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Sie geht
"Das ist er", sagte Gabi zu ihm, "geh nun da rein!" Damit deutete sie auf die Schlafzimmertür.
"Habe keine Angst, ich bin bei dir", sagte Martin noch hastig und ging hinter die Tür des Schlafzimmers. Er streckte noch kurz den Kopf heraus und fügte an:
"Denke daran, ich liebe dich!" Gabi machte nur eine hektische Handbewegung.
Ja, jetzt war es soweit. Gabi hatte sich endlich und endgültig dazu entschlossen, sich von ihrem Mann zu trennen. Acht Jahre waren sie nun verheiratet. Die glückliche und unbeschwerliche Zeit mit ihm lag fast genauso lang zurück. Gabi hatte in ihren Gedanken schon längst mit ihrem Mann gebrochen. Aber sie wollte es sich selbst nicht so einfach machen. Sie war verheiratet, hatte sich einst für diesen Mann entschieden und sah sich immer in der Pflicht, alles zu versuchen, um ihre Ehe zu retten. Sie redete viel mit ihm und hoffte, ihr Mann hätte ihr zugehört. aber das hatte er wohl nie. Vielleicht glaubte er, sie sei ihm sicher, so dass er sich keine Mühe geben brauchte. Wenn er so dachte, so hatte er wohl auch eigentlich recht. Denn sie konnte es nicht, sie konnte sich nicht überwinden, diesen endgültigen Schritt zu gehen.
Eines Tages kam Martin in ihr Leben. Er war selbst von einer dreijährigen Ehe geschieden. Martin kam zu einem Zeitpunkt, bei dem sie jemanden zum Reden brauchte. Er verkörperte alles das, was sie an ihrem Mann vermisste. Er war zuvorkommend und rücksichtsvoll, aber das Wichtigste war, Martin war voller Gefühl. Gefühle erleben, das wäre Gabi fast schon fremd geworden. Sie kannten sich noch nicht lange, dennoch schliefen sie schon bald miteinander. Sie war überrascht, wie schnell das ging. Sie war überrascht über sich selbst; so wusste sie doch von sich selbst, dass sie immer eine lange Zeit gebraucht hatte, um genügend Vertrauen zu einem Mann entwickelt zu haben, um mit ihm zu schlafen. So war es bei ihrem Mann, und so war es bei ihrer einzigen richtigen Beziehung davor. Aber bei Martin war es anders. Gabi überlegte, ob es an diesem Mann lag, ob er sie im Sturm erobert, oder ob sie sich so sehr verändert hatte.
Gabi hörte, wie sich die Wohnungstür öffnete. Sie baute sich im Wohnzimmer auf. Sie war vorbereitet. Endlich! Schon oft hatte sie überlegt, was sie sagen würde, wenn sie ihm mitteilte, dass sie ihn verlässt. Sie hatte überlegt, ob sie überhaupt etwas sagen würde. Ob es überhaupt einen Sinn hätte. Er würde anschließend in seine Stammkneipe gehen, wo er immer hinging, wenn er seine Probleme vergessen wollte. Wie oft hatte sie sich gewünscht, er würde stattdessen die Zeit mit ihr verbringen und darüber reden. Nein! Sie wollte nicht kommentarlos gehen. Das wäre nicht richtig; denn bei acht Jahren Ehe hätte er ein Recht auf eine abschließende Erklärung von ihr, egal wie er damit umgeht. Nur was sie und wie sie es sagen würde, wusste sie nie genau. Nein, eigentlich hatte sie es schon gewusst, allerdings wäre es so viel gewesen, dass es Stunden gedauert hätte. Nein, es mussten ein paar wenige aber konkrete Sätze sein. Und sie brauchte Kraft. Martin gab ihr diese Kraft. Sie hatten so unglaublich oft darüber geredet, und so oft hatte sie dann gesagt, sie würde es nun tun, und genauso oft verließ sie ihr Mut. Aber Gabi hatte gewusst, dass es eines Tages so weit sein würde. Sie hatte so viele Ideen, wie ihr Leben danach weitergehen könnte. Martin und sie hatten sogar Pläne geschmiedet. An diesem Tag war es nun so weit. Sie wusste, sie würde es diesmal schaffen, so war sie auf Martins Vorschlag eingegangen, dass ihr Freund sich so lange im Schlafzimmer aufhielt. Damit würde er zum einen die ganze Unterhaltung mit anhören können, das war Gabi sehr recht, denn sie würden danach bestimmt noch viel darüber zu reden haben. Zum anderen hatte sie nun gar keine andere Wahl, als Schluß zu machen, denn andernfalls würde ihr Mann Martin im Schlafzimmer entdecken. Die Koffer mit ihren nötigen Sachen hatte sie bereits im Wagen. Martins Wohnung war eine halbe Stunde weit entfernt. Alles war vorbereitet, es war Zeit zu gehen.
"Guten Abend", grummelte er, hängte seinen durchnässten Hut und Mantel an die Garderobe und stellte seine Aktentasche auf die Kommode.
"Was ist?", fragte er knapp, als er Gabis eisigen und entschlossen Blick sah. Die Frau knetete währenddessen all ihre zehn Finger.
"Wir müssen", fing sie an, biss sich aber auf die Lippen, weil es nicht mehr um Reden ging. "Ich werde dich heute verlassen!" Mit einem lautlosen Grollen in ihr, fühlte sie im selben Augenblick eine Zentnerlast von ihrem Herzen fallen. Sie hatte es geschafft, sie hatte es ausgesprochen.
"Bitte was?", fragte ihr Mann barsch zurück.
"Du hast es gehört, Dietmar. Ich werde heute aus dieser Wohnung und aus deinem Leben gehen." Gabi wunderte sich, wie leicht ihr jetzt ihre Folgesätze über die Lippen gingen. Der Mann schaute sie fassungslos an. Er fühlte den Ernst in ihren Worten, denn sie klang ihm fremd, so fremd, wie er sie noch nie erlebt hatte.
"Darf ich fragen, wieso du gehen willst?" Gabi wich seinem Blick aus. "Ich liebe dich nicht mehr. Du hast alles kaputt gemacht."
"Ist da ein anderer Mann?", wollte er wissen und wirkte sehr gereizt.
"Du verstehst wieder gar nichts", erwiderte sie ebenfalls etwas lauter, "da gibt es keinen anderen Mann. Es gibt nur dich, du, der mir nie zuhört, wenn mir etwas wichtig ist, du, der nicht gesehen hat, dass unsere Ehe reparaturbedürftig ist." Gabi schaute zu Boden, sie spürte die ganze Zeit, wie Dietmars Blick sie durchdrang.
"Wir können darüber reden", wusste er.
"Ach, auf einmal will der Herr darüber reden, jetzt, wo alles zu spät ist!" Gabi erschrak, ihre Stimme klang hysterisch. Dietmar kniff seine Augen zusammen und wirkte damit bedrohlicher.
"Wie stellst du dir das denn alles vor?" Gabi überlegte wenige Sekunden über seine Frage, als sie dann endlich in einem sehr ruhigen und beherrschten Ton antwortete:
"Ich möchte mein Leben selbst meistern. Ich möchte für mich selbst verantwortlich sein. Ich möchte den Launen eines anderen nicht mehr ausgesetzt sein. Ich werde in ein Hotel ziehen. Ich werde mir dann eine eigene Wohnung suchen und eine Arbeitsstelle. Ich werde versuchen, für mich selbst zu sorgen. Und!" Gabi machte eine kleine Pause und fuhr dann entschlossener fort, "ich werde es schaffen." Sie endete hier nun ihren Monolog, aber ihre Gedanken gingen weiter. Sie dachte daran, wieviele Träume sie sich nun erfüllen könnte, wenn sie nur diesen Weg bis zu Ende ginge.
Es war nicht anders zu erwarten gewesen. Dietmar griff sich seinen noch triefenden Hut und Mantel und verließ die Wohnung. Martin konnte am Knall der Wohnungstür hören, dass ihr Ehemann gegangen war. Er kam heraus und ging mit einem herzlichen Lächeln auf Gabi zu.
"Du hast es geschafft." Gabi stand immer noch an der selben Stelle noch immer in Gedanken. Martin umarmte sie und flüsterte:
"Es ist vorbei." Gabi hatte gedacht, sie würde weinen, aber zu ihrer Überraschung flossen keine Tränen. Vielmehr empfand sie nun ein Gefühl, das sie schon lange nicht mehr hatte. Sie fühlt sich befreit. Mehr noch! Sie fühlte sich frei! Und das sollte auch so bleiben.
"Lass uns gehen", sagte Martin leise, und er ergriff ihre Hand.
"Martin?"
"Ja, Maus?"
"Ich werde nicht mit dir gehen." Martin schaute sie nun mit dem selben entsetzten Blick an, wie wenige Minuten zuvor ihr Ehemann.
"Du hast es gehört, was ich zu Dietmar gesagt habe. Ich werde meinen eigenen Weg gehen. Es tut mir leid für dich, Martin, aber es wurde mir bewusst, dass ich nicht von einem Mann zu einem anderen springen wollte, sondern dass ich für mich selbst leben will." Gabi schaute ihn an und ergänzte leise: "Bitte verzeih mir!" Mit diesen Worten verließ sie die Wohnung, setzte sich in ihren Wagen und fuhr in ihre neue, eigene Zukunft.