Show Business
Beim Bau des imposanten Freiluft-Theaters hatte man weder Kosten noch Mühen gescheut.
Die Architektin – eine aufstrebende junge Frau – konnte sich Folgeaufträge sichern und selbst die eingefleischtesten Kritiker lobten das erstaunliche Design.
Das absolute Highlight war ein überdimensionales Wasserbecken, das bodenlos tief zu sein schien und doppelt so große Ausmaße wie ein Fußballfeld hatte.
Die dargebotenen Vorstellungen waren nicht für die breite Masse gedacht, da sich die horrenden Kartenpreise nur die wirklich gut Situierten leisten konnten.
Die Reihen des Theaters begannen sich zu füllen und hier und da konnte man einige Gesprächsfetzen aufschnappen.
... Wir mussten die Karten ein Jahr im voraus bestellen, es ist ganz unerhört ...
... Natürlich ein Swarovski-Fernglas. Diese Verbindung von klassischem Design und modernem Innenleben ...
... Ich muss die Einladung bedauerlicherweise ablehnen, da ich morgen einen Vortrag über Makroökonomie und wirtschaftspolitische Simulationen halte ...
... Das war ja wohl klar, dass sich diese neureichen Steinbergs Logenplätze gesichert haben ...
... Was, der alte Fetzen? Ist zwar von Givenchy, aber findest du nicht auch, dass meine Persönlichkeit zu wenig unterstrichen wird? ...
Dann betrat die weltberühmte Moderatorin und Schauspielerin Minerva B. die Bühne und die Menge begann zu klatschen. „Ladies und Gentlemen! Ich freue mich aufrichtig, Sie zu unserer zwanzigsten Show begrüßen zu dürfen! Wie schön, lauter strahlende Gesichter hier, Ihre Vorfreude wird belohnt werden, seien Sie sich dessen gewiss.“
Minerva warf dem Publikum einen schelmischen Blick zu und die halbe Männerwelt fiel vor Entzücken fast in Ohnmacht. Kein Wunder, die junge Dame bot einen bezaubernden Anblick. Die edlen Gesichtszüge wurden von langen rotblonden Locken eingerahmt und das schwarze züchtig geschnittene Kleid umschmeichelte Minerva`s atemberaubende Kurven.
„Nun will ich Sie aber nicht länger auf die Folter spannen, meine Lieben!“, rief Minerva und wedelte anmutig mit ihren Moderatorenkärtchen durch die Gegend. „Das Thema des heutigen Abend lautet ‚Zu Tode verurteilte Diebe’! Diese werden nun vor Ihnen tanzen und singen und hoffentlich ALLES geben. Sie, mein sehr verehrtes Publikum entscheiden, wer der BESTE ist! Es kann nur EINEN geben! Der Rest wird ... nun wie soll ich es am geschicktesten ausdrücken ... also der Rest wird nach dem Motto unserer Show ‚Der Schwächste fliegt’ kostengünstig entsorgt! Und DAS wird der absolute Höhepunkt dieser Veranstaltung. Unsere Kandidaten wissen nicht, WIE die Entsorgung statt finden wird! Aber ICH weiß es und SIE wissen es auch! An dieser Stelle möchten wir unserem göttlichen Präsidenten für diesen grandiosen Einfall, der uns Steuerzahlern die doch sehr kostenintensive Unterbringung von Todeskandidaten erspart, herzlich DANKEN!“
Ein Tosen ging durch die Menge und das Publikum begann wild zu klatschen. Einige Damen der Gesellschaft hatten vor Rührung Tränen in den Augen und auch so mancher Herr tupfte sich heimlich das Gesicht ab.
Zehn Sträflinge kamen im Gleichschritt auf die Bühne getrabt, in orangefarbene Overalls gekleidet und mit Handschellen um die Handgelenke, die schaurig klirrten und klapperten. Die Männer zitterten allesamt wie Espenlaub, mit wachsweißen Gesichtern blickten sie panisch in die Menge. Als einer von Ihnen die Reihen durchbrach und von der Bühne springen wollte, wurde er von zwei Aufsehern mit Schlagstöcken zurück geprügelt. Das Publikum würdigte diese noble Geste mit einem tosenden Applaus und die beiden Aufseher verbeugten sich verlegen und lächelten dankend.
„Nun, nun“, sagte Minerva und warf den verängstigten Männern einen tadelnden Blick zu. „Wer wird denn gleich davon laufen wollen! Dies ist eine einmalige – ich betone das Wort EINMALIGE – Chance! Der Sieger bekommt nicht nur sein Leben geschenkt, nein, es kommt noch viel besser! Jungs, denkt doch nur, eine eigene Show! Ich würde es mir an eurer Stelle nicht schon von Anfang an mit den Personen verscherzen, die EUER Leben in der Hand haben.“ Minerva zwinkerte bedeutungsschwanger. „Und jetzt werden Nägel mit Köpfen gemacht! Der erste Kandidat ist Joey S.! Dieser wird jetzt aus dem weltberühmten Musical Cats ‚Macavity’ darbieten. Wollen wir für Joey auf eine halbwegs vernünftige Performance hoffen! Es geht schließlich nicht nur um KÖNNEN sondern auch um SYMPATHIEWERTE!“
Die restlichen neun Männer wurden hinter die Bühne getrieben und alle Scheinwerfer richteten sich auf Joey S., der schlotternd und zitternd im Rampenlicht stand und von Panikattacken gepeinigt wurde. Als auf einem überdimensionalen Screen der Text des Songs erschien und das Orchester die ersten Töne anschlug, glaubte Joey auf der Stelle tot umfallen zu müssen. Sein Elend bestand darin, dass dies nicht geschah. Keiner von den Gefangenen hatte gewusst, was sie hier erwartete. Keine Information, nicht der leiseste Anhaltspunkt, gar nichts. Was hatte die Moderatoren-Tussi mit dem Höhepunkt der Show gemeint? Joey war sich im Klaren, dass es nichts Gutes sein konnte. Seine Gedanken wirbelten durcheinander, während er begann, mit versagender Stimme den Text abzulesen. Er kannte den Song nicht, aber er krächzte sich durch. Der kalte Schweiß strömte in Bächen über seinen Körper, er dachte nur „Bitte lasst mich einfach sterben! Gebt mir die Spritze, gebt mir den Stuhl, aber nicht DAS hier!“
Als er geendet hatte, brach das Publikum in johlendes Gelächter aus. Minerva B. sah Joey mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Mein lieber Joey, ich glaube, das war nicht Ihre BESTE Leistung heute Abend!“ Joey sah durch sie hindurch, nahm die Moderatorin nicht mehr wahr. In seinem Kopf hatte sich ein Schalter umgelegt, das Gebrüll der Menge wurde immer leiser und leiser und schließlich verstummte es völlig. Mit leeren Augen starrte er wie blöde vor sich hin.
Die Show schritt voran. Der vierte Kandidat, fast noch ein Junge, brach mitten in seiner Darbietung zusammen und rührte sich nicht mehr. Sofort kam eine kesse Sanitäterin im knappen Minikleid auf die Bühne gestürmt, um sich um den Mann zu kümmern. „Der ist hinüber“, sagte sie schließlich bezaubernd lächelnd ins Mikro. „Herzinfarkt“.
Schließlich stand der Sieger fest. Mit dem Song „Ein bisschen Frieden“ von Nicole hatte Jim T. das Publikum ganz auf seiner Seite. Es regnete Blumen und Teddybären und der völlig verwirrte Kandidat, der nicht wusste, wie ihm geschah, wurde auf Händen von der Bühne getragen, um die erste Autogrammstunde seines gewonnenen Lebens zu geben. Aber zuerst bekam er einen innigen Kuss von Minerva, die errötend gestand, dass sie auf SO EIN WILDES TIER wie ihn völlig abfahren würde.
„Genug gescherzt!“, rief Minerva gut gelaunt ins Publikum. „Nun wollen wir zum eigentlichen Höhepunkt des Abends kommen!“
Die Rufe aus der Menge schwollen zu einem gewaltigen Gebrüll an.
„RICKY! Wir wollen RICKY! Gib uns RICKY!“
Minerva wandte sich an die acht verbliebenen Kandidaten, die nun wieder mit Handschellen gefesselt waren. Ein mitleidiges Lächeln umspielte ihre fein geschwungenen Lippen. „Tja, meine Lieben – ihr seid die großen Verlierer heute Abend und werdet jetzt den WAHREN und EINZIGEN Star in dieser Show kennen lernen!“
In das gigantische Wasserbecken kam plötzlich Bewegung. Schwere Metallgitter wurden unter Wasser empor gezogen und ein dunkler, riesiger Schatten schoss in das Becken.
„Ladies! Gentlemen! Hier ist unser Ricky!“ In einem Forschungsprojekt ist es uns gelungen, die prähistorische Riesenvariante des weißen Hais zu klonen, der vor 25 Millionen Jahren die Weltmeere beherrscht hat! Der Megadolon ist wieder geboren! Dieser riesige Urzeithai ist dreizehn Meter lang, die Schwanzflosse vier Meter und die Rückenflosse zwei Meter hoch! Er wiegt 14 Tonnen!“
Minerva blinzelte verschwörerisch den acht Todeskandidaten zu, die vor Angst wie gelähmt den Worten der Moderatorin gelauscht hatten. „Und erst die ZÄHNE!“, kicherte Minerva. „Fünfzehn Zentimeter! Und Ricky hat HUNGER!“
„REIN MIT DEN VERBRECHERN! REIN MIT IHNEN INS WASSER!“, brüllte das Publikum und geriet völlig aus dem Häuschen.
Die Männer traten ihren letzten Gang an. Von Freiwilligkeit konnte natürlich nicht die Rede sein – sie wurden von etlichen Polizeibeamten auf eine Rampe geprügelt. Knochen und Gelenke brachen wie dünne Zweige, einer von den Männern verlor sein rechtes Auge, das er Minuten später sowieso nicht mehr benötigte.
Die ehemaligen Sträflinge wurden ins Wasser geworfen. Der völlig ausgehungerte Megadolon witterte Nahrung, durchpflügte mit geballter Kraft und großer Geschwindigkeit die Wassermassen und hielt ein Festmahl. Es war ein grandioses Schauspiel, eine bombastische Fressorgie und jeder im Publikum war sich einig, dass die stolzen Kartenpreise für die Show durchaus gerechtfertigt waren.
Drei Shows später verstarb Ricky. Er starb an Bewegungsmangel in dem für ihn viel zu kleinen Becken. Die unzulängliche Nahrung und der fehlende Kontakt zu seinen Artgenossen forderten ihren Tribut. Ricky ging krank und einsam zugrunde. Sein Elend hatte ein Ende, ein anderes begann.
Die Wissenschafter zauberten einen weiteren Klon aus dem Labor, denn die Welt war sich einig, dass die Show weitergehen musste.