Shyam
Shyam
Das Telefon klingelt.
Durch die geschlossene Tür höre ich dumpf wie meine Mum den Hörer abnimmt und sich meldet.
Ich sitze mit gekreuzten Beinen auf meinem Bett und kaue auf einem alten Bleistift herum – zum schreiben ist er jetzt definitiv nicht mehr geeignet.
Ich schmecke die bittere Mine, die Fasern des zerkauten Bleistiftes stechen mir ins Zahnfleisch und verkeilen sich zwischen den Zähnen.
Den Kopf habe ich auf meinen Arm gestützt – er ist heute so schwer.
Seit gestern Abend habe ich nichts mehr gegessen und geduscht hab ich mich auch noch nicht.
Ich rieche bestimmt total abartig - aber eigentlich ist mir das egal.
Mum kommt alle halbe Stunde herein und erkundigt sich mit sorgenerfüllter „ich fühle ja so mit dir“-Mutterstimme nach meinem Befinden.
Langsam beginnt sie aber die Geduld zu verlieren.
„Du musst mir schon sagen was du hast. Du kannst dich schließlich nicht dein ganzes Leben im Zimmer verstecken“, meinte sie vorhin.
Warum kann ich das nicht? Wenn ich doch will?
Ich habe mit der Schulter gezuckt und mich umgedreht.
Ich könnte schreien, heulen und kotzen zugleich.
Und warum das alles?
Wegen dummen 10 Minuten Spaß!
-
Es war einer dieser tollen Spätfrühlingstage, die ich so hasse.
Die Sonne schien, Vögel zwitscherten und überall sah man verliebte Pärchen rumhängen und sich gern haben.
Für einen Single wie mich kann so was die wahre Hölle sein.
Alle suhlen sich in diesem Gefühl des ‚lieben und geliebt werden’. Nur ich nicht – ich hab niemanden.
Eigentlich bin ich es ja selber schuld. Ich kann nun wirklich nicht erwarten, dass mein Traumprinz eines Tages vor meiner Tür steht und sagt: „Hallo, ich bin dein Traumprinz.“
Das wäre ja auch nicht anders, wenn ich hetero wäre.
Egal.
Jedenfalls war wieder einer dieser Tage an denen ich den Liebenden die Liebe nicht gönne.
Ich hatte mich in mein Zimmer zurückgezogen um ein wenig im Netz zu surfen und von dem ganzen Glücklichsein draußen nichts mitzubekommen.
Meinen täglichen Rundgang durch’s Netz hatte ich schon hinter mich gebracht ohne auf irgend etwas Interessantes gestoßen zu sein. Gelangweilt surfte ich durch einige Pornoseiten während im Hintergrund ein Jung-Schwuppen-Chat lief – zur Tarnung versteht sich. Meine Mum weis ja eigentlich Bescheid aber sie muss ja nicht gerade sehen, wie ich mir nackte Jungs im Internet anschaue.
Zwischendurch las ich was sich so im Chat tat aber irgendwie war da auch nicht viel los, wahrscheinlich genossen alle das schöne Wetter und die Liebe.
Eher amüsiert las ich wie jemand im grausam schlechten Deutsch versuchte jemanden aus meine Stadt zu finden, mit dem er sich mal treffen könnte.
Treffen. Klar! Zu Kaffee und Kuchen wahrscheinlich.
Diese Live-Typen gehen mir ja so auf den Sack.
Irgendjemand hat ihm dann wohl verraten, dass ich aus seiner Stadt komme und plötzlich öffnete sich ein Privat-Chat Fenster.
„Hallo meine name ist Shyam. Wolen Sie mit mir ein Chat machen?“
Also, ich bin nicht der Typ, der jemanden einfach so abwimmelt also antwortete ich erst mal unverbindlich.
„Hi. Klar, immer doch.“
Eigentlich hätte ich mich schlagen können in dem Moment.
„Meine Deutsch ist nicht die beste. Ich hofe Sie fairstehn mich.“
„Wir können auch Englisch sprechen, wenn dir das mehr liegt.“
„Nein. Ich mussen lehrnen beßer Deutsch shreiben.“
Ich muss gestehen ihn und sein schlechtes Deutsch am Anfang wirklich sehr nervig gefunden zu haben aber mit der Zeit wurde es wirklich interessant mit ihm zu reden und die Pornoseite im Hintergrund war überhaupt nicht mehr interessant.
Shyam kam aus Indien und war als Austauschstudent hier in Deutschland und seine Geschichten über das Leben in Indien und die Probleme die man hat, wenn man plötzlich in Deutschland ist, waren sehr lustig..
Wir quatschten bis meine Mum mich zum Abendessen rief – und noch ein bisschen länger.
Wir tauschten Telefonnummern aus und versprachen uns beizeiten anzurufen.
Er rief mich dann auch gleich am nächsten Tag an.
Allerdings am Nachmittag – da war ich aber noch in der Schule – und als ich Abends nach Hause kam schaute mich meine Mum fragend and und erzählte mir da hätte so ein komischer Typ angerufen und nach mir gefragt.
Ich rief ihn dann an und wir quatschten bis meine Mum genervt ins Zimmer kam, auf ihre Uhr klopfte und mich darauf aufmerksam machte, dass telefonieren schließlich nicht umsonst sei.
Vorgestern telefonierten wir wieder – über zwei Stunden lang und beschlossen uns am nächsten Abend zu treffen.
Es kam, wie es kommen musste. Gestern Abend war ich aufgeregt wie ein kleiner Junge vor seinem ersten Date.
Naja, so ganz abwegig war’s ja nicht. Mein erstes Date wäre es zwar nicht gewesen und ich versuchte dieses Treffen als rein platonisch zu sehen, allerdings war außer zwei kurzen Treffen mit anderen Schwulen, die ich über’s Netz kennen gelernt hatte bei mir auch nix gelaufen.
Ich brauchte beinahe eine Stunde im Bad und nebelte mich mit Tonnen von Deo und Aftershave ein – beim rasieren hab ich mich natürlich auch geschnitten.
Auch zog mich dreimal um, bis ich endlich ein Outfit für ‚ausreichend’ befunden hatte.
Und natürlich ging ich drei Stunden zu früh los.
Als ich dann vor seiner Wohnung stand war ich über eine halbe Stunde zu früh dran.
Irgendwie war mir das zu peinlich, darum druckste ich mich noch eine Weile in der näheren Umgebung herum – um festzustellen, dass dies eine unglaublich langweilige Ecke meiner Stadt war – bis ich endlich den Mut aufbrachte auf die Klingel zu drücken.
Shyam war nicht das was ich als übermäßig gutaussehend bezeichnen würde aber es war auch nicht so, dass er hässlich gewesen wäre. Seine kleine Pocke stand ihm jedenfalls recht gut.
Wir setzten uns bei ihm ins kärglich eingerichtete Wohnzimmer und tranken zusammen Tee und quatschten über seine Kindheit und wie er seine Sexualität in Indien wahrgenommen hatte.
Ich kann nur sagen, ich bin unglaublich froh in Deutschlang geboren worden zu sein.
Ich hatte mir vorher ganz fest vorgenommen es auf keinen Fall zum Sex kommen zu lassen, aber als Shyam begann mich zu streicheln war ich irgendwie paralysiert und lies es mit mir geschehen.
Oh, es ist nicht so, dass ich es nicht genossen hätte oder vollkommen apathisch dagelegen hätte. Ich hab den Sex absolut genossen – es war mein erstes Mal gewesen.
Aber nach 10 Minuten war es vorbei.
Wir quatschten noch ein wenig, doch das Gespräch war ein wenig gehemmt und ich ging recht früh nach Hause.
Zuhause angekommen viel ich in ein tiefes Loch, in dem ich immer noch stecke.
Meine Gefühle sind total durcheinander. Ich hab mich wohl ein wenig verliebt.
Mein Geist sagt mir es war eine einmalige Sache, ein klassischer One-Night-Stand; dass Shyam es von Anfang an darauf abgesehen hatte mit mir Sex zu haben; dass das nichts mit Gefühlen zu tun hatte.
Aber mein Herz, dass spricht eine ganz andere Sprache.
-
Es klopft an der Tür.
Meine Mum steckt ihren Kopf durch die Tür.
„Da ist dieser komische Typ wieder am Telefon, er möchte dich sprechen.“
Ich hebe langsam den Kopf.
Ich spüre wie ein langer, mit Holzspänen durchsetzter, Speichelfaden sich aus meinem Mund zieht.
Die Erkenntnis dringt nur langsam in mein total blockiertes Gehirn vor.
Was mag Shyam wohl wollen?
Hoffnung keimt in mir auf.
Schnell stehe ich auf.