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Sheera
Vor langer Zeit gab es weit draußen, in den Weiten des Ozeans, eine kleine Insel.
Wärst Du der Wind, welcher dort wehte, hättest Du den Gesängen der Frauen lauschen können.
Wärst Du die Sonne, welche hernieder schien, hätten Deine Strahlen lachende Kinder umhüllt.
Wärst Du das Wasser des Meeres, hätten Deine Wellen die Boote der zufriedenen Fischer getragen.
Wenn die Sonne das Meer blutrot färbte, brachten sie ihre vollen Netze nach Hause.
Sheera, ein kleines Mädchen von 6 Jahren mit einer Stupsnase und einem schelmischen Lächeln im Gesicht wollte - wie jeden Abend - ihren Vater abholen.
Er wunderte sich sehr, als sein kleines Mädchen nirgends zu sehen war. Er brachte seinen Fang nach Hause und suchte dort nach ihr. Sheera war nicht da, er sorgte sich.
Gerade als er sich aufmachen wollte, um sie zu suchen – kam sie weinend um die Ecke gebogen. Er ging auf sie zu und nahm sie in seine starken braungebrannten Arme und spürte tiefe Liebe, als das kleine Köpfchen schluchzend auf seiner Schulter zur Ruhe kam.
„Papa – eine alte Frau hat mir diese Muschel geschenkt. Sie nannte sie, die Muschel des Neides und der Gier. Ich weiß nicht was das ist Papa, aber wie kann eine so wunderschöne Muschel nur so grausame Dinge enthalten. Hör nur, wie die Menschen sich streiten und zanken, wie sie schreien und vergessen haben zu lachen ... hör doch mal Papa ...“ Der Vater legte sie an sein Ohr. Nichts – nur das Rauschen des Meeres, harmonisch und fließend.
Große traurige Kinderaugen schauten ihn an. Sie nahm die Muschel und ging kraftlos ins Bett.
Es war nichts mehr so wie zuvor seit jenem Abend. Der Wind lauschte den Gesängen vergebens, die Sonne traf auf keine lachende Kinder mehr und die Wellen trugen die Fischerboote, in welchem jedes Gefühl erstarb.
Seit Monaten neideten sich die Menschen ihr Hab und Gut, stritten sie über Kleinigkeiten und sahen vor lauter Ignoranz das Schöne im Leben nicht mehr.
Sheera war sehr unglücklich. Betrübt lief sie eines Abends am Strand entlang.
Ihr Herz stockte, sie wollte weglaufen – aber ihre Füße waren starr vor Angst. Abermals kam die alte Frau auf sie zu ... von ganz weit erkannte Sheera diesen gekrümmten Gang. Sah sie, wie die Alte ihr linkes Bein leicht hinterzog.
Tränen kullerten über Sheeras Gesicht. Kalte starre Augen blickten sie an. „Hier Sheera ... nimm diese Muschel ... Höre was geschieht! Höre! Warne die Menschen Sheera, gehe zu Ihnen ... erzähle Ihnen was Du hörst...“, sprach die Alte eindringlich mit zittriger Stimme.
„... aber ... aber ... niemand sonst kann es hören“, wisperte Sheera. „Warne sie!“, sprachs und verschwand.
Sheera fürchtete sich vor dem, was die Muschel als Geheimnis verbarg. Sie wollte sie wegwerfen, nie wieder sehen müssen – aber sie konnte es nicht. Magnetisch führte sie die Muschel an ihr Ohr.
Schreie gequälter Menschen ... weinen von Kindern ... Sheera schmiss die Muschel in den Sand. Das konnte sie nicht ertragen. „Warne sie, warne sie vor den Kriegen, welche sie führen werden, vor dem Tod, dem Elend ... warne sie ...“, die Stimme ertönte aus dem Nirvana.
Sheera kehrte zurück in ihr Dorf. Abermals erzählte sie ihrem Vater von der Muschel, aber mals bat sie ihn zu lauschen ... und abermals NICHTS.
Ein kleiner Junge hörte zufällig das Gespräch, flitzte nach Hause und gab sein Wissen ungeniert an seine Eltern weiter. Am nächsten Tag wussten alle Menschen im Dorfe von der Muschel und der alten Frau, hörten sie die Ankündigungen von Krieg und Armut, Hunger und Leid.
Die Streitigkeiten nahmen zu, immer größer wurden die Spannungen ... immer knisternder die Luft. Anfangs verschwanden einige Menschen spurlos, aber bald verlor man jegliche Hemmung. Gruppen bildeten sich und kämpften gegen andere. Das Leid schlug um sich, die Gewalt hielt die Menschen fest in ihren Klauen.
Eines Abends, die Sonne schien nicht mehr, der Wind stand still und die Wellen hielten das Meer so ruhig, das es aussah wie ein riesiger Spiegel, gab es auf dem Marktplatz abermals eine dieser nie enden wollenden Diskussion um Schuld und Unschuld. Nie konnten die Streitigkeiten beseitigt werden, da jeder von solch einer Prinzipienfestigkeit war, das nichts ihm den Glauben nehmen konnte, der Klügere zu sein.
Der kleine Junge von damals rief laut in die Massen: „Sheera ... Sheera hat die Muschel gebracht ... Sheera hat den Tod gebracht.“ Die Gesichter der Menschen blitzten auf, sie konnten ihren Hass lenken ... sie hatten ihren Sündenbock. Schnell waren Fackeln entzündet, schnell lief man Seite an Seite mit dem Feind zur kleinen Hütte, vor dessen Sheeras Vater ein Fischernetz ausbesserte.
„Wir wollen Sheera!“ „Wo ist die Hexe?“ „Vernichtet Sheera!“ „
Sheera war nicht zu Hause, sie war am Strand und blickte wie jede Nacht in den Sternenhimmel.
Das laute Geschrei vernahm sie wie in Trance. Sie drehte sich um. Die Hütte ihrer Eltern brannte, ... Menschen kamen auf sie zugerannt ... wutentbrannt und zu allem entschlossen.
Sheera drehte sich zum Meer. Einen Schritt von den anderen setzend ging sie hinein. Der Wind peitschte durch die Nacht, die Wellen schlugen hoch über dem Mädchen zusammen und es war für einen Moment so, als ob die Sonne schien, als ein funkelnder Stern aus den Fluten auftauchte und seinen Platz im Himmel fand.