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Sewa - Projekt Wolke (2)
In unserem Haus sind wir Männer eine kleine Minderheit. Da einige sich bei den vielfältigen Freizeitangeboten gar nicht erst blicken lassen, sind Herbert und ich oft die einzigen Männer unter mindestens 20 Frauen. Und wenn man in diesem Kreise die gleichen Kindheitserinnerungen zum zwölften oder zwanzigsten Mal hört, sind auch Kaffee und Streuselkuchen keine wirklichen Zugpferde. Aber ohne diese Runden wäre das Leben noch langweiliger. Dabei unternehmen die Damen, die uns ehrenamtlich betreuen, viel für unser Wohlbefinden. Jede Woche gibt es ein gemeinsames Kaffeetrinken, bei dem auch wichtige Informationen mitgeteilt werden. Wir können miteinander gymnastieren oder chorsingen, Tagesausflüge werden angeboten oder ein gemeinsamer Einkauf. Manches unternehmen wir auch gemeinsam mit den Bewohnerinnen und Bewohnern des Nachbarhauses. Dort leben nämlich drei Wohngruppen mit behinderten Menschen. Im dritten Haus ist dann die Sozialstation und hinter den drei Häusern liegt ein barrierefreier Park mit bequemen Bänken, so dass alles schön beieinander ist.
Oft fragen die Betreuerinnen nach so einem Treffen auch: „Was möchten Sie denn noch gerne unternehmen?“
Und die Antworten? „Tanzen“. „Wandern“. „Basteln“ und so weiter. Und alles wird dann auch mal angeboten. Schon ein paar Mal lag es mir auf der Zunge zu sagen „Knutschen“. Aber ich fürchtete, die ehrenamtlichen Damen würden mich wieder einmal nur für witzig halten.
Einmal sprach ich es doch aus, aber so leise, dass nur Herbert es hören konnte. Als wir auseinandergingen, kam er auf mich zugerollt: „Hast du das ernst gemeint?“
„Was denn, was meinst du?“
„Naja, dass du gerne knutschen würdest?“
„Will du dich jetzt auch noch über mich lustig machen?“ Ich wurde ziemlich laut und die anderen auf dem Gang drehten sich erschrocken zu mir um.
„Überhaupt nicht. Beruhige dich, ich meine das ernst. Also ich … äh … würde auch … doch ja, ganz gerne, so mal.“
Ich schaute Herbert erstaunt an. Er saß wie ein kleines grau gewandetes Tönnchen in seinem Rollstuhl und seine Glatze spiegelte das Flurlicht wieder.
„Ja, ich glaube, ich verstehe dich. Aber was wollen wir machen? Soll ich den Vorschlag laut werden lassen oder wollen wir einen Brief an die Leitung schreiben?“ Ich flüchtete mich in Ironie. Es war mir peinlich, über meinen heimlichen Wunsch so offen zu reden.
Herbert hatte bis vor zehn Jahren in einem Architektenbüro gearbeitet. Das brachte ihn wohl auf die Idee: „Lass uns ein Projekt starten. Das Projekt Rosa Wolke.“
Ich fand die Idee ganz gut, aber ‚rosa Wolke‘? „Stell dir doch mal vor, irgendwer hört, wie wir uns über das Projekt Rosa Wolke unterhalten. Wir sind doch sofort bei allen untendurch.“
„Naja, bei den meisten hier im Haus würde mich das nicht mal stören. Aber du hast recht. Rosa Wolke klingt kindisch und das soll unser Projekt nicht sein. Also nennen wir es einfach nur Wolke.“
Wir gingen in meine Zwei-Zimmer-Wohnung. Ich holte ein Heft, schrieb „Wolke“ als Überschrift und dann überlegten wir, was wir tun könnten, um unser Ziel zu erreichen.
„Also erst einmal brauchen wir dafür eine Frau.“
„Sie sollte schon ein wenig jünger sein. Aber wie finden wir die? Mir fallen da nur die Pflegerinnen ein.“
„Naja, die Praktikantinnen sind wohl zu jung und die bleiben auch nicht lange genug und sind ohnehin nie alleine in unseren Zimmern. Aber die Schwestern? Naja, ich habe da eigentlich nur Rosita vor Augen.“
„Als ich mich neulich mal getraut habe, sie ein wenig zu tätscheln, hat sie mich nur angelacht und gemeint. ‚Denken Sie dran, ich bin verheiratet und habe zwei kleine Kinder.‘ Da habe ich mich gleich nicht mehr getraut.“
„Also können wir die Schwestern wohl erst einmal streichen.“
„Und wenn wir uns jetzt im Sommer abends in den Park setzen?“
„Kannst Du fremde Frauen einfach so ansprechen?“
Herbert ging gar nicht auf meinen Einwand ein: „Du siehst doch gut aus. Du bist schlank, hast noch alle Haare und ein adrettes Schnurrbärtchen - da solltest du doch bei den Frauen nur so landen.“
„Ach weißt du, bis ich ein Wort herausgebracht habe, sind die gewiss schon längst fort. Soll ich ein Schild hinstellen: Zwei einsame Männer suchen Begleitung zum Kuscheln? Da kommt doch höchstens die Polizei.“
Seit diesem Abend suchen wir nach neuen Ideen, wobei Herberts Vorschläge immer abstruser und unmöglicher werden. Ich muss allerdings eingestehen, dass meine wohl auch nicht besser sind. Und dann kam uns der Zufall zu Hilfe. Herbert wohnt über mir und wir sehen von unseren Wohnzimmern aus beide auf den Eingangsbereich des Nachbarhauses mit den Wohngruppen. Und da in dem Haus tagsüber einiges los ist, haben wir manche Abwechslung beim Zusehen. Das ist interessanter, als den ganzen Tag vorm Fernseher zu sitzen oder Zeitung zu lesen. Da kommen die Schwestern von der Diakonie, dann gehen einige Bewohner zu ihrem Bus, der sie in die Werkstatt bringt, der Wäschedienst fährt einmal in der Woche vor und verschiedene Physiotherapeuten und andere Betreuungskräfte kommen auch immer mal. Nach einiger Zeit weiß man, wer wann eintrifft und wieder geht. Deshalb waren wir beide überrascht, als eines Abends gegen zehn Uhr eine Frau kam und im Haus verschwand. Nach knapp einer Stunde ging sie wieder. Wir verglichen unsere Beobachtungen und waren uns im Ergebnis recht sicher, dass es sich um eine weibliche Person handelte. Unter der Kapuze, die sie über den Kopf gezogen hatte, konnte man zwar nichts erkennen, aber ihr Gang war recht eindeutig nicht männlich geprägt.
Gut einen Monat später, mitten im Hochsommer kam sie wieder. Es begann gerade zu dämmern und dieses Mal blieb sie gut zwei Stunden. Als sie ging, begleitete sie die Nachtschwester und verabschiedete sich an der Tür von ihr. Und da unsere Fenster offen standen, hörten wir beide deutlich die Worte: „Ich bin ja so froh, dass sie unseren Männern helfen konnten.“ Die Frau erwiderte gar nichts, sondern nickte nur und ging.
Ein Rätsel! Begeistert überlegten wir gemeinsam am nächsten Vormittag: „Eine Ärztin?“
„Nein, sie hatte zwar eine große Handtasche, aber die war nicht rot, also sicher kein Medizinkoffer.“
„Eine Versicherungsvertreterin?“
„Hast du schon mal einen Vertreter erlebt, der abends um zehn kommt und einem auch noch wirklich hilft?“
„Irgendein Bote kann es auch nicht sein. Dann hätte sie ja etwas abgegeben und wäre gegangen.“
„Also macht sie irgendetwas im Haus und zwar mit dem Männern.“
„Modelleisenbahn spielen?“, witzelte Herbert.
„Warum nicht gleich Briefmarken anschauen?“
„Genau, das ist es!“, rief Herbert triumphierend.
„Jawohl, sie schauen sich die Briefmarkensammlungen der Männer an.“
Wir hingen beide ein wenig unseren Jugenderinnerungen nach und dann meinte Herbert: „Ob wir sie auch einmal einladen?“
„Ich weiß nicht“, druckste ich und traute mich schließlich doch, es auszusprechen: „Die Dame hat doch sicher einen umfangreichen Service zu bieten. Hör auf, so schäbig zu grinsen. Du bist keine vierzehn mehr. Und ich auch schon lange nicht mehr. Ehrlich gesagt, mir würde ein bisschen Kuscheln völlig genügen.“
Herbert blieb mehrere Minuten stumm. Das habe ich noch nicht bei ihm erlebt. Schließlich knurrte er: „Seit ich in diesem Rollstuhl sitze, habe ich eigentlich auch kein weitergehendes Interesse. Abgesehen davon fürchte ich, ich bin langsam zu fett für körperliche Anstrengungen.“
Ach ja, waren wir glücklich bei dem Thema gelandet. Ich bin mager, der Arzt meint sogar zu mager, aber Herbert sitzt seit fünf Jahren fast nur noch im Rollstuhl und seitdem kann man richtig zusehen, wie er aufgeht. Aber wehe ich sage ihm nicht „Du bist doch nicht dick“. Dann lamentiert er wieder stundenlang, dass ihn niemand mehr mag.
„Glaubst du etwa, ein Mädchen käme mit ihren Armen nicht um dich rum?“
„Hä?“
„Knuddeln heißt doch, dass man sich umarmt und drückt und Küsschen gibt. Oder?“
„Ich mach mir jetzt Mittagessen.“ Herbert hatte wohl keine Lust auf intime Gespräche und fuhr in seine Wohnung.
Kurz danach klopfte es an meiner Wohnungstür.
„Hast du was vergessen? Oh, entschuldigen Sie.“
Vor mir stand Fräulein Leimbesser, die Enkelin meiner Nachbarin. Frau Leimbesser sitzt auch im Rollstuhl und ist fast blind, so dass ihre Enkelin mich oft um Hilfe bittet.
„Ich habe für Oma eingekauft und wollte fragen, ob Sie mir beim Rauftragen helfen können.“
„Gerne, aber ich muss mich erst einmal anziehen. Ich bin immer noch im Schlafanzug. Ich komm gleich“, erwiderte ich und ging ins Schlafzimmer. Ich zog mich an und als ich zurück kam, stand Fräulein Leinbesser neben dem Wohnzimmertisch, auf dem mein Heft aufgeschlagen lag. Ob sie es gesehen oder gar gelesen hatte? Sie sah nicht danach aus und stellte auch keine Fragen, also gingen wir zusammen zu ihrem Auto und luden die Einkäufe aus. Nach zwanzig Minuten waren wir fertig und ich wollte mich von Fräulein Leimbesser verabschieden, aber sie meinte: „Ich würde Sie gerne noch etwas anderes fragen, wenn Sie einen Augenblick Zeit haben.“
„Ja, warum nicht, kommen Sie doch herein.“
Ich bot ihr einen Platz an, nahm das Heft, das immer noch offen auf dem Tisch lag und stopfte es in eine Schublade.
„Also erst einmal, ich heiße Martina und ich denke, wir kennen uns ja schon ein wenig und da können wir uns ruhig duzen.“
„Ja, gerne, wenn du das gut findest. Ich heiße Wolfgang.“
„Nun Wolfgang, hast du mal etwas von ‚Free Hugs‘ gehört? … Nein offensichtlich nicht. Vor zehn Jahren fing ein Mann in Australien an, auf der Straße mit einem Schild ‚Free Hugs‘, also ‚Umarmungen umsonst‘ anzubieten.“
„Einfach so? Jeder Mensch der wollte, bekam eine Umarmung?“
„Genau. Die Bewegung hat sich über die ganze Welt ausgebreitet und heute gibt es neben den ‚Free Hugs‘ auch ‚Free Kisses‘“.
Ich glaube, ich bin wirklich rot geworden, denn Martina lächelte verschmitzt und sagte:
„Ich habe auch ein Schild gemalt.“ Und sie hob ein Stück Karton, auf dem „Free Hugs“ stand.
Ich sprang sofort auf und verbannte meine Knieschmerzen. Und als wir uns voneinander lösten, drehte Martina das Schild um.
Herbert war ebenso begeistert wie ich und wir drei treffen uns jetzt immer, wenn Martina bei ihrer Oma ist, also wenigstens einmal in der Woche.
Neulich kam eine unserer ehrenamtlichen Seniorenbegleiterinnen an mir vorbei und meinte recht flapsig: „Sie sehen neuerdings so zufrieden aus. Haben Sie sich was Kleines angelacht?“
„Oh ja! Vielleicht möchten Sie ja auch mal?“ Und ich zeigte ihr unser Schild, das ich gerade bei mir trug.