Ergebnisse. Das Warten auf den Moment, in dem alles wieder gut werde.
„Ich denke, ich sollte gehen“, sagt Lea und fühlt sich feige. Aber sie muss gehen. Muss laufen. So schnell wie möglich, so weit wie möglich.
Lea fliegt. Ihre Füße berühren nur für wenige Sekunden den Boden, dann sind sie wieder in der Luft. Er beobachtet sie gerne dabei.
Das Training findet hinter ihrer Schule statt und obwohl seine sich am anderen Ende der Stadt befindet, so gibt ihm allein das Dasein der Institution ein Gefühl der Normalität. Seine Freunde scherzen über seine Sehnsucht nach der Schule, beschweren sich über die Lehrer und die Menge an Hausaufgaben. Sie verstehen es nicht.
Lea dagegen weiß, was er fühlt, noch bevor er es selbst weiß und vielleicht ist das der Grund, warum sich ihre Beziehung so leicht anfühlt.
Mit weiten Abstand zu den anderen Mädchen kommt sie als Erstes am Ziel an. Stolz erfüllt ihn, er selbst war nie ein Sportler. Doch es macht Mut zu sehen, dass er die verlorene Zeit nicht nur wieder einholen, sondern auch überholen kann.
Voller Energie, als könne sie die Strecke nochmal im gleichen Tempo laufen, winkt sie ihm zu.
Genauso strahlend erwidert er das Winken.
In der Zeit, die sie fürs Duschen und Umziehen benötigt, schläft er. Zur Zeit kann er jederzeit und an jedem Ort einschlafen, sein Körper ist ausgelaugt von der letzten Therapie.
Leise setzt sie sich neben ihn, um ihn nicht zu wecken, doch er hat ihre Anwesenheit schon längst bemerkt. Sanft zieht er sie zu sich runter, sodass er sie küssen kann. Entgegen ihres sonst stürmischen Gemüt ist sie hierbei scheu. Ihm gefällt diese schüchterne Seite an ihr.
„Zu mir oder zu dir?“
Lea rollt mit den Augen, doch kann sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. „Ich dachte, wir bleiben einfach hier. Dann können dich deine Eltern später abholen und wir sparen uns das Taxi.“
Ernst sieht er ihr in die Augen, langsam zieht er etwas aus seiner Hose und setzt es sich dann mit einer dramatischen Geste auf: ein Mundschutz.
„Matrose Marlon ist nun in Uniform und einsatzbereit für die U-Bahn.“
Obwohl Lea lacht, kann er dennoch die Sorge in ihren Augen erkennen. Es ist die gleiche wie bei seinen Eltern, die ihm ohne Weiteres jede Taxifahrt bezahlen würden.
Sie liegen gemeinsam auf einer Decke. Über ihnen funkeln die Sterne. Oder eher die leuchtenden Plastiksterne, die Marlon als Kind in seinem Zimmer aufgehängt hat. Ihre Hände sind ineinander verhakt.
Lea öffnet ihren Mund, um etwas zu sagen. Doch sie zögert. Unsicher schielt sie zu ihrem Freund, der friedlich in den falschen Nachthimmel starrt. Die Wärme seines Körpers beruhigt sie.
„Ich habe Angst“, wispert sie und ist sich nicht sicher, ob er es gehört hat. Ohne Fragen zu stellen, dreht er sich zu ihr und legt ein Arm um sie. Beruhigend streicht er mit einer Hand durch ihr Haar.
„Du nicht?“, fragt sie und schafft es nicht ihm dabei in die Augen zu sehen.
Leicht schüttelt er den Kopf. „Wovor?“
Dem Tod.
Das Wort liegt auf ihren Lippen, aber sie schluckt es hinunter. Erinnert sich an ihre Erkrankung und sie weiß, dass es keine Option für ihn ist. Er kämpft, muss kämpfen, weil er keine Wahl hat, und dafür braucht er Hoffnung, brauchte sie Hoffnung.
Sonst ist die Tortur nicht durchzustehen.
Zärtlich fährt sie mit ihren Finger seine Gesichtskonturen entlang und als sie ihm doch in die Augen blickt, sieht sie den feinen Unterschied zwischen ihnen.
Während er nichts mehr zu verlieren hat, ist er doch schon krank, fürchtet sie, dass der Krebs sie erneut aus dem Leben reißt.