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Ich bitte, mir die folgenden Zeilen nicht anzulasten, denn ich bin nicht der Verfasser. Doch bin ich es einem Freund schuldig.
„Es ist schon ein paar Tage her, dass sich die Geschichte zugetragen hatte. Noch unter der Regierung, die von der EPDB, der ’Europäischen Partei der Begnadeten’, gestellt worden war. Heute sagen viele Leute, man hätte sie weiter regieren lassen sollen. Bei den Wahlen allerdings war die schweigende Mehrheit der Gnadenlosigkeit, wie die Politik der Begnadeten im Volksmund genannt wurde, überdrüssig. Und es hatte den Skandal gegeben, der bis jetzt nur als Gerücht bekannt ist. „Was soll’s“, sagte man gemeinhin, „schlimmer können es die anderen auch nicht treiben. Wählen wir die scheinbare Alternative“. Nun regiert die EPDR, die ’Europäische Partei der Rücksichtsvollen’. Fatalismus ist besser als Idealismus, er hilft zu überleben. Sagen zu viele.
Unübersehbar weit dehnen sich die Felder in den OP, wie man die Ostprovinzen jetzt nennt, denen damals der Beitritt zur EU versagt worden war. Experten hatten berechnet, das deren Mitgliedschaft im Durchschnitt den Gewinn pro Maisaktie um fünf Cent verringern würde. Einstimmig vom EU-Parlament beschlossen und verkündet: Abgelehnt!
Es war ein Mann mit wirtschaftlichem und politischem Gespür, der die Gen-Mais AG vor einigen Jahren gegründet hatte. Kluges Köpfchen, hat sich was gedacht dabei. Und so voll von väterlichem Humor, der Alte. Ratte Goldzahn nannte man ihn anfangs bewundernd, später nur noch RG. Rattenschlau und nicht einen Kassenzahn im Mund, pures Gold. Das machte sein Lächeln so strahlend.
Es wurde gemunkelt, dass RG nicht nur die EPDB, sondern auch die EPDR gesponsert haben soll. Ein paar von den Umweltleuten behaupteten, er hätte die Parteien gekauft. Konnten sie jedoch nicht beweisen. Tja, Verleumdungsklage und Bußgeldfessel angelegt. Nun war Ruhe, Schluss mit Lustig. Sicher war nur eines: RG bezog kein bezifferbares Einkommen, sondern hatte das Recht zu nehmen, was er brauchte. Die Initiative zur Novellierung des Aktiengesetzes hatte die EPDR-Fraktion damals eingebracht als Opposition.
Fakt war, dass die Dividende um 125 % gestiegen war. Je nun, bedenkt man die Einsparung von allen möglichen Schmiergeldern. Und was der Unterhalt der gierigen Horde all der Lobbyisten verschlungen hatte. Ja, RG war schlau, ohne Zweifel.
Die Leute in den OP waren ja so dankbar, dass es mit einem Schlag Arbeit für jeden gab. Arbeitsintensiver Maisanbau, kein großer Maschinenpark. Kriminalität rapide gesunken, toller Nebeneffekt. Der Nährwert des manipulierten Maises übertrifft den des natürlichen um das Dreifache. Die Menschen leben gesünder, im EU-Raum und den Ostprovinzen gibt es nur noch klägliche Überbleibsel der einst mächtigen Mac-Ketten. Das Problem der Überbevölkerung ist auf Jahrzehnte gelöst. Kein Nahrungsmangel mehr.
Dr. Manu hat ein überaus glückliches Händchen. Forschungsprojekte, die er ins Leben ruft, werden immer ein Renner. Der manipulierte Mais ist nicht nur besser hinsichtlich der Schädlingsresistenz, des Nährwertes und der Widerstandsfähigkeit gegen klimatische Bedingungen. Er wies bereits im Versuchsanbau immer wieder Mutanten auf. Glücklicher Weise waren sie rein äußerlich zu erkennen an den gezackten Blatträndern. Die Mutanten wurden untersucht, wobei man auf eine spezifische Eigenschaft stieß. Der regelmäßige Verzehr führt zu einer Dementia, welche die Entwicklung von Intelligenzleistungen verhindert, jedoch ausgebildete Fähigkeiten nicht beeinträchtigt. Nicht nur in Tierversuchen. Sie wird Dementia kukuruza manii genannt, oder kurz DKM. Da hatte Dr. Manu eine Idee. Die Mutanten sind ideal als Beimischung zur Kindernahrung, so ab dem 6. Lebensjahr. Natürlich nicht für die EU-Länder, sondern für die OP. Solche Ideen hatte Dr. Manu schon öfter gehabt, wenn er aus einem der medialen Dschungelcamps kam.
Der wirtschaftliche Nutzen der Einfälle von Dr. Manu ist enorm. Zum Beispiel der mit den Klonen. Er löste das Problem mit den Leihmüttern auf eigene Art. Die enge organische Verwandtschaft des Schweins mit dem Menschen ermöglicht eine Verzwanzigfachung des Geburtenpotenzials. Eine gesunde Zuchtsau trägt gut und gerne zehn Klone aus. In nur knapp vier statt 9 Monaten. Die Aufzucht der Klone erfolgt bis heute in so genannten Klonkolonien. Je nach Verwendungszweck werden sie gezielt mit mutiertem Gen-Mais ernährt. An ihnen besteht großer Bedarf für die Urbarmachung von Mars und Venus, so lange noch keine idealen irdischen Bedingungen dort herrschen. An Klonen, die für besonders gefährliche Arbeiten vorgesehen sind, wird kurz nach dem Wurf eine Lobotomie vorgenommen. So entsteht eine Art Halbroboter.
Doch zurück zu den endlosen Feldern in den OP. Dort wird fleißig gearbeitet von Frauen wie Männern, ganzjährig im Maisanbau. Des Problems der Mutanten ist man Herr geworden; sie treten nicht mehr auf beim gewöhnlichen Gen-Mais. Die Menschen leben in bescheidenem Wohlstand. Das ist nur gerecht und gehört auch zur Globalisierung. Die Gen-Mais AG belohnt den Fleiß mit billiger Kindernahrung. Natürlich aus mutiertem Gen-Mais, der inzwischen Zuchtreife erreicht hat. Es fällt nicht weiter auf, dass sich die DKM allmählich ausbreitet, denn es ist ein Generationenprogramm. Auch sind keine großen intellektuellen Fähigkeiten erforderlich in der Landwirtschaft, wie sie in den OP betrieben wird.
Die Mutanten werden auf gesonderten Flächen angebaut. Den Leuten dort wurde erklärt, dass dieser Mais ausschließlich als Tierfutter diene und für den menschlichen Verzehr nicht geeignet sei. Das ging gut, lange gut. Bis zu dem Skandal. Inzwischen werden die Flächen wieder bewirtschaftet, mit Mutantenanbau.
Es trat irgendwann in den OP eine neue, unbekannte Krankheit auf. Es gab keinen wissenschaftlichen Namen dafür, geschweige eine Erklärung. Man nannte sie der ’Schleim’. „Unser Kind hat den Schleim“, sagten die betroffenen Eltern. Es begann an Finger- und Zehennägeln, später wurden auch die Haare davon betroffen. Sie wurden zunächst lappig-weich, wenig später lösten sie sich in schleimigen Fäden vom Körper. Wuchsen nach und lösten sich wieder in Schleim auf. Es zog sich über Jahre hin, es gab kein Gegenmittel. Quarantäne verhinderte keine Neuerkrankungen.
Schließlich schlugen die Wellen so hoch, dass die europäische Öffentlichkeit darauf aufmerksam wurde. Internationale Ärzteteams wurden aktiv und begannen gezielte Recherchen. Natürlich auch auf Druck der verängstigten Bevölkerung der EU-Länder. So lange es keinen Hinweis zu den Ursachen gab, schien alles möglich zu sein.
Endlich gab es sichere Erkenntnisse, nach Jahren intensivster Forschung. Es lag an den Mutanten, sie waren erneut mutiert, von allen unbemerkt. Sie waren äußerlich nicht voneinander zu unterscheiden.
Inzwischen kann man das Problem mit radioaktiver Bestrahlung des Saatgutes lösen, so das alles wieder den gewohnten Gang geht. Die DKM-Patienten werden irgendwann sterben, dann ist auch die Erinnerung daran bald erloschen.
Natürlich wurde versucht, allen möglichen Leuten den Prozess zu machen. Die Parlamentarische Untersuchungskommission kam zu der einstimmigen Empfehlung an die Europa-Regierung: „Keine Maßnahmen, da nicht vorhersehbar. Kein Vorsatz, keine Fahrlässigkeit. Es geschah im Interesse der Anleger und damit der EU-Bevölkerung, denn die Gen-Mais-Aktien sind Volksaktien. Das Parlament ist vom Volk gewählt, die Regierung vom Parlament. Einzelheiten zu den untersuchten Vorgängen unterliegen der Geheimhaltung aus Gründen der europäischen Sicherheit“.
Wenn das kein Skandal war, dann gibt es überhaupt keine Skandale! Leider gelangten die Hintergründe bis dato nicht an die Öffentlichkeit. Das soll hiermit geschehen. Noch beherrschen wir die Gene nicht. Die Gefahr schläft nur.“
Als ich mit meinem Freund den Irish Pub verließ, peitschten zwei Schüsse durch die Nacht. Er war sofort tot. Das Kuvert mit seinem Artikel hatte er mir in der Kneipe zugeschoben. „Mach was draus“, sagte er, „ich wollte es veröffentlichen, aber keine Zeitung wollte es haben“. So war er, schon in der Schule nannten wir ihn „Der Illusionist“. So etwas einer Zeitung anzubieten!
Ich bitte um Entschuldigung, dass ich nicht unterzeichne.