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Sharia
Sharia durchstreifte den Wald, wie sie es schon seit vielen Sommern tat. Sie lief diese Runde schon seit sie denken kann. Dies war ihre Aufgabe als Patrouillenläuferin. Ihre langen, schlanken Beine trugen sie rasch vorwärts. Es war ein kühler Spätsommermorgen, bald würde es Herbst werden und die Pflanzen trugen dicke Früchte. Sie sprang über einen kleine Bachlauf, in dem sie als Kind immer versucht hatten Fische zu fangen. Gleich würde sie den düsternen Wald erreichen. Im düsternen Wald lebten die Marillas, affenartige Kreaturen. Ihre Sippe war erst kurz vor ihrer Geburt hierhin gezogen und fand ein Paradies vor: Dichte Wälder mit großen Lichtungen zum Klettern und Jagen, dazu genug Bäche und Teiche für frisches Wasser. Das erste Treffen mit den Marillas wurde durch Missverständnisse geprägt. Einige Jäger aus ihrer Sippe waren hinter ein paar kleinen Huftieren her, als diese auf eine Gruppe Marillas trafen. Beide Gruppen fingen aus Futterneid an, die jeweils andere Gruppe anzugreifen. Die Huftiere suchten natürlich schnell das weite. Von da an herrschte Krieg zwischen den Rassen. Der Krieg zwischen den Gruppen war ziemlich ausgeglichen: Beide konnten gut klettern und laufen. Auch beschränkte sich die Wahl der Waffen auf ihre Körper, also größtenteils Zähne, Klauen und Hände. Nach vielen Verwundeten und einigen Toten siegte die Vernunft und man kam zu einer friedlichen Übereinkunft: Jeder darf sich im Wald frei bewegen und dort jagen wo er möchte, nur die Lager sind tabu. Seit diesem Tag dämmerte der Wald und seine Bewohner vor sich hin.
Auch im düsteren Wald war alles friedlich, Sharia sah zwei Marillas auf ihrem Wachposten. Sie hob grüßend die Hand und die Wächter nickten ihr zu. Nun lief sie weiter, über eine große Lichtung hin zu einem lichten Teil des Waldes. Doch was war das? Irgendetwas hatte auf dem Boden Spuren hinterlassen. Es scheint sich um eine Art Schlange gehandelt zu haben, denn die Spuren sind dünn und gehen immer gradeaus weiter. Merkwürdig, das es so viele Schlangen sind. Und das sich zwischen den ganzen Schlangenspuren noch andere Spuren befanden. Diese Spuren kannte Sharia. Die kleinen Huftiere im Wald machten ähnliche Spuren, nur kleiner. Größere Huftiere wären auch eine gute Beute. Aber die Spuren der Schlangen und die der Huftiere überschneiden sich. Es scheint so, das ob die beiden Tierarten in einer Herde gezogen wären. Aber Schlangen sind Einzelgänger! Sharia folgte den Spuren. Dabei fand sie noch weitere Merkwürdigkeiten. Die Schlangenspuren machten immer Kurven um Hindernisse, selbst um so Kleinigkeiten wie tiefhängende Zweige oder größere Steine. Sie verfolgte die Spuren weiter, nun war sie in die Nähe ihres Lager. In der Ferne hörte sie Geräusche und lief langsamer. Die Geräusche wurden lauter und hörten sich nicht nach Huftieren an. Und Schlangen klangen ganz anderes! Vorsichtig schlich Sharia näher an die Geräuschquelle heran.
So was wie diese Gruppe hatte sie noch nicht gesehen. Die Schlangenspuren stammten von Kästen aus Holz, die auf zwei runden Dingern standen. Anscheinend wurden diese Kästen von den großen Huftieren gezogen, die jetzt an einen Baum gefesselt waren. Am merkwürdigsten waren allerdings die Bewohner der Kästen. Sie gingen auf zwei Beinen, hatten zwei Arme und einen Kopf. Damit hörte aber die Gemeinsamkeit mit Sharia's Sippe schon auf. Die Fremden hatten eine glatte, rosige Haut und ihre Haarfarbe reichte vom Gelb bis zu Schwarz. Viele der Fremden trugen sogar lange Haare im Gesicht, interessanterweise aber nur am Kinn und an den Lippen. Irgendwas schienen die Fremden bauen zu wollen, denn sie räumten Pflanzen und Steine zur Seite. Sharia beschloss, noch einige Zeit zu bleiben und die Fremden zu beobachten. Nach kurzer Zeit holten einige der Fremden große Gegenstände aus glänzendem Material aus einem der Wagen. Sharia sah mit Schrecken, dass mit diesen Gegenständen auf Bäume eingeschlagen wurde. Voller Schrecken wollte Sharia sich abwenden und dem Rat der Ältesten von den Fremden berichten, aber die Neugier war stärker. Ein wenig wollte sie noch die Fremden beobachten, vielleicht hatten die Fremden ja ihre Gründe, warum sie die Bäume angriffen. Die Fremden warfen ein paar Bäume zu Boden, entfernten die Äste und zogen ihnen anschließend die Rinde ab. Bevor sie mit ihrer Arbeit weitermachen konnten, waren an der gegenüberliegenden Seite des Lagers Geräusche zu hören. Einige der Fremden kamen grade aus dem Wald zurück. Sie hatten gejagt, denn sie trugen einige tote Huftiere. Zwei der Jäger hatten etwas lebendes dabei, was sich heftig gegen den Griff der Jäger wehrte. Als sie näher kamen erkannte Sharia, das es eins der Kinder ihrer Sippe war. Die Jäger legten die Huftiere zu Boden und gingen zu einem der Fremden, der anscheinend ihr Ältester war. Der Älteste betrachtete das Kind und untersuchte es kurz. Er sagte etwas zu den Jäger, dann griff er sich an ein Lederband, was er um die Hüfte trug und zog einen kleinen Metalgegenstand heraus. Mit einer raschen Bewegung stach er den Kind den Metalgegenstand in die Brust. Das Kind zuckte kurz und starb dann, die Jäger legten die Leiche des Kindes zu den toten Huftieren. Erfüllt von Schrecken und Entsetzen schlich Sharia sich davon. Sie musste den Rat der Ältesten über die Fremden informieren!
Kurz nach Sharias Ankunft im Lager traf sich der Rat der Ältesten. Zur Zeit bestand der Rat aus vier Mitgliedern. Auch wenn der Rat die Beschlüsse für die Sippe traf, so konnte doch jedes Sippenmitglied an den Treffen teilnehmen und sich zu Wort melden. Sharia trat vor den Rat und fing an zu sprechen, erst stockend und unzusammenhängend, später immer flüssiger. Während sie von den Fremden im Wald und dem Tod des Kindes erzählte, versammelte sich die ganze Sippe um den Rat. Nachdem Sharia fertig gesprochen hatte, stellte der Rat noch viele Fragen: Aus welcher Richtung kamen die Fremden? Wie viele sind es? Hatte sie den Marillas bereits von den Fremden erzählt? Nachdem Sharia die Fragen so gut wie möglich beantwortet hatte, zog sich der Rat zur Diskussion zurück. Der Rest der Sippe wartete draußen auf Nachrichten. Die Sonne hatte bereits ihren höchsten Stand erreicht, als der Rat zurückkehrte. Das älteste Ratsmitglied war gleichzeitig auch der Sprecher des Rates und verkündete die Entscheidung: Da die Fremden offensichtlich Feinde sind wird die gesamte Sippe diese Nacht losziehen und die Fremden töten. Ein Bote wird zu den Marillas geschickt, um diese über die Fremden zu informieren und um Hilfe zu bitten. Die Sippe solle sich ausruhen, sobald die ersten Sterne leuchten ziehen sie los!
Sharia lag hinter einem Busch in Deckung und beobachtete einen der Wächter, den die Fremden aufgestellt hatten. Rund um deren Lager bildeten die Wächter einen Ring, ihre Sippe hatte einen zweiten Ring um die Wächter gezogen. Nun wartete die Sippe auf das Zeichen zum Angriff. Sharia sollte dieses Zeichen geben, indem sie den Wächter in ihrer Nähe angriff. Sie dachte kurz über das nach, was nach der Ratssitzung passiert war: Der Bote zu den Marillas war schnell zurückgekommen und brachte gute Nachrichten. Die Mariallas wussten bisher nichts von den Fremden, hatten aber kein Interesse daran, das diese länger im Wald blieben. So zog ihre Sippe zum ersten Mal mit den Marillas in den Kampf. Nun war es wieder Zeit, sich auf die Fremden zu konzentrieren. Ihr Opfer drehte sich grade um und ging ein paar Schritte auf die Wagen zu. Dort blieb er stehen, mit dem Rücken zu ihr. Kein anderer Wächter konnte sie sehen, also kroch Sharia aus ihrer Deckung und näherte sich dem Fremden. Als sie nur noch eine Armlänge entfernt war stand sie auf. Der Wächter drehte sich plötzlich um und ein Ausdruck der Überraschung lag in seinen Augen. Ein rascher Hieb riss ihm die Kehle auf, der Angriff hatte begonnen. Hinter ihr ertönte ein Geräusch! Im Schatten eines Baumes stand ein weiterer Wächter, den sie bisher nicht gesehen hatte. Er hatte sie auch nicht sehen können, so lange sie am Boden war, doch nun war sie im Licht der Sterne klar zu erkennen. Er öffnete den Mund um die anderen Fremden durch einen Ruf zu warnen und sie konnte ihn nicht schnell genug erreichen um ihn aufzuhalten. Da griffen zwei behaarte Arme eines Marillas aus der Baumkrone und brachen dem Wächter das Genick. Überall am Waldrand begannen sich Gestalten zu bewegen, teilweise sprangen sie aus den Kronen der Bäume, teilweise kamen sie hinter Büschen hervor, teilweise erhoben sie sich aus Schatten. Die restlichen Wächter wurden mit Hilfe der langen Jagderfahrung schnell und lautlos ausgeschaltet. Jetzt kommt der unangenehme Teil: Die Schlafenden töten. Sharia verharrte kurz vor dem Eingang eines Holzkastens, dann dachte sie an das Kind und trat ein. Nach kurzer Zeit war das Gemetzel vorbei, einige Mitglieder ihre Sippe und der Marillas wurden leicht verletzt, doch die Fremden gab es nicht mehr. Sie verließen den Platz und überließen die Wagen sowie die Leichen der Fremden dem Wald. Sharia ging zu einem Bach und wusch sich das Blut aus dem Fell. Sie dachte an einen Kater aus ihrer Sippe, der ihr schon länger angenehm aufgefallen war. Das Leben im Wald geht weiter.