- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 16
Sie brauchen einen Namen
„Kommst du, Claire? Wir werfen uns in der Kantine etwas ein. Der Plunder läuft uns schon nicht davon und für die neue Ausstellung haben wir noch Zeit.“
„Geht nur schon vor, ich komme gleich.“
Claire sah nicht einmal von ihrer Arbeit auf. Sie hatte zwar ebenfalls Hunger, konnte es aber gar nicht leiden, wenn eine angefangene Arbeit unterbrochen wurde. Die fröhlich plaudernden Stimmen ihrer Kollegen entfernten sich.
Energisch strich Claire eine widerspenstige, dunkelblonde Haarsträhne aus dem Gesicht und wandte ihre Aufmerksamkeit den letzten zwei Schaustücken zu, um sie bedächtig in die Kiste zu packen.
Beide Teile mussten etwas Seltsames ausstrahlen. Claire war oftmals während der letzten Wochen in diesem Bereich der Ausstellung gewesen und es hatte sie verwundert, wie viele der Besucher – vor allem Frauen – fast fluchtartig den Raum verlassen hatten.
Dabei waren die Exponate weder sonderlich schrecklich noch irgendwie ungewöhnlich. Zur Verfügung gestellt von der Familie eines nicht einmal mehr in Vorlesungen erwähnten Westafrika-Forschers. Ein altes Foto, trocken betitelt mit:
Philippe de Carnick bei Nyarla, Maskenmeister der Bambara, 1902, Französisch Sudan (heutiges Mali).
Die junge Ethnologin befand das Bild aufgrund seiner technischen Qualität nicht einmal wirklich geeignet für eine so große Ausstellung. Was war schon großartig zu sehen? Dieser ägyptisch anmutende Maskenbauer, gestochen scharf zu erkennen, der mit gierigem Blick einer Person in französischer Uniform, deren Gesicht bestenfalls ein verwaschener Fleck war, eine Maske gab oder nahm. So genau konnte man das nicht feststellen. Im Hintergrund, wieder klar zu erkennen, eine offene Hütte, an deren Wänden diverse Masken im Halbdunkel hingen.
Claire seufzte, verstaute das Bild ordnungsgemäß in der Kiste. Dann streckte und dehnte sie ihren schlanken Körper und griff beherzt nach dem Schmuckstück des Westafrika-Raumes – der großen Bambara-Tanzmaske, geformt wie ein abstrakter Hyänenkopf.
Das massive Holz lag schwer und seltsam warm in ihren Händen. Einen Moment lang verlor sie sich in den tief ausgeschnittenen, quadratischen Augen. Der keilförmige Nasenteil und das rohrartige Mundstück erinnerten an seelenlose Roboter oder an die Anubis-Aliens aus „Stargate“. Ob das die Besucherinnen erschreckt hatte? Wohl eher die rostig wirkenden Bemalungen in Schwarz-Weiß-Rot. Immerhin, Claire wusste das genau und auch die Texttafel machte kein Geheimnis daraus, bestanden die Farben aus verschiedenen Lehmarten und Blut. Noch dazu weiblichem, wie diverse Aufzeichnungen über die Traditionen der Region behaupteten. Doch wer las alle Tafeln in einem Museum? Niemand!
Claire hievte die schwere Maske in die Transportbox und ließ sie behutsam absinken. Jetzt wollte sie schnell machen, denn sonst hatten ihre lieben Kollegen die Kantine leer gefuttert und ihr blieb bestenfalls ein altes Rosinenbrötchen. Und Rosinen konnte sie gar nicht leiden.
Was war jetzt los? Claire konnte ihre Hände nicht von der Maske lösen. Sie mochte sich winden und drehen, wie sie wollte – es ging nicht. Die junge Frau beugte sich tief über die Kiste, als sie ein Sog erfasste und kurz später war der Saal leer bis auf einige Kisten, halb oder ganz gepackt.
… dum dum dududu dum … dum dum dududu dum …
Claire schreckte hoch. Und fiel wieder zurück. Auf Sand – warmen Sand. Was war passiert? Und wieso war ihr so kalt? Der Sand war doch warm. Welcher Sand eigentlich?
… dum dum dududu dum … dum dum dududu dum …
Noch einmal versuchte sie sich aufzurichten. Langsam und vorsichtig.
… dum dum duDuDu Dum … DuM DUM DUDUDU DUM …
Das Getrommel machte sie noch wahnsinnig. Ihr Kopf war so schwer. So groß. Tat weh. Sie tastete und erschrak. Wo sonst ihr Kopf war, erfühlte sie Holz. Die Maske – Claire erinnerte sich. Das Museum, die Ausstellung. Sie hatte Kisten gepackt.
… DUM DUM DUDUDU DUM … DUM DUM DUDUDU DUM …
Sie versuchte, sich umzusehen und gleichzeitig die schwere Maske loszuwerden und scheiterte bei beidem. Durch die quadratischen Schlitze konnte sie nur Zwielicht und irgendwelche Schatten sehen. Und das Holzding schien mit ihr verwachsen. Nicht genug damit. Bei dem Versuch, es zu entfernen, musste Claire feststellen, dass sie außer der Maske nichts an hatte.
… DUDU DUM !
Claire versuchte zu schreien, doch nur ein pfeifender Ton drang durch das Mundstück. Nach Verklingen des letzten Schlages hörte die junge Frau andere Geräusche und schnell wünschte sie sich das nervenaufreibende Trommeln zurück. Ein grässliches Schmatzen – unterbrochen nur von abartigem Schlürfen ließ ihr Blut zu Eis erstarren. Hin und wieder durchbrachen heiseres Knurren und Hecheln die obszöne Geräuschkulisse.
Und irgendetwas näherte sich. Ein Übelkeit erregender Geruch trieb auf sie zu. Dann diese kratzenden Laute. Wieder versuchte sie, ihren Kopf zu drehen, um die unsichtbare Gefahr zu erfassen. Doch nichts. Umrisse – von Bäumen vielleicht. Kein Tier – kein was auch immer.
Sie fühlte etwas Raues und Langes über ihren Innenschenkel fahren. Wieder schrie sie, erneut nur ein Pfeifen. Claires Beine rannten.
Alles war Automatik. Ihr trainierter Körper hatte das Denken übernommen. Der schlüpfrige, tiefe Sand und die schwere Maske machten ein Vorankommen schwierig. Aber irgendwie schaffte sie – irgendetwas. Manchmal spürte Claire heißen Atem in ihren Kniekehlen … und am Rücken, doch wütendes Geknurre und Gejaule, reißende und schnappende Geräusche ließen sie immer wieder Vorsprung gewinnen.
Das Herz wollte aus der Brust springen. Die Lungen brannten. Warme Feuchtigkeit rann über ihre Beine und machte den Sand, den sie überall hatte, zur klebrigen Masse. Claire schien bereits ewig zu rennen, als sie vor sich den Umriss einer Hütte wahrzunehmen glaubte. Licht fiel aus einem offenen Türrahmen. Verführerische Düfte von feinen Gewürzen, gebratenem Fleisch, sogar von süßen, warmen Rosinen wehten ihr entgegen. Die Frau war erleichtert. Sie war gerettet, wurde langsamer und atmete pfeifend aus.
Ihre Haut zerriss unter scharfen Krallen. Harte Körper warfen sie um. Zähne, Klauen und andere unfassbare Grauen drangen überall in ihren Körper.
Sie lag im Sterben. Der Mann kam ihr bekannt vor. Ein Schauspieler? Vielleicht ein ägyptischer Prinz? Er schmierte mit feingliedrigen Fingern rote Farbe auf eine hölzerne Maske. Seltsam, sogar die Farbe kam Claire bekannt vor. Lächelnd wandte der Mann sich ihr zu.
„Wie ist dein Name, mein Kind?“
Claire hustete. Kaum hörbar röchelte sie: „Warum?“
„Sie brauchen einen Namen. Also?“
„Ich sterbe.“
„Keine Angst. Du wirst wiederkehren, Tochter. Wie heißt du?“
Das Lächeln des Pharaos und die beruhigende Stimme waren so schön. Die junge Frau wollte von ihm geliebt werden.
„Claire“ hauchte sie.
Der Mann war glücklich. Er winkte kurz mit der Hand. Wilder, bestialischer Gestank hüllte Claire ein und schreckliche Klauen rissen sie weg.
Gequältes, wahnsinniges Schreien und all die anderen unbegreiflichen Laute versickerten schon bald in der Wüstennacht.
Tom machte sich Sorgen um Claire. Er kannte ihren Ehrgeiz und ihre Arbeitswut, aber wo blieb sie nur so lange. Eilig betrat er den Raum und sah sich in seinem schlechten Gefühl bestätigt. Der Körper seiner Kollegin lag bäuchlings neben der Kiste, die sie zuletzt bearbeitet hatte. Tom lief hin und drehte sie schnell um. Er prallte zurück. Claire hatte kein Gesicht mehr.
Nyarla betrat das Heiligtum. Ehrfurchtsvoll sprach er zu der pulsierenden, vielfarbigen und amorphen Masse:
„Eine meiner Masken ist heimgekehrt. Unsere Rückkehr ist nahe.“
Kurz noch lauschte er dem wahnsinnigen Pfeifen seines alten Bruders und dann erhob er sich und ging zu der Wand, an der hunderte Masken hangen. Er ordnete und streichelte Claires wildes Haar und hängte ihr hübsches Gesicht neben ein wettergegerbtes, schnauzbärtiges Männergesicht. Nyarla lächelte zärtlich.
„Bald, Claire, bald.“