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- 03.10.2020
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- Anmerkungen zum Text
- Eolith: Ein Geofakt oder Pseudoartefakt ist ein auf natürliche Weise modifiziertes Geröll, das artefaktartige, wie von Menschen geschaffene Merkmale aufweist.
- Siderea: Abgleitet vom siderischen Tierkreis
- Acheuléen: Eine archäologische Kultur der Altsteinzeit. Ein auffälliges Merkmal dieser Kultur sind große abgeflachte, ovale oder zugespitzte, stets beidseitig bearbeitete Faustkeile.
- Aion: Äon oder Aion ist ein Begriff der antiken und spätantiken Philosophie und Religion, der ursprünglich die Weltzeit oder Ewigkeit bezeichnet, später eine Gottheit, in der diese hypostasiert wurde.
- Neolithikum: Fachsprachlich für Jungsteinzeit oder Neusteinzeit
Siderea, am leeren Horizont
Durch endlose Jahre driften wir dahin, umschlossen vom sternenlosen, tiefschwarzen Käfig des Firmaments, zum toten Zenit, vergessen selbst von der Zeit. Unser Mesokosmos besteht einzig und allein aus dem Eolithen Siderea. Nie habe ich etwas anderes gekannt als die weitläufigen Steinwüsten seiner Oberfläche. Wütende, abrasive Stürme fegen in unregelmäßigen Abständen gegen die Bordhülle unseres Raumschiffs, sie sind neben den Stimmen meiner Eltern die einzigen Laute, die ich je aktiv wahrgenommen habe. Am Horizont thront die kreuzförmige Sonne, deren Riss in der Wirklichkeit uns mit ihrem gleißend weißen Licht verbrennt. Die Gestalt des Himmelskörpers, den ich gezwungenerweise meine Heimat nennen muss, zeugt von abyssischer Trostlosigkeit, seine Unform erinnert an den Kopf eines steinzeitlichen Handbeils.
Stundenlang habe ich Vaters Visualisierungen betrachtet, er nennt Siderea einen braunen Zwerg. Seit meiner Geburt habe ich nichts anderes gesehen als den feinen Sand, der im Licht der sidereanischen Sonne schimmert, so flirrend hell, dass wir bei unseren selten gewordenen Ausflügen die Schutzbrillen herunterklappen müssen, um nicht wie Blinde herumzutappen. Draußen vor den Quarzfenstern erheben sich abstrakt geformte Berge, Schraffuren vergangener Jahrtausende, die Mineralien von unbekannter geologischer Herkunft, Vater forscht unermüdlich an ihrer Lithologie. Auf mich wirken sie wie Fossilien einer fremden Dimension.
Hinter dem Fenster beobachte ich die steinernen Gestalten, die unser Raumschiff umringen, ihm huldigen, wie einer uralten acheuléenischen Gottheit. Sie sind das Gegenteil jedes atmenden Organismus, augenlos, eintönig und verkarstet. Wie Golems stolpern sie durch die erstarrte sidereanische Ödnis, scharen sich zusammen in Gruppen, um mit ihren verklumpten Armen unserem Schiff zuzuwinken. Wer oder was sie sind, bleibt mir ein Rätsel.
Ich weiß nicht, was ich von der Zukunft erwarten kann, außer zunehmender Einsamkeit und die damit einhergehende Seelenpein, und obwohl meine Hoffnung schon in jungen Jahren am leeren Horizont verschollen ist, fühle ich mich mit jeder Stunde antriebsloser. Aus meinem bisherigen Leben gibt es nichts zu erzählen, es bestand lediglich aus ewigen Abfolgen unveränderlicher Handlungen und aufgezwungener Lernprozesse.
Historische Lehren von der Steinzeit bis zur Gegenwart, die aus dem Ruder gelaufenen Besiedelungsmissionen, wie wir uns seit Jahrhunderten in den Sonnensystemen ausbreiten, eine invasive Spezies sondergleichen. Die Atmosphärereaktoren werden gepriesen als alleinige Lösung, unser Überleben für die nächsten Äonen zu sichern. Natürlich wählen meine Lehrer ihre Worte mit Bedacht, jedwede Fehler der Menschheitsgeschichte werden durch eine einzige große Lüge kompensiert. Die neue Heimat am Horizont.
Alles Wissen habe ich mir zu gleichen Anteilen von meinen Eltern und Aikon angeeignet, der AI unseres Bordcomputers, aber nicht in dem ich ihnen stumm zuhöre und jedes Wort glaube, sondern mir meine eigenen Gedanken mache. Mein Tagesablauf besteht aus Aufwachen in der klaustrophobischen Schlafkapsel, etwas Schlabbriges aus der Bioabteilung hinunterwürgen, Lernen, den Magen nochmal mit etwas Geschmacklosem füllen, mehr Lernen und Schlafen. Zwischendurch Gespräche, während denen Vater gute Miene zum bösen Spiel machen muss, seit einer Ewigkeit habe ich ihn durchschaut. Reine Verzweiflung treibt ihn an, Mutters Ruhe dagegen glänzt wie ein rettender Stern.
Dann startet der Zyklus meiner Verdammnis von vorne. Zeitweise fühle ich mich wie in einem endlos drehenden Hamsterrad, die Tage rasen an mir vorbei, ein schwindelerregender Strudel aus Minuten und Stunden, ein schwarzes Loch, dass mich unaufhaltsam verschlingt. Aber was sind schon Tage? Vater erzählte mir einmal, es gäbe einen Zustand der Nacht, in der sich die Welt in Finsternis hüllt, das gilt für mich nur, wenn ich die Augen schließe. Auf Siderea lodert das Kreuz der Sonne pausenlos. Ich weiß, dass wir vor mehr als sechzehn Jahren abgestürzt sind, aber was dafür die Ursache war, habe ich bis heute nicht erfahren.
Mutter fehlt mir so sehr, dabei ist sie noch gar nicht vollständig von uns gegangen, das Leben klammert sich mit letzter Hoffnung an ihre sterbende Hülle. Ihre Stimme war leicht wie eine Feder, schenkte mir inneren Frieden, wann immer sie sprach. Die Erinnerung an sie habe ich eingeschlossen, damit ich sie nicht vergesse, und hole sie hervor, wenn ich im Zweifel bin, ob ich weiterexistieren kann. Bevor sie die Fähigkeit zur Kommunikation verloren hat, verriet sie mir ein Geheimnis über meinen Vater. Sie heißt Eleonor, in meiner Erinnerung hat sie Haare aus flüssigem Gold, doch heute ist sie so kahl wie Siderea selbst. Sie war Biokonstrukteurin, genau wie er, ich glaube, das die beiden nur dank dieser Gemeinsamkeit zueinandergefunden haben, damals, irgendwo weit entfernt von hier. Sie dachte mit dem Herzen, er hat wie immer nur seinen Kopf.
Wir stehen in der Krankenabteilung.
„Unsere Oxidationspumpen sind ausgefallen, stimmts? Deshalb kann hier keine gesunde Atmosphäre entstehen.“
Eleonors starrer Körper liegt zwischen uns, ihre Augen bewegen sich nicht mehr, wenn ich spreche. Vater hat mir den Rücken zugewandt und tut so, als studiere er die erlahmende Herzfrequenz auf dem Vitalmonitor vor ihm.
„Elya, deine Mutter stirbt. Lass mich trauern.“
„Meinst du, das sehe ich nicht?! Ich weiß so viel mehr, als du denkst!“
„Das ist der falsche Moment.“
„Ich halte es nicht mehr aus. Verflucht nochmal! Liefere mir endlich Antworten!“
„Wir müssen zusammenhalten, haben nur uns. Bitte, ich appelliere an deine Vernunft. Wir werden es schaffen, egal was noch kommt.“
Ich will resignieren und mit der Faust eine tiefe Delle in den Chirurgenstahl rammen, kann mich dennoch beherrschen, indem ich mir einrede, Eleonor leide nicht, obwohl sich ihre Züge zunehmend verzerren. Ein versteinertes Bildnis ihrer einstigen Schönheit.
„Hier existiert kein Kohlenstoff. Ich habe die Prints gesehen.“
Vater dreht sich um und lässt die Schultern hängen, sein Gesicht ist alt geworden und zerklüftet von Falten, nur die Augen sind noch so blau wie vorher. Er tut mir unendlich leid.
„Du hast ein Anrecht darauf, zu wissen, was mit uns passiert, mein Elya. Das bin ich dir schuldig, aber verstehe, wenn ich dir jetzt nichts Sinnstiftendes erwidern kann.“
„Diese Entitäten da draußen kleistern uns mit ihrem Lehm zu und ihr habt euch dreiundzwanzig Jahre lang einmauern lassen, ohne ernsthaft dagegen vorzugehen!“
Momentan können wir das Raumschiff noch verlassen, aber schon bald werden die Auflageflächen des Hauptschotts völlig verklebt sein und die Türen blockieren. Sie bewegen sich träge wie Gastropoden, ihre petrifizierten Arme zu heben dauert Stunden, doch sind sie tödlich, wenn wir ihnen nur genug Zeit geben.
„Hör auf damit. Du weißt, dass ich alles in meiner Macht stehende getan habe, um uns hier rauszubringen.“
„Das war wohl nicht genug!“
„Es tut mir leid, dass ich dich in diese Situation gebracht habe.“
„Situation nennst du das? Als wäre es irgendwas Vorübergehendendes, dass wir einfach ausstehen müssen! Wie lange willst du dich noch selbst belügen?“
„Elya, bitte ...“
Auf meinen Wangen spüre ich Tränen, sie fließen unkontrolliert, obwohl ich keine Miene verziehe. Ich will endlich die ganze Wahrheit aus seinem Mund hören. Erst wenn er zugibt, mit Siderea unseren Tod gefunden zu haben, kann ich ihm vergeben.
„Wir werden nie mehr hier wegkommen.“
„Wenn ich herausfinde, wie wir die Silikate im Gestein aufspalten können und damit die äußere Schicht verflüssigen, haben wir eine reele Chance.“
„Das redest du dir ein, damit du nicht verrückt wirst. Du predigst davon, seit ich denken kann, und nichts hat sich verändert. Vor zehn Jahren dachtest du noch, du kriegst die Atmosphäre in einen stabilen Zustand!“
„Du darfst nicht an allem mir die Schuld geben.“
„Du hast mich angelogen, seit ich geboren wurde. Mama hat nur mitgemacht, weil sie dich nicht kränken wollte.“
„Es war reine Notwendigkeit, um dein Überleben zu sichern.“
„Lieber wäre ich gestorben! Was habe ich denn für eine Zukunft?“
„Sag sowas nicht. Noch gibt es Hoffnung ...“
„Siderea war dein Plan. Dein brauner Zwerg.“
Meine Worte sind Hammerschläge, angesetzt auf seine fragile Gestalt. Begleitet von stummen Schreien und mit blutendem Herz, verlange ich verzweifelt nach Genugtuung.
Hinter mir schließt sich das Schott zum letzten Mal.
Ich kann nicht bei ihm bleiben und zusehen. Sein Körper verhärtet, die Augen trocknen aus, die Bewegungen sind steif wie bei einer Puppe geworden. Am Schluss flehte er mich an, ihn nicht allein zu lassen, mit einer Stimme als hätte er Kieselsteine geschluckt. Doch der Schmerz treibt mich hinaus in die Leere. Die Steinwesen sind so zahlreich, dass ich mich zwischen ihnen hindurchquetschen muss, darauf bedacht, den Raumanzug nicht undicht zu scheuern. Über mir lodert das sidereanische Kreuz. Feuchtigkeit entweicht stoßweise dem Ausgleichsregulator in meiner Brust, verdampft und oszilliert in schillernden Farben.
Nachdem ich die unangenehmsten Hindernisse hinter mir gelassen habe, übermannt mich die Erschöpfung und ich strauchele, kämpfe mich vorwärts, auf allen vieren wie eine Maschine. Immer weiter, auf den schwebenden Horizont zu, bis irgendwann alles ins Schwarze kippt. Ich werde herausfinden, ob meine Theorien zutreffen. Siderea ist Aion, der ewige Friedhof. Unter seinen Bergen liegen Artefakte vergangener Epochen, uralte technologische Wunder, vergessene Relikte der kosmischen Industrialisierung. Die Steinwesen gehören nicht zu einer untergegangenen Zivilisation, es muss sich bei ihnen um ehemalige Gestrandete handeln, die vor Jahrtausenden den gleichen Fehler wie Vater begingen, verrückte Pioniere, auch wenn an ihnen nichts mehr Menschliches erkennbar ist.
Je weiter ich mich vom Schiff entferne, desto stärker schwindelt mir, die Umgebung verschwimmt zu einer kochenden, braunroten Masse. Ich krieche auf die Berge zu, in der Hoffnung, eine rettende Öffnung zwischen ihnen zu finden. Staub rieselt vom Firmament, ein lautloser, glimmender Regen, legt graue Schichten auf meinen porös gewordenen Anzug. In der Höhle kauere ich mich zusammen, ein Embryo im Abdomen der Sterne, aber hier gibt es nur die Kälte des Feuers. Fossilisierte Zivilisationen zeugen vom Untergang des Lebens, Wandmalereien aus Kreide umgeben mich, sie müssen von den Sidereanern gezeichnet worden sein. Ich liege im Bauch eines Raumschiffs und studiere die Kreisläufe endloser Geschichte.
Äonen stürzen über mir zusammen, ich falle durch den singulären Raum, sehe das Kollabieren der Kausalität, hinein in den weichen Teppich des elysischen Todes. Das Neolithikum formt sich wieder aus dem Ton, Werkzeuge kohlenstofffreien Lebens werden geschmiedet. Urkräfte steuern meine Hand, das acheuléenische Zeitalter steht erneut im Anbruch. Mythos der Vergangenheit enthüllt meinen Geist, Stürme exhumieren den Spiegel der Zeit. Und so werde ich eins, mit der Ewigkeit.