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Sie haben meinen Koffer
Der Aktenkoffer stand auf vier Metallknöpfen gestützt neben der rechten Seite der Parkbank. Es war ein unscheinbarer, gewöhnlicher, brauner Kunstlederkoffer, der sich in nichts von unzähligen anderen seiner Art unterschied, außer dadurch, dass er an einem bewölkten Dienstagnachmittag im Stadtpark besitzerlos, wie ein herumstreunender Straßenköter ohne Hundemarke, seinem ungewissen Schicksal harrte.
Aber all dies wusste Halsten nicht, denn noch war er sich der geheimnisvollen Existenz des Koffers nicht bewusst geworden. Kurz vor achtzehn Uhr hatte er die linke Hälfte der schwarz gestrichenen Parkbank in Beschlag genommen, während die rechte Seite von einem älteren, distinguiert wirkenden Mann vereinnahmt worden war. Um diese Zeit war es der Sonne gelungen, den dunklen Wall aus Wolken zu durchbrechen. Doch nunmehr, etwa eine halbe Stunde später, standen alle Zeichen des Himmels auf Regen.
Halsten hätte seinen letzten Urlaubstag gerne unter einem blauen, warmen Firmament verbracht. Aber die drückende, dichte Schwüle sprach eindeutig dagegen. Es würde auch diese Woche keine Hoffnung auf sommerliches Wetter bestehen. Halsten seufzte aus tiefstem Herzen, denn im Grunde verkörperte das Wetter nur seinen seelischen Zustand: Es schien, als hätte sich jegliches Glück von ihm abgewandt und würde ihn unentwegt mit Hohn überschütten.
Die ganze Welt hatte sich gegen ihn verschworen: Seit zwei Wochen war sein Fernseher defekt und irgendein Witzbold hatte letzte Woche sein Türschloss mit Sekundenkleber aufgefüllt. Halsten hatte die Tür aufbrechen und ein neues Schloss einsetzen lassen müssen. Seine Haushaltsversicherung hatte ihm nach telefonischer Anfrage mitgeteilt, dass sie für den Schaden leider nicht aufkommen könne. Gleiches galt natürlich für den Fernseher.
Halsten vermutete, dass die Versicherung nur dann bereitwillig zahlen würde, falls die Luftwaffe versehentlich eine Atombombe in seinem Schlafzimmer hochgehen ließe.
Dem nicht genug, hatte ihn vergangenen Mittwoch die hübsche Bibliothekarin aus der Stadtbücherei abblitzen lassen, als wäre er ein Zombie aus einem George A. Romero-Film, dem bei jedem Schritt ein Stückchen faules, schwarzes Fleisch abfiel.
Daraufhin hatte Halsten beschlossen, sich zum Analphabetismus zu bekehren und um die Bibliothek den gleichen weiten Bogen wie um einen mit besoffenen Teufelsanbetern vollbesetzten Kleinbus zu machen.
Das Maß aller schlechten Dinge war jedoch sein berufliches Verhältnis zu Josh Wilson, Geschäftsführer des Lebensmittelladens, in welchem Halsten sein kärgliches Einkommen verdiente. Auf einen einfachen Nenner gebracht, war es Wilsons stillschweigendes Ziel, seinen Untergebenen bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu demütigen.
Wilson selbst nannte es euphemistisch „Belehrung“. Aber es war nicht zu übersehen, welch ein Genuss es ihm war, Halstens angebliche Unfähigkeit zu brandmarken. Am besten vor versammelter Belegschaft. Es genügte die geringste Lappalie, um Wilson wütend zu stimmen.
Einmal ließ Halsten vor den Augen Wilsons beim Auffüllen der Regale eine Suppendose fallen. Die darauf folgende, fast fünfminütige Belehrung würde Halsten niemals vergessen. Dafür hatte Wilson schon gesorgt.
Kalte Regentropfen prasselten unvermittelt auf seiner Stirn nieder. Instinktiv fuhr Halsten hoch und machte sich wie die anderen Parkbesucher daran, das Gelände zu verlassen. Flüchtig sah er zur Seite und bemerkte erstaunt, dass der ältere Herr bereits gegangen war. Im selben Moment gewahrte er auch den Koffer, auf dessen glatter Oberseite sich Nässe sammelte und in winzigen Pfützen seitlich abfloss. Halsten richtete seinen Blick auf die überstürzt davoneilenden Menschen. Vermisste denn niemand von ihnen einen Aktenkoffer? Schon wollte Halsten den Koffer ergreifen, doch im letzten Augenblick hielt er inne: Was, wenn ihn jemand in seinem Tun beobachtete und die falschen Schlüsse daraus zog?
Halsten fühlte sich unbehaglich, denn zum einen wollte er in seine Wohnung und seine Kleidung wechseln; zum anderen konnte er den Koffer nicht einfach im Regen stehen lassen, sich darauf verlassend, dass irgend jemand, wahrscheinlich der ältere Herr, den Verlust bemerken würde.
Unentschlossen wartete Halsten. Der Niederschlag ergoss sich weiter unbarmherzig über ihn und wurde von der Baumwollkleidung gleichgültig aufgesogen.
Mit jeder Minute, die verstrich, wuchs die Gewissheit, dass er sich des Koffers annehmen müsste. Endlich, nachdem sein T-Shirt wie ein nasser Fetzen an seinem vor Kälte zitterndem Oberkörper klebte und seine Socken gierig wie ein Dürstender Wasser schluckten, entschloss er sich zu pflichtbewusstem Tun.
Er nahm den Aktenkoffer an sich und ging schnellen Schrittes den Schotterweg entlang. Zwar hätte er das Gepäcksstück schützend über den Kopf halten können, um sich des Regens zu erwehren, aber dies schien ihm nicht angebracht. Immerhin handelte es sich nicht um seinen Koffer, sondern um einen Fundgegenstand.
Bei jedem Schritt rechnete er mit dem gellenden Aufschrei einer Stimme: "Halt! Warten Sie! Sie haben meinen Aktenkoffer! He, warten Sie gefälligst, das ist mein Koffer! Polizei!"
Doch niemand rief ihm hinterher. Und als er die Straße erreichte, entschied er, dass er den Koffer morgen dem Fundamt übergeben würde. Ja, morgen wäre es noch früh genug.
***
Mit einem Pyjama bekleidet begann er sich eingehender mit der Frage zu beschäftigen, was in dem Koffer enthalten sein könnte. Vorsichtig schüttelte er ihn. Es schien sich nur ein einziger, kompakter, leichter Gegenstand darin zu befinden. Halsten trug ihn in die Küche, um ihn bei einer Tasse heißer Schokolade und guter Musik diesen genauer unter die Lupe zu nehmen.
Sorgsam stellte er den Koffer auf dem kleinen Frühstückstisch ab. Von hellbrauner Farbe war das Ding, billig in seiner Aufmachung, mit Kunstleder überzogen und einem dreistelligen Nummernschloss versehen. Es konnte keine zwanzig Dollar gekostet haben, dachte Halsten, während er aus dem Kühlschrank eine Tüte Milch entnahm, öffnete und daran roch.
Angewidert rümpfte Halsten die Nase. Entweder war die Milch sauer oder sie stammte von einer Zombie-Kuh, die langsam verweste, aber auf geheimnisvolle Weise weiterhin Milch gab. Halsten stellte die Tüte zur Seite. Dann wandte er sich dem Radio zu, einem Gerät, das aus einem Land importiert worden war, dessen Namen er nicht buchstabieren konnte. Er schaltete es an - und wich erschrocken zurück. Aus den Boxen züngelten blaue, elektrische Flammen. Nach den ersten Schrecksekunden besann er¬ sich und riss das Kabel schwungvoll aus der Steckdose.
Möglicherweise war dieser Tag nicht sein Glückstag. Natürlich hatte er noch nie einen wirklich glücksseligen Tag verlebt, aber dieser Dienstagnachmittag trat ihn ein ums andere Mal in den Allerwertesten. Schöner Urlaub! Eigentlich hatte er erst auf Anraten Wilsons um eine Woche Urlaub angesucht. Aber er hatte nach kurzem Überlegen begriffen, dass ein paar Tage Abstand von seiner Arbeit und den damit verbundenen Unannehmlichkeiten nicht das Schlechteste sein konnten, um neuen Mut und Energie zu tanken.
Ob Wilson Ärger mit seiner Frau und seinen beiden Kindern hatte und diesen an ihm ausließ? Aus eigener, nicht wenig leidvoller Erfahrung wusste er, dass angestauter Ärger sich an irgendeiner Stelle entladen musste. Meist an der Schwächsten.
In seiner Schulzeit war dies ein Kerl namens Zuck gewesen. Ein Typ von kleiner, korpulenter Statur, von Natur aus dumm und wie geschaffen als seelischer Sandsack. Vielleicht büßte Halsten Jahre später für die vielen Gemeinheiten, die er an Zuck verübt hatte?
Der Koffer ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Was mochte er beinhalten? Ein unangenehmer Gedanke breitete sich in seinem Kopf aus: Wenn es nun ein Sprengsatz war, gekoppelt an eine Uhr? Halsten war gegen Wohnungsschäden in Folge explodierender Aktenkoffer nicht versichert.
Er wischte den Gedanken rasch zur Seite: Ein Terrorist würde seine tödliche Fracht nicht in einem Park abstellen und bestenfalls ein paar Eichhörnchen oder Mäuse in die Stratosphäre schießen. Vorsichtshalber lauschte Halsten dann doch an dem Koffer, vernahm jedoch kein verräterisches Ticken. Und wenn es sich um einen Digitalwecker handelte?
"Quatsch", flüsterte Halsten, um sich zu beruhigen. Morgen würde er das Ding beim Fundamt abgeben und all dieser dunklen Ängste entledigt sein. Aber dann würde er auch niemals erfahren, was es mit dem Inhalt auf sich hatte. Halsten schätzte sich selbst als nicht übermäßig neugierigen Zeitgenossen ein. Doch der Drang des Unbekannten war allzu mächtig, um diesem zu widerstehen.
Und deshalb probierte Halsten, ob sich denn der Koffer öffnen ließe. Die Zahlenkombination war 123 und erwies sich als unrichtig. Aus einer Laune heraus versuchte es Halsten mit allen gleichzahligen Kombinationen, war damit jedoch ebenso erfolglos.
Wie zum Trotz setzte eine glühende Neugierde ein, und Halsten ging methodisch vor, indem er von 001 ansteigend dreistellige Zahlenreihen bildete. Es nahm keine zwanzig Minuten in Anspruch, bis er rund hundert mögliche Kombinationen versucht und wieder verworfen hatte, nachdem sie sich als unrichtig erwiesen hatten. Plötzlich - er war bei 116, der Quersumme der Noten seines Abschlusszeugnisses angelangt - erklang das Telefon. Missmutig ließ Halsten von seiner Tätigkeit ab.
"Hallo?"
"Sie haben meinen Koffer", sagte eine Stimme nicht unfreundlich. Doch diese wenigen Worte genügten, um Halsten in Schrecken zu versetzen.
"Hören Sie, ich werde Ihren Koffer gleich morgen früh zum Fundamt bringen. Wenn ... wenn Sie wollen, können Sie ihn noch heute abholen. Ich stelle ihn in eine Telefonzelle, okay?", brabbelte er, ohne auch nur einmal Luft zu holen.
"Sie haben meinen Koffer", wiederholte die Stimme am anderen Ende der Leitung, Halstens Ausführungen ignorierend.
"Es hat geregnet, und da habe ich gedacht, es wäre am besten, ich würde den Koffer an mich nehmen, um ihn-“
Das monotone, gleichmäßige Tuten machte Halsten klar, dass der Anrufer seiner Erklärungen überdrüssig geworden war. Dennoch wollte er das im ersten Augenblick nicht glauben. Zitternd legte er den Hörer schließlich auf die Gabel.
"Großer Gott", flüsterte er und kehrte wie in Trance in die Küche zurück, wo er sich auf den Stuhl setzte, um nicht umzukippen vor Angst. Er hatte tatsächlich Angst. In was für eine Sache war er da bloß hineingeraten?
***
Um halb neun öffnete er die fünfte Flasche Bier. Hierfür bedurfte es keiner Kombination, und dieser Gedanke rang ihm ein müdes Lächeln ab. Was für eine unglaublich dumme Situation! Natürlich hatte ausgerechnet ihm das zustoßen müssen, als hatte er nicht auch ohne den verdammten Koffer Probleme en masse.
"Okay, Ruhe bewahren. Überdenke die Situation einmal streng logisch", sprach er zu sich selbst, wie er es immer tat, wenn er alleine war und ein paar Bier intus hatte. "Entweder ist es ein übler Scherz oder eine furchtbar ernste Angelegenheit. Zu Punkt eins: Jemand spielt dir einen Streich und in dem Koffer ist nichts Wertvolles, höchstens ein Zettel mit der Aufschrift 'Reingefallen', oder so."
Das klang durchaus plausibel und er entsann sich eines Scherzes, den er und zwei seiner Klassenkameraden ihrem Erdkundelehrer gespielt hatten. Sie hatten auf einem Flohmarkt mehrere Pfund Bücher zu einem Spottpreis erstanden. Zuhause hatten sie dann auf die leeren ersten Seiten der Bücher folgendes in Blockschrift geschrieben: „An den ehrlichen Finder: Bitte retournieren Sie das Buch an folgende Adresse:“
Diesem Satz folgte die exakte Anschrift des Erdkundelehrers. Und darunter stand verheißungsvoll: „Ich werde Ihnen gerne fünf Dollar Finderlohn erstatten. Danke!“
Am nächsten Morgen warteten dutzende Bücher auf ehrliche Finder. Halsten und seine Freunde konnten im Erdkunde-Unterricht über Wochen hinweg nur schwer ein Lachen unterdrücken bei dem Gedanken daran, wie viele wütende „Finder“ der genervte Lehrer wohl Tag für Tag mit leeren Händen abwies. Die Erinnerung an diesen gelungenen Schülerstreich entlockte Halsten ein verschlagenes Grinsen, das rasch abklang, als er zu Punkt zwei überwechselte.
Was, wenn der Koffer Drogen enthielt und nicht 'vergessen', denn vielmehr 'bereitgestellt' worden war? Nach diesem Szenario war ein Drogenkurier, der den Koffer an sich nehmen sollte, nicht rechtzeitig oder am falschen Ort erschienen. Gewiss würde ein solcher Coup überwacht werden. Vielleicht hatte man Halsten mit dem richtigen Kurier verwechselt, oder er war irgendwie entwischt. Jedenfalls hätte in diesem Falle - wie der Anruf bewies - die Drogenmafia Halstens Adresse. Halsten wurde schlecht vor Angst. Er ging wankenden Schrittes zur Spüle und übergab sich.
Seine Übelkeit wäre nur ein harmloser Vorgeschmack auf das, was die Jungs von der Mafia mit ihm anstellen würden. Er wusch sich das Gesicht und warf einen Blick auf den vermaledeiten Koffer. Es half kein Hin oder Her. Er musste aus Gründen der Selbsterhaltung wissen, womit er es zu tun hatte.
***
Die nächsten fünfzig Minuten brachte er damit zu, wie ein Besessener dreistellige Kombinationen zu bilden. Endlich, gegen 22 Uhr, schnappten die Federn des Schlosses auf - der Koffer konnte geöffnet werden! Halsten verspürte erneuten einen Schwall Übelkeit im Hals aufsteigen.
Sollte er ein großes Päckchen mehlartigen Pulvers vorfinden, wäre es für ihn wohl am besten, eine Handvoll Schlaftabletten anstelle eines Mitternachts-Snacks zu schlucken. Mit krampfhaft geschlossenen Augen hob er den Deckel hoch. Blinzelnd gestattete er sich einen ersten Blick auf den Inhalt des Koffers.
Zu seiner Verblüffung sah er eine leere kleine Plastikschachtel vor sich. Im Überschwang pessimistischer Emotionen vermutete er strenggeheime, zusammengefaltete Pläne russischer Spione in der Schachtel. Vorsichtig öffnete er sie, als handle es sich um die Tupperware-Variante der Büchse der Pandora.
Die Box war leer. In dem Koffer hatte sich nur eine Schachtel befunden, und selbst diese war leer. Zuerst atmete er erleichtert auf, dann kicherte er, und zu guter Letzt lachte er aus voller Kehle, als hätte er soeben den lustigsten Witz aller Zeiten gehört. Schließlich klappte er den Koffer zu und ging ins Bett, nachdem er eine sechste Flasche Bier gekippt hatte.
***
Der rettende Schlafzustand wollte sich nicht einstellen. Halsten drehte sich von einer Seite zur anderen, blickte nervös alle paar Minuten zur Weckuhr, und wusste, dass er seinen ersten Arbeitstag nach der Urlaubswoche verpatzen würde.
Am frühen Morgen quälte ihn ein neuer, erschreckender Gedanke: Vielleicht war es der Koffer selbst, der ein Geheimnis barg? Vielleicht hatte man in das Futter Dokumente eingeschoben?
Nun, wie die Dinge lagen, würde er dies nicht in Kenntnis bringen können. Der oder die Besitzer des Koffers würden es bemerken, sollte jemand ein besonderes Interesse für die Eingeweide ihres Besitzes an den Tag gelegt haben. Somit schied auch die Überlegung aus, einfach einen identischen Koffer zu besorgen und diesen zurückzuerstatten.
Er konnte nicht einmal das tun, was am Vernünftigsten schien: Die Polizei einzuschalten. Der oder die Besitzer des Koffers würden dies mittels Spitzel in Erfahrung bringen und Rache an ihm üben. Darüber wusste er bestens Bescheid: In den Fernsehserien wurden ständig Typen gekillt, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren und sich an die Polizei wandten. Genau so gut konnte er sich gleich Ziegelsteine um den Körper binden. Dann bräuchte ihn die Mafia nur noch ins Wasser zu schubsen.
Es war einfach ungerecht, befand er, schließlich hatte er nichts Böses getan oder in diesem Sinne gehandelt. Im Übrigen war Wilson eine Teilschuld an der verworrenen Situation anzurechnen. Wer hatte denn darauf bestanden, ihn eine Woche in Urlaub zu schicken? Wäre er, Halsten, an diesem Tag zur Arbeit erschienen, anstatt in den Park zu gehen, um seiner Langweile und seinen Nöten zu entfliehen, wäre es nie dazu gekommen, dass er den Koffer aufgegriffen und mit nach Hause genommen hätte. Zur seelischen Erbauung stellte er sich vor, wie er Wilson zur Rede stellen und ihm mit einer Suppendose das Lebenslicht ausblasen würde. Lächelnd schlief er ein.
***
Die nächsten drei Tage waren die Aufreibendsten seines Lebens: Nachts konnte er vor Angst kaum ein Auge zutun, was sich am nächsten Morgen insofern rächte, dass er seiner Arbeit höchst unkonzentriert und müde nachging. Und natürlich stürzte sich Wilson wie ein hungriger Geier auf jeden Fehler den er beging - und derer beging er viele - und belehrte Halsten mit dem Eifer eines Priesters, der das Sündenregister eines Abtrünnigen seiner Gemeinde öffentlich vorlas.
Am Abend des dritten Tages ereilte ihn die Nachricht des plötzlichen Ablebens eines Cousins. Zugegeben, er hatte diesen nicht ausstehen können. Aber den Tod hatte dieser gewiss nicht verdient, bar der Tatsache, dass er unsympathisch und ein 49ers-Fan gewesen war. Spätestens zu diesem Zeitpunkt gelangte Halsten zu einer sehr logischen Einsicht: Dieser verdammte Koffer hatte mit alledem zu tun! Er musste diesen entweder loswerden, oder er würde in den nächsten Tagen durchdrehen und damit beginnen, Supermarktkunden mit Suppendosen zu beschießen.
Er könnte den Koffer in den Fluss werfen; er könnte ihn irgendwo abstellen, in der Hoffnung, jemand wäre so dumm wie er, und würde diesen mit sich tragen; er könnte ihn im Zoo ins Eisbärenbecken werfen; oder er könnte den Fluch - und ein solcher lag auf dem Koffer, darüber konnte kein Zweifel mehr bestehen - auf jemanden übertragen, der ihn verdient hatte. Halsten muss sich nicht lange den Kopf zerbrechen um zu wissen, wer dieser Jemand sein würde.
***
Halsten verließ als Vorletzter den Laden. Er hatte absichtlich getrödelt und geduldig gewartet, bis er mit Wilson alleine war. Rasch war er auf den Parkplatz zu seinem Auto gegangen und hatte den Koffer daraus entnommen. Vorsichtig, wie ein geistesgestörter Dieb, der nicht nahm, sondern gab, war er dann zum Laden zurück geschlichen und hatte darauf geachtet, dass sich Wilson noch in seinem Büro aufhielt. Dann hatte er den Koffer in einen der Mittelgänge zwischen Tierfutter und Waschmittel gestellt. Wilson konnte den Koffer gar nicht übersehen, schon gar nicht, wenn er einen der üblichen Rundgänge machte, um neues, erdrückendes Belastungsmaterial gegen Halsten zu sammeln.
Geduldig wartete Halsten, bis Wilson das Gebäude verließ. In seiner Hand trug er den Koffer.
***
Zufrieden trank Halsten seine erste Flasche Bier. Es regnete, aber das machte ihm nichts aus - nicht mehr. Nicht, nach der Genugtuung des Telefonanrufs bei Mister Wilson. Er hatte sich an seinem eigenen Peiniger orientiert, indem er zweimal geheimnisvoll und mit tiefer Stimme: "Sie haben meinen Koffer" gesprochen hatte.
Allerdings hatte sich Wilson als weniger beredt erwiesen als er selbst.
Seit fast einer Woche schlief Halsten nachts ausgezeichnet. Seine Pechsträhne war von ihm gewichen. Und was am Wichtigsten und zugleich Befriedigendsten war: Wilson erschien seit fast einer Woche müde und unkonzentriert zu seiner Arbeit. Es hatte seither keine Belehrungen mehr für Halsten gegeben. Ja, dachte er, während er das Bier zur Neige trank, so muss es sein.
Mit geheucheltem Bedauern hatte er das Gerücht vernommen, Wilsons Gattin leide an irgend einer unheilbaren Krankheit.