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Shumway
„Das ist ja ALF,“ sagt die Krankenschwester. „Meine Kinder gucken den auch.“
Oliver senkt den Kopf, um ihrem Zigaretten-Kaffee-Atem auszuweichen.
Das Fell seines Plüschtiers fühlt sich rauer an als gestern. Der kleine Jahrmarkt auf dem Schotterparkplatz vor dem Tennisverein lockte die Kinder mit Sonderangeboten und Oliver kreiste seinem BMX-Rad drei Stunden um die Buden, weil er nicht nach Hause wollte. Die ALF-Figuren hingen aufgereiht an den Seiten zwischen den aufgebauten Dosen. Man konnte eine Figur gewinnen, wenn man mit einem Wurf alle neun abräumte. Oder man kaufte sie einfach. Letzter Tag, halber Preis!
„Den hat Oliver gestern auf dem Jahrmarkt gewonnen,“ sagt seine Mutter.
„Gratuliere, was hast du denn dafür machen müssen?“
Oliver zuckt die Schultern.
„Sie sollten mir noch den Essensbogen ausfüllen, Frau Kingeter. Hat Oliver Allerg…“
„Drechsler,“ sagte seine Mutter.
„Hat Oliver Allergien oder Lebensmittelunverträglichkeiten, Frau… Drechsler?“
„Ich mag keinen Spinat.“ Oliver blickt die Schwester finster an.
Seine Mutter lächelt und zieht die Augenbrauen hoch.
„Er darf alles essen.“
„Ich will aber keinen Spinat essen.“
„Aber Spinat ist was Leckeres! Wir haben den oft am Freitag und der wird dir bestimmt schmecken,“ sagt die Krankenschwester.
Seine Mutter tippt ihn an der Schulter an. Er macht einen Schritt zur Seite, weg von ihr, doch das Schwesternzimmer ist zu klein, sodass er sich jetzt vorkommt, als stehe er im Weg herum.
„Der Stationsarzt ist momentan noch im OP, das wird noch eine Weile dauern. Aber sie haben ja alles soweit mit Oberarzt Schneider besprochen. Falls von ihrer Seite keine Fragen mehr sind, Frau Kinge... Frau Drechsler…?“
Seine Mutter blickt ihn an und seufzt. Sie schüttelt den Kopf.
„Wir können Oliver mal das Spielzimmer zeigen.“
„Willst du das Spielzimmer sehen?“
Oliver starrt auf die Wand. Er krallt die Nägel beider Hände in die ALF-Plüschfigur. Dann zuckt er mit den Schultern.
Er hat die Plüschfigur schon die ganz Woche im Blick gehabt, seit der Jahrmarkt seine Zelte aufgeschlug. Er liebte die Fernsehserie über alles und als sich dann plötzlich die Möglichkeit bot, seinen eigenen ALF zu besitzen, konnte er in dieser letzten Schulwoche vor dem beschissenen Krankenhausaufenthalt keinen klaren Gedanken mehr fassen. Aber seine Mutter hatte abgewunken. Viel zu teuer, sagte sie und ließ ihn stehen, um seinen Koffer für die lange Zeit zu packen. Papi hätte ihn bestimmt gekauft, dachte er.
Die Krankenschwester geht mit schnellem Schritt voraus. Als sie vor der schweren Tür stehen, durch die großes Gemurmel dringt, hält seine Mutter ihm ihre Hand hin. Widerwillig nimmt er sie an.
„Alles gut?“ flüstert sie ihm zu.
Oliver schweigt.
Die Wucht des Lärms wirft ihn fast um. Stöhnen, Kreischen, Lachen, Ächzen – aus allen Ecken prasselt dieser dämonische Krach auf ihn ein. Der Schock schießt ihm bis in die Finger, und er umklammert fest die Hand seiner Mutter. Mehrere Betten stehen um Tische herum, einige Rollstühle versperren den Weg und mit Gehstützen bewaffnete Kinder humpeln quer durchs Zimmer. In den Betten liegen Kinder mit verdrehten Augen und von Spasmen verkrüppelten Händen, die schmierigen Haare kleben ihnen an der Stirn, manche sabbern auf einen Latz, den man ihnen umgebunden hat. Dazwischen ein paar Kinder in Bademänteln, die sich über ein „Malefiz“-Spielbrett beugen, während eine Betreuerin auf Knien unter dem Tisch nach dem Würfel sucht. Ein klagender Laut, der an eine Waschmaschine im Schleudergang erinnert, dringt aus einer Kehle. Der süßliche Geruch von Schweiß und Erbrochenem liegt in der Luft, sodass Oliver instinktiv durch den Mund atmet.
„Das ist Oliver Kingeter,“ sagt die Krankenschwester zu der Betreuerin mit den langen glatten Haaren, die aufsteht und ihm entgegenkommt.
„Hallo Oliver, ich bin Gabi.“
„Ich bin hier für das Spielzimmer verantwortlich und dafür, dass den Kindern hier nicht langweilig wird.“
Oliver blickt auf den Boden.
„Ich habe schon gehört, dass du zu uns kommst und wahrscheinlich ein bisschen bleiben wirst.“
Olivers Mutter lächelt gequält und nickt.
„Ich würde mich freuen, wenn du mir hier im Spielzimmer ein bisschen helfen könntest, weil ich nicht mit allen Kindern gleichzeitig spielen kann.“
Oliver blickt zu dem Bett am Fenster, in dem ein Mädchen sich gerade den Finger ins Auge steckt, jault und den Kopf auf dem fleckigen Kissen hin und her wirft.
Die Krankenschwester wendet sich an seine Mutter. „Die Kinderstation und die neuroorthopädische Kinderstation haben ein gemeinsames Spielzimmer, darum ist hier die Hälfte von uns und die andere Hälfte von der Station nebenan.“
Gabi bückt sich zu Oliver herab.
„Wen hast du denn da?“
Oliver hält seine Plüschfigur fest.
„Das ist ALF.“
„ALF? Der aus dem Fernsehen?“
Oliver nickt.
„Den hat er wohl auf dem Jahrmarkt gewonnen,“ sagt die Krankenschwester.
„Auf dem Jahrmarkt? Wow!“
„DER HEISST GAR NICHT ALF!“
Alle blicken zum Spieltisch wo ein kleiner Junge hinter seinen „Schwarzer Peter“-Karten hervorlugt.
Oliver schaut verwundert zu Gabi.
„D… doch, das ist aber ALF.“
„NEI-HEIN! DER HEISST NICHT SO! DER HEISST ANDERS!“
Gabi wendet sich an den Jungen. „Und wie heißt er dann?“
„Shumway! GORDON SHUMWAY! SO heißt er auf Melmac, seinem Heimatplaneten. ALF haben ihn nur die Menschen auf der Erde genannt. Aber sein Name ist das nicht.“
Oliver schüttelt den Kopf. Er will etwas erwidern, aber aus seinem Mund kommt kein Ton.
Wie gestern.
Er wachte auf und wunderte sich, dass das Radio nicht lief wie sonst immer, wenn seine Mutter das Frühstück machte. Dabei hatte sie ihm versprochen, zur Feier des Tages sein Lieblingsfrühstück zuzubereiten, Toast belegt mit Spiegelei und kalten Kakao aus dem großen Bierkrug. Schließlich war es das letzte Sonntagsfrühstück für lange Zeit, weil sie nach all den Jahren vergeblicher Suche endlich einen Arzt gefunden hatten, der sich zutraute, seinen krummen Rücken zu operieren. Nie mehr stundenlang Ausharren im Wartezimmer, immer dieselben Röntgenbilder, immer dieselben Fragen und immer dieselben Zweifel.
Er hörte seine Mutter lachen, aber er da war auch eine fremde Männerstimme. Seit Papi ausgezogen war, hatte er keine Männerstimme mehr in der Wohnung gehört.
Er nahm seinen Stock, den er im Wald geschnitzt hatte und ging langsam in Richtung Frühstückstisch, während die Stimmen immer lauter wurden. Er stieß die Tür auf und seine Mutter saß am Kopfende des Tisches, wo sie normalerweise nie jemand sitzt, während auf ihrem Platz auf der Eckbank ein fremder Mann in ein Marmeladenbrötchen biss, mit dickem Schnauzbart und hochtoupierter Frisur auf dem Kopf, der ihn mit einem hochgezogenen Mundwinkel anlächelte.
„Das ist Bernd. Sei höflich und gib ihm die Hand,“ sagte seine Mutter.
Oliver rührte sich nicht, sondern hielt seinen Stock in der Hand, bereit, diesem Fremden die Augen auszustechen.
„Oliver, bitte, leg den Holzstab weg,“ bat sie ihn. Bernd blickte ihn gar nicht an, sondern betrachtete den Anhänger ihrer langen, goldenen Halskette, der auf ihrem nackten Brustbein lag.
Oliver sagte kein Wort, machte kehrt und verschwand in sein Zimmer. Seine Mutter kam ihm hinterher und flehte ihn an, ihr einen Gefallen zu tun und zum Frühstück zu kommen. Aber er saß im Schneidersitz auf seinem Bett saß und starrte an ihr vorbei auf die Indianertapete seines Zimmers.
Er musste an die ALF-Figur denken. Wenn ich nur dieses Plüschtier hätte, dachte er, dann bräuchte ich niemand anderen mehr, dann würde ALF mir vollkommen reichen.
„Dann zeigen wir dir mal dein Zimmer,“ sagt die Krankenschwester und verschwindet ohne zu Warten durch die Tür. Gabi winkt ihm noch hinterher, während seine Mutter ihn mit schnellem Schritt hinter sich herzieht.
Im Zimmer stehen sieben Betten, vier davon leer. In den anderen liegen Jugendliche, die in ihren Jugendzeitschriften blättern oder Kopfhörer auf den Ohren haben. Sie kümmern sich nicht um den Knirps, der da mit seiner Mutter den Koffer ins Zimmer schleppt.
Die Krankenschwester schiebt einen Nachttisch neben Olivers Bett, und sucht einen freien Schrank. Dann verabschiedet sie sich.
Olivers Mutter steht vor dem Schrank und sortiert die Wäsche ein, während er sich nicht traut, das Zimmer zu inspizieren. Er vergräbt das Kinn in ALFs Haupt und wartet darauf, dass seine Mutter ihn endlich hier alleine lässt, damit ALF und er diese neue Zeit gemeinsam in Angriff nehmen können.
Er muss daran denken, wie er sich ganz leise in den Flur schlich, während seine Mutter und Bernd überm Frühstückstisch kicherten, wie er sich an ihrer Handtasche zu schaffen machte und aus ihrem Portemonnaie einen Zwanzig-Mark-Schein herausstahl, wie er das Geld schnell in die Unterhose stopfte und zurück ins Zimmer huschte, wo er auf die Digitalanzeige der Uhr starrte, bis der Jahrmarkt endlich seine Tore zum letzten Mal für dieses Jahr öffnete. Letzter Tag, halber Preis.
„Ich muss jetzt bald gehen,“ sagt sie, nachdem sie sich zu ihm aufs Bett gesetzt hat.
Oliver antwortet nicht, sondern blickt an ihr vorbei auf das braune Frotteebettlaken, mit dem sie hier die Bettwäsche überziehen, um eine Art Tagesdecke auf den Betten zu haben.
„Willst du wirklich nicht mehr mit mir reden, bevor ich gehe?“
Oliver schweigt.
„Sag doch was, Oliver.“
Ihm ist die Situation vor den anderen peinlich, aber die kümmern sich alle um wichtigere Dinge, ihnen ist er egal.
„Ich habe Bernd gesagt, dass ich ihn nicht mehr treffen werde.“
Oliver schaut sie an.
„Ich hab‘ ihm gesagt, dass ich momentan keine Zeit für ihn haben kann, weil ich mich um dich kümmern muss. Kümmern will. Hab‘ ihm gesagt, dass er nicht mehr anrufen soll.“
„Kommt er nicht mehr?“
Sie schüttelt den Kopf.
Ihm schießen die Tränen in die Augen.
„Ist alles wieder gut bei uns?“
Er fällt seiner Mutter um den Hals. Sein Brustkorb und seine Arme beben, während er sein Gesicht in ihrer Schulter vergräbt und schluchzt.
Sie hält ihn ganz fest, streicht ihm übers Haar und wartet geduldig darauf, dass er sich wieder beruhigt.