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Sie birgt Zeit
Zoe saß auf dem Boden, am Fuße der großen Standuhr, die sie vor nicht ganz einem halben Jahr auf dem Antikmarkt vor der Stadt erstanden hatte.
Eine große Uhr. Aus ihrer Perspektive schien sie bis an die Decke zu ragen. Sie fuhr mit einem Finger langsam die geschwungene Maserung des dunklen Mahagoniholzes nach, lauschte dem gleichmäßigen, aber schwer zu vernehmenden Geräusch, welches das große Pendel hinter der getönten Glasscheibe verursachte. Beides beruhigte sie und ließ ihre Gedanken in sanften Bahnen Dinge durchdenken.
Aber natürlich machte es sie nicht müde.
Sie hob den Kopf und verfolgte den mächtigen Minutenzeiger. Er war aus schwarzem Metall, hatte Verzierungen und Windungen, die sie an die geschwungenen Blattformen einer dunklen Lilie erinnerten. Bald würde er den kürzeren, aber im Umfang mächtigeren Stundenzeiger eingeholt haben. Am unteren Ende des marmornen Zifferblattes – zum sechsten Mal seit Mitternacht.
Entspannt verfolgte sie beider Bahnen und der Wettlauf begann von Neuem.
Vor sechs oder sieben Nächten hatte sich diese gewisse amüsierte Ruhe eingestellt, mit der sie nun ihre Lage betrachtete. Ruhe und eine langsam wachsende Neugier, der Wunsch, den Sinn hinter ihrem Wachsein zu erfahren. Zuvor war da Akzeptanz gewesen, welche der Resignation gefolgt war. Sie schätzte sich glücklich, dass sie diese Phasen überstanden hatte; ein wirkliches Gefühl, einen Bezug zu dieser Zeit gab es nicht mehr. Seit sie die Nächte durchwachte, waren diese – und auch die Tage dazwischen – zu einer warmen, weichen Masse geworden, die sich nach Belieben ihren forschenden Gedanken angepasst und jedem Vorstoß anstatt Widerstand nur Einlass in das dunklere Innere gewährt hatten. Dort waren diese Gedanken dann verendet – was vielleicht das falsche Wort war. Eher waren sie langsam und friedlich dahingegangen wie ein Erfrierender, den die Kälte am Ende gleich einer warmen Decke umgibt.
Mit dem Wechsel in die jetzige Phase hatte sie das Forschen sein lassen. Sie akzeptierte nun den weichen Ring um ihre jüngste Vergangenheit und vergaß ihn somit zusehends. Langsam hingegen erwachte das Interesse an dem, was kommen sollte.
Es war natürlich nicht so, als wüsste Zoe nichts mehr von ihrem Leben, von den vergangenen Wochen, dem gestrigen Tag oder dem grauenden Morgen. In zwei Stunden würde sie ihren Platz vor der Uhr verlassen, sich im Bad frisch machen, die Kleidung wechseln und zur Arbeit gehen. Den Tag dort durchstehen, dann einkaufen, in ihre Wohnung zurückkehren und sich auf ihr Bett legen. Dort würde sie zwei, drei Stunden in einen traumlosen Schlaf sinken und zum frühen Abend wieder aufwachen.
Dann, wenn die Uhr rief.
Was sie faszinierte, war der Umstand, dass sie sich irgendwann einfach von der Welt gelöst hatte. Dass sie jenes Leben einfach nur noch nebenher lebte. Dass es für sie bedeutungslos wurde; dass sie für das Leben bedeutungslos wurde. Sie fragte sich, ob sie etwas Besonderes an sich hatte, etwas, das vielleicht langsam nach oben drang, zu dem sie einen Schlüssel finden musste. Vielleicht in diesen langen Nächten.
Es war zuerst sehr beängstigend gewesen, auch das wusste sie noch. Die erste Zeit, da sie in stiller Angst im Dunkeln lag, ihrem Atem gelauscht und sich gefragt hatte, wie so etwas von einem Tag auf den anderen einfach passieren konnte.
Nie mehr Schlafen in der Nacht.
Zoe erinnerte sich nicht an die Nacht, in der sie das Bett zum ersten Mal verlassen hatte. Sie hatte nicht auf der weichen Matratze bleiben können. Schön und gut, wenn man schlief. Aber Stunde um Stunde auf ihr wach zu liegen, verursachte nicht nur dem unsteten Geist Qualen; der menschliche Körper scheint nicht dafür gemacht. Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, egal in welche Position sie sich gedreht hatte. Also war sie aufgestanden und hatte das Bett gegen den harten Boden des Wohnzimmers getauscht. Zuerst, um fern zu sehen, sich müde zu sehen. Um zu lesen, Rätsel kreuzweise zu lösen, während sie ihre sämtlichen Schallplatten durchhörte. Dass die Uhr genau neben ihr stand, war wohl nur purer Zufall gewesen. Irgendwann hatte sie alles beiläufige Tun aufgegeben und sich nur auf die stille Nacht und auf die Wechsel dieser inneren Phasen konzentriert. Und war sich mehr und mehr der Uhr bewusst geworden. Einem möglichen Schlüssel.
Die Zeiger hatten sich weitergedreht. Das Pendel schlug regelmäßig aus, edel in seiner Gleichmäßigkeit. Die ganze Uhr war ein Werk vollendeter, schlichter Schönheit. Sie war ihr gerade aus diesem Grund aufgefallen. Kein überflüssig geschnitztes Beiwerk, keine Engel, Schlangen, Rosen hielten den hölzernen Korpus umschlungen oder drängten sich an ihn. Die Schönheit des Holzes an sich wirkte, verlieh dieser Uhr Einzigartigkeit.
Zoe ließ ihre Hand sinken, die immer noch der Maserung nachging. Vor über zwei Stunden war es hell geworden. Es ging gegen acht und sie erhob sich und drehte sich ohne einen weiteren Blick um.
Ein weiterer, weicher Tag begann. Wie alle anderen glitt er ihr zusehends durch die Finger.
Und die Tage vergingen.
Der Abend dämmerte früh heran.
Es war Mitte Januar, die Welt grau, das Wetter weder richtig kalt noch warm. Während draußen die Schatten nirgends Halt fanden, weil das Licht überall gleichmäßig schwach war, waren sie in ihrem kleinen Schlafzimmer vorherrschend. Zoe vermisste nicht die langen, sich ständig verändernden Schattenbilder, welche die Sommersonne zum Spätnachmittag über ihr großes Bett hatte tanzen lassen, noch erfreute sie sich besonders an der gestaltlosen Schattenmasse, die jetzt ihr Zimmer überflutete. Die Wahrnehmung dieser Dinge hatte an Bedeutung verloren. In der Nacht waren Schatten ohne Belang und die Nacht war die Zeit, da sich ihre Sinne schärfen. Der Schlüssel schien gefunden, nur drehte er sich noch nicht im Schloss.
Eine neue Phase, eine letzte vielleicht.
Sie lag nackt auf ihrem Bett, hatte sich auf ihre Ellenbogen gestützt und betrachtete den grauen Ausschnitt des Himmels durch das Fenster.
Zeitlose Augenblicke.
Die plötzliche Entscheidung, die sie heute gegen Mittag getroffen hatte, verwunderte sie noch immer. Die Entscheidung, aufzustehen, ihren Job zu kündigen und zu gehen. Dann die Entscheidung, nicht einzukaufen, obwohl sie wusste, dass der Kühlschrank leer war und sie in letzter Zeit immer unregelmäßiger aß. Sie fühlte in sich hinein und spürte keinen Hunger. Er schien einfach gegangen zu sein, ganz gleich dem Bedürfnis nach einem erholsamen Schlaf. Die drei Stunden jeden Nachmittag waren nicht mehr gewesen als ein einfaches, physisches Bedürfnis. Ihr Körper hatte nach wie vor gehandelt wie der eines Menschen und das Mindestmaß an Ruhe verlangt und bekommen. Ihr Geist hingegen schien vom Schlaf unabhängig geworden zu sein.
Seit einigen ungezählten Tagen hatte sie überhaupt nicht mehr geschlafen. In ihr war eine Spannung gewachsen und obwohl sie sich immer noch auf ihr Bett gelegt hatte, war der Schlaf nicht mehr gekommen. Es war, als hätte ihr Körper vor dem Geist kapituliert und sich in seinen Belangen vollständig zurückgezogen.
Zoe sah an sich herunter. Betrachtete in aller Ruhe Formen und Farben.
Sie war stets eine Frau gewesen, die sich an ihrem Körper erfreut hatte, nicht mehr und nicht weniger als auch an anderen schönen Menschen. Sie bewertete niemanden anhand dessen, was ihm von der Natur gegeben worden war, auch stand sie nicht regelmäßig vor dem Spiegel und bewunderte sich selbst. Sie wusste einfach um ihren schönen Körper. In gewisser Weise verglich sie sich mit der Maserung der Uhr – eine schlichte Schönheit, die keiner weiteren Verzierung bedurfte. Eine schöne Umhüllung für etwas darinnen; etwas ... etwas in der Uhr, das sie noch nicht erkannte hatte – etwas in Zoe selbst. Innen.
Die Schatten verdichteten sich und wurden Nacht. Sie stand auf und ging unter die Dusche, wo sie lange blieb, das warme Gefühl des Wassers auf ihrem Körper spürte.
Dann wieder eine Nacht mit der Uhr.
Warum?
Eine Februarnacht.
Das Geräusch des schwingenden Pendels schien heute um so vieles lauter als in irgendeiner Nacht zuvor. Zoe war wieder nackt unter der Dusche hervor gekommen und als sie das Wohnzimmer betreten hatte, war der Lichtschalter unberührt geblieben. In völliger Dunkelheit saß sie vor der Uhr und lehnte ihren Kopf an das Holz. Sie hatte sich nicht abgetrocknet; das Wasser lief von ihren Haaren am Holz hinab und auch um sie herum war der Teppich feucht. Heute würde sie den Schlüssel drehen.
Warum bin ich ...
Mit den Armen hielt sie den großen Korpus, in dem der Pendelschlag nun so intensiv wie ein aufgeregtes Herz zu pochen schien. Ihre Finger fuhren wieder die Maserung nach, sie brauchte kein Licht dafür. Es war fast, als würde sie das Muster in der Dunkelheit wie sanfte Erhebungen spüren können. Und sie spürte die Uhr, die nach ihr tastete, Ausschau hielt und den wahren Grund dafür doch immer noch verbarg.
Sag mir, warum bin ich...
Das Holz war schön, schön wie es auch ihr Körper war, doch war beides nur Ummantelung, Chitin und Verpackung des weichen Inneren. Ihr Kopf glitt an der Uhr entlang. Sie spürte das kühle Glas, die Scheibe an der Front, hinter der sich die Uhr verbarg, die den Zugang barg, ihn hielt. Wasser tropfte von ihrem Haar und sie verstärkte den Druck. All die schlaflosen Nächte waren vergessen, waren nur der lange und beschwerliche Weg zum Ziel. Der Weg war nie das Ziel. Und der Schlüssel würde sich drehen.
Warum bin ich so...
Die Tür würde sich öffnen. Heute oder nie. Das Glas knirschte. Die Uhr erbebte und Zoes Finger zuckten über die Seitenwände. Noch etwas mehr Druck und
Warum bin ich so...
das Glas barst.
...BESONDERS...
Scherben flogen und schnitten an mehreren Stellen ihren schönen Körper.
...ANDERS, VERDAMMT!
Zoes Stirn traf das Pendel und sie hörte über sich Metall laut knirschen und mit Gewalt schlug dieses Herz der Uhr, schlug auch ihr Kopf gegen die hölzerne Rückwand, die genau in diesem Moment das Geheimnis beendete. Dahinter gab es keine Tür.
Ganz kurz noch hoffte Zoe, ein warmes Licht zu erblicken, doch das Herz hörte einfach auf zu schlagen und um sie herum wurde es weder heller noch dunkler.
Zoe saß auf dem Boden, direkt vor der großen Standuhr, die sie vor nicht ganz einem Jahr auf dem Antikmarkt vor der Stadt erstanden hatte. Der Morgen graute.
Die Uhr war kaputt. Das Glas zerbrochen, das Pendel verbogen und im Sterben hatte der Zeitmesser kleine Zahnräder erbrochen.
Zoes schöner, nackter Körper blutete an mehreren Stellen. Es gab kein Geheimnis und als das obere Drittel der Scheibe aus dem Rahmen fiel und auf dem Boden zersprang, zuckte sie nicht einmal zusammen.
Sie schlang die Arme um sich und die Schnitte brannten.
Ihre Augen blieben geschlossen.
Denn da war nichts weiter.
Nur Zeit.
ENDE