Seymours Paradies
Seymours Paradies
Wie oft schon hatte er über seinen eigenen Tod nachgedacht?
Hunderte Mal, tausende Mal ?
Aus Unwissenheit schüttelte er den Kopf.
Bedächtig schlug er die wollene Decke zurück und schaute sich den nackten Körper seiner ehemals wunderschönen Freundin an. Alt und verfallen wirkt das Gebilde, das er nun vor sich sah. Rau und gerissen sieht die Haut aus, über die er seinen Blick fahren lässt.
Wie kann er sie nur lieben?
Hatte man ihm vor vielen Jahren nicht beigebracht, dass schöne Frauen auch schön bleiben?
Hatte man ihm nicht erzählt, dass eine Anti-Aging-Creme jede Zelle alter Haut regeneriert um sie zu spannen und zu festigen?
Behutsam stand er auf, leise, ganz leise, um das renovierungsbedürftige Gebäude nicht zu wecken und betrat – ebenso leise – das Badezimmer, in welchem er die Tür hinter sich schloss.
Schnell den Toilettendeckel hochgeklappt und alles bewässert – alles aus der Toilette.
Mit einem lauten Fluchen nahm sich Seymour eines der herumhängenden Handtücher und wischte die mehr als widerliche Schweinerei weg – mit dem Ergebnis, das der Geruch des eigenen Urins im Raum haften blieb, ohne dass man etwas davon sah..
Ein männlicher Geniestreich!, dachte Seymour lächelnd, während er das Handtuch achtlos in die Ecke warf – seine Frau würde es schon wegräumen – und sich dem Spiegel zuwandte.
Ein verfallenes Gesicht mit leeren, ermüdeten Augen und furchtbar grauen Haaren sah ihm entgegen. Der Schreck, der ihn im ersten Moment überkam, war nicht der erste und würde auch nicht der letzte gewesen sein. Denn obwohl man eigentlich annehmen könnte, dass sich ein sehr intelligenter Mensch, wie Seymour nun mal einer war, recht schnell an das alltäglich gewordene Erscheinungsbild seines Äußeren gewöhnt, war dies doch nicht der Fall.
Jeden Tag betrat Seymour leise das Bad, pinkelte neben die Toilette und erschrak beim Anblick seines eigenen Gesichts und dachte darüber nach warum es eigentlich soweit hatte kommen müssen?
Wie oft schon hatte er über seinen eigenen Tod nachgedacht?
Die Routine in seinem ereignislosen Leben nervte ihn und er wusste, dass er irgendwann seinen Verstand verlieren würde, würde sein Leben weiterhin in diesen Bahnen verlaufen.
Und trotzdem hatte er immer wieder gezuckt, hatte das Messer fallen lassen, die Bremse seines Autos doch noch betätigt und die Tabletten in die Dose zurückgesteckt.
Mit seiner rechten Hand fuhr er über sein Kinn, nur um das gleiche festzustellen wie jeden Tag.
„Du solltest dich mal rasieren…“, hörte Seymour die liebliche Stimme seiner Angetrauten.
„Ich weiß, Schatz, dass solltest du auch.“, murmelte er vor sich hin, während er den Rasierschaum aus dem kleinen rosa Schränkchen neben der pastellfarbenen Ablage kramte.
„Was hast du gesagt?“, hörte er wieder Lindas Stimme.
Diesmal war sie ganz nahe, nicht wie gerade eben.
Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er bemerkte, dass sie direkt hinter ihm stand.
„Morgen, Schatz.“, grummelte Seymour vor sich hin. Er stellte den Rasierschaum vor sich auf das Waschbecken und drehte sich zu seiner Ehefrau um.
Wie oft hatte er sie schon betrogen?
Mit Frauen in ihrem Alter, die sich ihm freiwillig hingaben, Frauen weit unter ihrem Alter, die sich nach erst nach einem kleinen Schweigegeld der gemeinsamen Fleischeslust hingegeben hatten und natürlich Frauen, die man im Fernsehen sah, weit nach Mitternacht, wenn Linda schlief.
Seymour lächelte kurz, ehe er Linda in die Arme nahm und flüsterte: „Ich liebe dich, Lin.“
Mit zärtlicher Gewalt machte sie sich von ihm los.
Misstrauisch sah sie ihm kurz in die Augen, ehe sie – beinahe beiläufig – fragte: „Was verheimlichst du denn jetzt schon wieder vor mir?“
Hinter ihrem scherzhaften Ton versteckte sich etwas. Etwas lauerte dahinter und Seymour wusste, dass sie es wusste – das sie alles wusste.
Sie wusste von seinen Affären, sie wusste von seinen Fantasien, wenn sie miteinander schliefen, sie wusste von seinen Selbstmordgedanken und natürlich wusste sie auch, dass er wusste, dass sie es wusste.
„Was sollte ich dir denn verheimlichen, Schatzi?“, sagte er – nur um die unangenehme Stille zu brechen.
Linda lächelte kurz, ehe sie zu einer Antwort ansetzte: „Okay, da du dieses Frage-Antwort-Spiel so sehr liebst, habe ich hier als Antwort auf deine Gegenfrage noch eine Frage: Was denkst du? Und bitte antworte ehrlich.“
„Ich denke, dass du einen verdammt fetten, hässlichen Arsch hast, dass deine Orangenhaut selbst Frankenstein erschrecken würde, wobei ich jetzt freundlicherweise noch nicht einmal auf deinen Busen eingehe, für den du wahrscheinlich zwei, wenn nicht drei BHs brauchst um ihn irgendwie so aussehen zu lassen, als würde er nur leicht abgeschlafft zu Boden hängen. Außerdem denke ich an den Sex mit dir, der sich in unserem Alter sowieso als Qual herausstellt, mit dir aber noch weniger Spaß macht als mit meiner Hand und ich denke an die Freiheit, die ich wohl erst bekommen werde, wenn ich mich umbringe. Ach ja, außerdem denke ich noch darüber nach was wir heute Abend essen sollen: Puten-, oder Hähnchenbrustfilet?“
Natürlich sprach er diese Worte nicht laut aus, sondern ließ sie in seinen Gedanken verschallen, bis sie in jene Bereiche seines Unterbewusstseins abgedriftet waren, die man leider viel zu selten wahrnimmt.
Tatsächlich sagte er: „Ach, Schatz, du machst dir unnötig Gedanken. Momentan denke ich einfach nur darüber nach, was wir uns heute Abend im Fernsehen ansehen sollen? Ich habe gehört, dass dieser Film auf Sat.1 hervorragend sein soll.“
Linda sah ihn noch einen Augenblick an, dann aber sagte sie: „Gut, wenn das alles ist, dann dusch dich mal und rasier dich, während ich Brötchen holen gehe und Kaffee aufsetze.“
Seymour drückte seiner Frau einen Kuss auf den Mund und fügte lächelnd hinzu: „Danke, Schatz, was wäre ich bloß ohne dich?“
Linda beantwortete die Frage nur mit einem Lächeln und verließ das Badezimmer.
Seymour blieb zurück.
Er lauschte, ob er sie wohl gehen hörte. Ob er wohl hörte, wie sich die Haustür öffnete und wieder schloss, ob er ihre schweren, müden Schritte auf den harten Platten außerhalb des Hauses hörte, ob er hörte wie sie in den Wagen stieg und losfuhr?
Tatsächlich vernahm er all diese Geräusche und atmete erleichtert auf.
Er hasste sich selbst.
Er hasste sich für all das, was er ihr angetan hatte, was er ihr verheimlichte und was er ihr noch antun würde.
Doch was konnte er schon tun?
Würde er seiner jämmerlichen Existenz ein Ende setzen, dann würde er Linda damit gewiss keinen Gefallen tun … und trotzdem war er sich sicher, dass es das Beste sein würde – für sich und für Linda. Auf eine längere Zeit betrachtet würde es so einfach nicht mehr funktionieren. Er verletzte sie jetzt schon mehr als er es jemals beabsichtigt hatte.
Vor vielen Jahren hatte er ihr seine Liebe versprochen und seine ewige Treue geschenkt, doch was war heute daraus geworden?
Langsam zog Seymour den Duschvorhang zur Seite und stieg in die kalte Wanne. Das Wasser war schnell erhitzt und würde auch eine Weile so warm bleiben, also entschloss er sich dafür sich vor dem Duschen zu rasieren – eine Tatsache, die ihn erschreckte, da er sich es über Jahre hinweg antrainiert hatte dies immer nach dem Duschen zu erledigen.
Kopfschüttelnd nahm er seinen Rasierschaum und verteilte ihn auf seinem Gesicht. Schnell war der Rasierer angesetzt und auch die winzigsten Stoppel wegrasiert.
Dann ging er duschen…
*
Linda war immer noch nicht da …
Seit Seymour geduscht hatte, waren schon mehrere Stunden vergangen und er war sich ziemlich sicher, dass die Bäckerei gerade mal eine Straße entfernt lag.
Das Vernünftigste wäre nun gewesen die Bäckerei anzurufen und nachzufragen, ob seine Frau da gewesen sei, oder gar vorbeizugehen und selbst nachzuschauen, aber Seymour war die Tatsache, dass Linda noch nicht da war ganz recht.
Und in den tiefsten Tiefen seines Unterbewusstseins machte sich schon ein Gedanke breit, den Seymour noch nicht einmal erkannt hatte, der aber trotzdem da war, wie ein Krebsgeschwür, das man erst dann erkannte, wenn es sich bereits durch das Gehirn gefressen hatte und die moderne Medizin nicht mehr in der Lage war es zu entfernen.
„Endlich ist sie weg!“, hallte es durch seine Gedanken.
„Endlich bist du frei, Seymour!“, hörte er es in seinem Kopf.
Noch ganz leise, aber immer deutlicher werdend.
Seymour griff gerade nach der Fernbedienung um den Fernseher anzuschalten und sich selbst abzulenken, als er es spürte:
Ein leichtes Stechen in seiner Brust, wie ein kurzer Stromschlag.
Seymour atmete gerade auf – der Schmerz hatte aufgehört – als er feststellte, dass dies nur der Auftakt gewesen war. Der Auftakt zu einem Spiel, welches er unmöglich gewinnen würde, vor dem man ihn aber schon lange Zeit gewarnt hatte:
„Wenn Sie nichts unternehmen, Seymour, dann werden Sie einen Herzinfarkt erleiden… Und wer sorgt dann für Ihre Frau?“, hatten ihn sein Arzt gewarnt.
Er hatte es geflissentlich überhört.
Welcher suizidgefährdete Mensch hat schon Angst vor einem Herzinfarkt?
Doch nun da es soweit war – und das wusste Seymour – wurde ihm bewusst, dass dies nicht der Weg war, den er gehen wollte.
Während sich sein Herz verkrampfte, sah er Bilder vor seinem inneren Auge. Bilder, die ihn mehr erschreckten, als er es vermutete hätte: Sein Leben.
Er sah sich selbst, Arm in Arm mit seiner Frau, als junger Mann auf einem Jahrmarkt. Seine Frau lächelte über das ganze Gesicht, in ihrer freien Hand ein Kuscheltier, das Seymour für sie gewonnen hatte.
Die Bilder verschwammen und er sah sich im Anzug in einer Kirche stehen. Ihm gegenüber seine Frau. Zu den Bildern gesellten sich nun noch Geräusche, Töne und dann ganze gesprochene Sätze:
„Und willst du, Seymour, diese Frau zu deiner Angetrauten Ehefrau nehmen? In guten wie in schlechten Zeiten, bis dass der Tod euch scheidet?“, sprach der Pfarrer.
„Ja, ich will.“, hörte er sich selbst sagen.
Der Pfarrer nickte kurz und sagte dann lächelnd: „Dann dürfen Sie die Braut nun küssen!“
„Ich liebe dich, Seymour…“, hörte er seine Angetraute.
„Ich liebe dich auch, Cheryl!“, sagte er lächelnd.
Und in diesem Moment hörten die Schmerzen in seiner Brust auf – genauso wie sein Herz aufhörte zu schlagen.
Cheryl …
Das war ihr Name! Doch hatte er sie nicht noch vor wenigen Stunden Linda genannt und sie hatte nichts erwidert?
Und kurz bevor Seymour von der ewigen Dunkelheit des Todes eingeholt wurde, erkannte er, dass es einen Grund hatte, warum sie nicht zurückgekehrt war.
Er hatte sich selbst verraten, hatte sein Geheimnis preisgegeben und sich somit befreit.
Schon lange Zeit war er auf der Suche nach dem Tod und nun wo er ihn gefunden hatte, war er sich nicht mehr sicher, ob er nicht doch leben wollte.
„Cheryl…“.