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Shake
Seine Ankunft war erst vor vier Tagen. Es war Vollmond und die angeblichen Werwölfe in Block C drehten mal wieder durch, als ich vom Pförtner einen Anruf bekam. Er bestellte mich zum Eingang, um dort den Neuankömmling in Empfang zu nehmen. Auf meinem Weg dorthin, musste ich auch Block B durchqueren, in dem die Gedankenleser untergebracht waren. Man konnte es nicht verantworten solch begabte Menschen in Freiheit leben zu lassen. So war es gerechtfertigt, dass wir sie hier einquartierten und kostenfrei behandelten. Und wenn man Nachts durch diesen langen kargen Flur geht, nur kurz einen Blick in die Augen eines solchen Menschen wirft, kann man fühlen, wie die eigenen Gedanken entweichen und ein untrügliches Bild deines Charakters hinterlassen.
So war ich froh, als ich letztendlich den Eingangsbereich von Block A erreichte. Das durchsichtige Panzerglas, am Ende des breiten, weißen Flurs, gestattete einen Blick nach draußen, den ich, wegen den fehlenden Fenstern in der Anstalt, nur dort genießen konnte. Große Regentropfen prallten, aus einem Winkel, der auf starken Wind schließen lies, gegen das Glas und hinterließen ein expressionistisch wildes Muster.
Die Schiebetür öffnete sich. Noch waren nur Schatten im starken Regen zu erkennen. Doch als drei schwarze Gestalten, aus diesem Wasserfall, das Gebäude betraten, konnte ich einen ersten Blick auf das nehmen, was wir alle erwarteten. Shake.
Wild schüttelte er den Kopf, zwischen den zwei Wachen, die ihn zu seiner Zelle bringen würden. Er schüttelte ihn mit einer rasanten Geschwindigkeit, als ob tausend kleine Spinnen sich durch seine schulterlangen, schwarzen Haare wühlten und einen Weg ins Innere durch Nase und Ohren suchten. Aus seiner mitgelieferten Akte entnahm ich die Schwere seines Leidens und Daseins. Insgesamt zwölf Tote gab es in seinem Umfeld. Aufgeschlitzt. Erdrosselt. Zu Tode geprügelt.
Niemand hatte es bis zu diesem Zeitpunkt geschafft ihn zum Reden zu bringen, zu einem Geständnis zu zwingen. Dies war ab nun meine Arbeit.
Wir nannten den neuen Patienten Shake, um einen belustigenden Bezug auf seine Eigenart herzustellen. Doch ich war fest entschlossen seinen richtigen Namen in Erfahrung zu bringen.
Zunächst einmal wurde Shake gewaschen und in den patiententypischen dunkelblauen Anzug gekleidet, bevor er dann in die Beobachtungszelle gesteckt wurde, wo ich die Möglichkeit hatte ihn durch einen einseitig durchsichtigen Spiegel zu analysieren.
Einen ganzen Tag lang lies ich ihn dort und konnte, trotz meiner fast ständigen Anwesenheit, nicht feststellen, dass er auch nur einmal den Kopf nicht schüttelte. In seinem Raum stand lediglich ein Stuhl, den Shake aber nicht benutze. Er hatte sich eine Ecke des Raums verkrochen, von wo er sich nicht wegbewegte.
Zu Beginn des dritten Tages, verfrachteten wir ihn um, in eine übliche Gummizelle. Shake wirkte auf mich nicht aggressiv oder kriminell. Sonderbarerweise wirkte es eher so, als ob er Angst hatte. Deswegen wagte ich seine Zelle zu betreten und ein erstes Gespräch zu führen. Ich stellte mich ihm vor, erzählte von meiner Arbeit und machte ihm deutlich wie wichtig es sei, seinen Namen zu wissen. Ich erhielt keine Antwort, konnte nur das unaufhörliche Kopfschütteln beobachten und verließ die Zelle an diesem Tag, ebenso schlau, wie ich sie betreten hatte.
In der Nacht des dritten Tages gab es den ersten Toten. Eine Wache aus Block D. Shakes Block. Schüsse und Schreie hatten darauf aufmerksam gemacht und den Alarm ausgelöst, der mich aus einem tiefen, erholsamen Schlaf in meinem Zimmer, im Wohnblock, riss. Wenig später war ich am Tatort und betrachtete die, an mehreren Stellen des Körpers, aufgeschlitzte Leiche des Wachmanns. Er lag dort in einer Lache von Blut. Sein Gesicht zeigte den Ausdruck der Angst, die er verspürt haben musste, noch immer. Auch die Patienten im Block waren deutlich verängstigt, ebenso wie ich, als ich erkannte, dass jeder von ihnen den Kopf schüttelte.
Schockiert und entschlossen herauszufinden, was sich dort abgespielt hatte, begab ich mich zum Videoüberwachungsraum. Das Video aus dieser Nacht war ein garantiert unverfälschter Beweis für die geschehenen Vorkommnisse. Auf dem schwarzweißen Film war zu sehen, wie die Wache einige Zeit den Flur auf und ab ging. Das Bild des Fernsehers zeigte auch das kleine Panzerglasfenster an Shakes Gummizelle, wo sich plötzlich Shakes Gesicht dahinter abzeichnete. Das Video war ohne Ton. Mir war jedoch bewusst, dass Shake schrie. Mit weit aufgerissenem Mund rief er nach der Wache, hatte zu diesem Zweck sogar einen Moment aufgehört seinen Kopf zu schütteln, fing jedoch sofort wieder damit an und sein Gesicht verschwand wieder. Gespannt beobachtete ich wie sich die Wache zu Shakes Zellentür begab, sie aufschloss und den Raum betrat. Gerne hätte ich erfahren, was sie dort beredeten, aber ich konnte lediglich beobachten, wie der Wachmann die Zelle nach fünf Minuten wieder verließ. Er sah beunruhigt aus, erst recht, als er anfing den Kopf zu schütteln. Erst tat er es zögerlich, dann hörte er nicht mehr damit auf. Auch nicht als er begann zu schreien. Kopfschüttelnd zog er seine Waffe und schoss auf ein unsichtbares Ziel am Ende des Flurs. Langsam stolperte er dabei rückwärts und plötzlich war für eine einzige Sekunde eine Bildstörung zu sehen, die überging in das, bereits bekannte, blutige Szenario. Die Uhr des Videos zeigte keinen Sprung. Es musste sich also alles innerhalb dieser einen Sekunde abgespielt haben. Aber wer war dafür verantwortlich? Ein Täter war nicht zu sehen.
Mir war klar, dass die einzige Antwort bei Shake zu finden war, weswegen ich ihm, zu Beginn des vierten Tags, einen weiteren Besuch abstattete. In gewohnter Position lag er in seiner Ecke. Er zitterte. Ich setze mich neben ihm auf den Boden und erzählte ihm leise, ich wüsste, dass er nicht Schuld am Tod der Menschen, aus seiner Umgebung, sei. Allerdings erwähnte ich auch, ich wüsste, dass er sich der Identität des Täters bewusst sei. Und dann fing er an zu reden. Er erzählte mir von Geistern, die ihn verfolgen. Auf meine Frage, warum sie ihn verfolgen, antwortete er mir, er kenne ihr Geheimnis, aber er dürfe nicht noch einmal den Fehler begehen es zu verbreiten. Er gestand er habe der Wache davon erzählt, als er die Anwesenheit der Geister spürte. Er wollte nur Hilfe. Ich glaubte nicht an Geister und bat ihn mir von dem Geheimnis zu erzählen. Nach kurzem Zögern ging er auf die Bitte ein und sagte mir man könne sie lediglich aus den Augenwinkeln sehen. Sobald der Blick auf sie fällt, seien sie verschwunden. Nun wusste ich wieso Shake den Kopf schüttelte. Er versuchte sie ständig im Blick zu haben und nicht mehr zu verlieren. Nie hatte ich den Wahnvorstellungen eines Patienten geglaubt, doch dieses Mal zeugte vieles dieser bedrückenden Vorstellung von Wahrheit und als ich aus der Zelle trat, nahm ich Shakes Ratschlag zu Herzen, ich solle auf mich aufpassen.
Während ich die Gänge zum Wohnblock entlang lief und die kopfschüttelnden Patienten sah, brach die Angst in mir aus. Es hatte sich rumerzählt und keiner war nun mehr sicher. Kurz bevor ich kopfschüttelnd mein Zimmer erreichte, hallten die ersten Schreie durchs Gebäude. Das Töten hatte begonnen.
Die Schreie sind jetzt schon sehr nahe. Dieses Videoband soll über die Geschehnisse hier berichten. Gleich werde auch ich meinem Schicksal erleiden, genauso wie derjenige, der dieses Video sehen wird. Deswegen ist das Einzige, um das ich sie bitten möchte: Verstecken sie das Band gut, bevor sie... sterben! Ich will zwar nicht, dass noch mehr Leute sterben, doch es gibt keine andere Möglichkeit, als auf diese Weise von dem Horror, der sich hier abgespielt hat, zu berichten. Ich hoffe dies ist kein Fehler. Oh mein Gott, sie kommen gerade durch meine Tür. Wenn alles so läuft wie gewohnt, werden sie gleich eine kurze Bildstörung sehen und dann... tzzzzzzzz...