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Setz über, Fährmann!

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12.03.2010
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Setz über, Fährmann!

„Setz über, Fährmann“ sagte ich und atmete den modrigen Geruch des Wassers. Obwohl ich die Oberfläche nicht sehen konnte, in der nebligen Suppe die mich umgab, spürte ich es. Und als der Fährmann sein mit Algen und allerlei anderem Getier besetztes Ruder in das Wasser tauchte, hörte ich es auch. Ein dumpfer, untypischer Klang; was ich der besonderen Akustik des Nebels zuschrieb.
Der Fluss, den ich zu überqueren gewillt war, schien nicht besonders breit zu sein, wollte man der alten Karte meines Großvaters Glauben schenken, aber einige tückische Wasserfallen, in Form von Stromschnellen und Neeren durchzogen ihn wie eine Kette des Unheils, und nicht weit entfernt von mir, ganz leise, eine Art unwichtiges nebensächliches Detail des Lebens, vernahm ich die flüsternden Geräusche des einzigen Wasserfalls; keine vier Meter hoch.
„Wohin willst du, Junge?“ hörte ich den Fährmann sagen, und seine Frage hatte mehr den Charakter eines Befehles.
„Zuerst einmal, würde ich gerne ans andere Ufer“ antwortete ich ein wenig kryptisch, aber mein Reiseziel ging den alten Mann ja nun wirklich nichts an.
Er trug einen schwarzen Umhang, und seine knochigen Finger lugten darunter hervor. Aber auch wirklich nur seine Finger. Sie umklammerten das Ruder als würden sie sich daran festhalten. Sein Gesicht lag im tiefen Dunkel der Kutte, und ich fragte mich, wie der Mann wohl etwas sehen konnte, in dem Nebel und so weit in seinem Umhang steckend.
„Ans andere Ufer, wie?“ murmelte er, und die dicken Schwaden dämpften seine Worte beinahe bis ins unverständliche.
„Zuerst würde das vollkommen ausreichen“ wiederholte ich mich, und allmählich begann ich dieses eigenartige Land tatsächlich zu hassen. Die Leute hier hatten etwas ausladendes an sich, sie wirkten apathisch und irgendwie nicht anwesend. Als würden sie mit ihren Gedanken in einer anderen, mir verborgenen, weil imaginären Welt auf Wanderschaft gehen. Und dieser Fährmann war nun die Spitze des Eisberges. Ich fühlte mich wie in einer drittklassigen Verfilmung eines zweitklassigen Edgar Wallace Buches, in welchem der Protagonist binnen einer Frist von fünfundzwanzig Seiten einem Mord zum Opfer fällt, und die gesamte in Frage kommende Täterschaft eine Ansammlung ominöser Irrer war.
„Alle wollen drüben ankommen. Mehr nicht. Sie wollen nur auf die andere Seite des Flusses“ meinte der Fährmann und tauchte das Ruder wieder ins Wasser. Das Boot schwankte ein wenig und mir wurde mulmig.
„Nun, dafür werden Sie schließlich bezahlt.“
„Weißt du, Junge, ich überquere diesen Fluss immer und immer wieder. Seit einer geraumen Zeit. Wie lange, das weiß ich eigentlich nicht genau. Vielleicht sind es Fünfzig Jahre, womöglich auch schon Siebzig oder Achtzig. Aber wenn ich mich und das Boot von einer Seite des Ufers abstoße, dann ist das so, als würde ich es zum ersten Mal machen.“
„Hm“ sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel.
„Es ist, als hätte mir der liebe Gott eine Unzahl an Leben geschenkt, die ich zu nutzen aber nicht befähigt bin. Er hat mir sozusagen einen Setzbaukasten mit auf den Weg gegeben, mit dem man alles bauen kann, was das Herz begehrt, doch die Bedienungsanleitung, die hat er vergessen.“
„Ja, womöglich“ meinte ich, und mir wollte beim besten Willen nicht klar werden, was der alte Mann denn nun eigentlich von mir zu hören beabsichtigte.
Das Ruder trennte die Luft und tauchte wieder, beinahe lautlos ins Wasser. Ich suchte starr nach der anderen Seite des Flusses, doch der noch dichter zu werdende Nebel gebot mir Einhalt.
„Verstehst du, was ich dir sagen will? Sobald du auf die Welt kommst, mein Junge, stehst du vor deiner ersten Entscheidung. Du triffst sie noch nicht bewusst, aber du triffst sie. Und später, wenn sich die Erdkugel weitergedreht hat, musst du immer mehr Entscheidungen treffen. Wie an einer Wegegabelung. Du hast eine enorme Auswahl. Aber weißt du, letzten Endes führen alle Wege nur zu einem Ziel. Sie führen alle nur zum anderen Ufer des Flusses. Die asphaltierten, geradlinigen wie die steinigen, unbequemen. Ich habe diesen Faden des Lebens oft überquert, ich bin Gottes Weg schon so oft gegangen, dass ich alle Abkürzungen und Umwege kenne, und ich weiß, dass nicht mehr dahintersteckt. Es ist ganz simpel.“
„Vermutlich ist es das.“
Ich hatte zugehört, aber irgendwie nicht wirklich. Es sind die Menschen hier, wissen Sie. In einer Minute erzählen sie Ihnen die Geschichte eines ganzen Lebens, in der nächsten verfallen sie in ein ausgewachsenes Schweigen und tun so, als hätten sie Sie niemals kennen gelernt. Ich habe den Fährmann niemals wieder gesehen, vermutlich setzt er noch immer Leute über und fragt sie nach ihren Reisezielen. Und wenn er eine gute Antwort bekommt, dann bekommen sie seine Ansichten der Welt zu hören.
Nachdem der Mann seine Ausführungen beendet hatte, stoppte das Boot abrupt, und ich musste zweimal schauen, bevor ich begriff, dass wir das gegenüberliegende Ufer erreicht hatte. Mein persönlicher Edgar Wallace Krimi war vorüber, und ich schien nicht der Protagonist zu sein, den das Zeitliche segnete.
Ich verließ das schwankende, schwimmende Ding und war froh, wieder festen Boden unter den Sohlen meiner Treter zu spüren.
„Was bekommen Sie?“ fragte ich den Fährmann.
„Nichts“ winkte der Mann einsilbig ab und stieß sein Gefährt vom Ufer ab.
„Aber...“ wollte ich meinen Einspruch einlegen, aber da verschwand er auch schon in der Nebelbank.
Gerade als ich mich umdrehen wollte um meinen Weg fortzusetzen, hörte ich seine gedämpfte Stimme aus dem visuellen Nichts: „Die Leute die ich sonst frage, sagen: Aberdeen oder Newcastle. Manchmal sagen sie auch gar nichts. Aber deine Antwort, Junge, deine Antwort, so unschuldig und unbedarft sie auch war, war die einzig richtige Antwort die es auf diese Frage gibt.“
Und jetzt verstand ich.

 

Hallo Martin!

Mit der Geschichte komm ich nicht so ganz klar. Ein Setzbaukasten ohne Bedienungsanleitung; das könnte bedeuten: es gibt kein festgelegtes Schicksal. Wir haben es selbst in der Hand, müssen entscheiden, welchen Weg wir gehen, unser Leben gestalten. Letztendlich jedoch führt jeder Weg zum selben Ort, ans andere Ufer, dem Tod.

Was das Ganze sehr undurchsichtig macht, ist das Gespräch zwischen den beiden.
„Setz über, Fährmann“
„Wohin willst du, Junge?“
Auf diese Frage erwartet der Fährmann die Antwort: "Ans andere Ufer". Aber wer will da schon hin, wenn das andere Ufer der Tod ist? Außerdem ist die Frage schon deshalb seltsam, weil eine Fähre immer ans andere Ufer fährt, sonst wäre es keine Fähre, sondern ein Boot oder Schiff und der Fährmann ein Steuermann.
Die Antwort des Jungen: „Zuerst einmal, würde ich gerne ans andere Ufer“ kann ich überhaupt nicht einsortieren. Wo will denn nach seinem Tod noch hin?
Oder ist das andere Ufer nicht der Tod, sondern nur schlicht eine Reiseetappe? Warum gibt er dann die doch recht dümmliche Antwort „ans andere Ufer“? Dann müsste er doch sagen: „nach Aberdeen“, oder ähnliches, weil das andere Ufer nicht der Ort ist, wo er eigentlich hin will, denn danach fragt ja der Fährmann, sondern wo er hin muss, um an sein eigentliches Ziel zu gelangen.
Das andere, das neue Ufer könnte auch eine Weggabelung sein. Jede Weggabelung erfordert eine Entscheidung, wie der Fährmann sagte, dass ist richtig. Jedoch kann ich nur eine Entscheidung treffen, wenn ich ein weiter entferntes Ziel im Sinn habe (z.B. Aberdeen), sonst könnte ich nur würfeln, mich vom Zufall treiben lassen.
Tja, wie Anfangs gesagt, ich komme mit der Geschichte nicht klar.

Textkram:

„Setz über, Fährmann“ sagte ich und atmete den modrigen Geruch des Wassers. Obwohl ich die Oberfläche nicht sehen konnte, in der nebligen Suppe die mich umgab, spürte ich es.
Wie spürt er denn das Wasser?

Und als der Fährmann sein mit Algen und allerlei anderem Getier besetztes Ruder in das Wasser tauchte,
Algen sind kein Getier.

und nicht weit entfernt von mir, ganz leise, eine Art unwichtiges nebensächliches Detail des Lebens, vernahm ich die flüsternden Geräusche des einzigen Wasserfalls; keine vier Meter hoch.
"eines Wasserfalls" klingt besser. Ob da ein zweiter ist, spielt doch bestimmt keine Rolle.
"keine vier Meter hoch" kann raus. Oder ist das wichtig?

Er trug einen schwarzen Umhang, und seine knochigen Finger lugten darunter hervor. Aber auch wirklich nur seine Finger. Sie umklammerten das Ruder als würden sie sich daran festhalten.
Dieser Hinweis ist überflüssig und stört den Lesefluss.

Die Leute hier hatten etwas ausladendes an sich, sie wirkten apathisch und irgendwie nicht anwesend. Als würden sie mit ihren Gedanken in einer anderen, mir verborgenen, weil imaginären Welt auf Wanderschaft gehen.
Da steht 3x das Gleiche. Da kannst du kürzen.

Gruß

Asterix

 

Mahlzeit Martin,

Mir hat die Metapher gut gefallen. Der Fluss als weitere Grenze des Lebens, die es zu überwinden gilt. Nur das der Fährmann von der Antwort des Jungen so beeindruckt war passt nicht ganz. Ich meine Klar der Weg ist das Ziel und so, aber der Junge gab ja nur deshalb sein Ziel nicht Preis weil er der Meinung war es würde dem Fährmann nichts angehen. Und das hätte sich der alte Mann aber auch denken können.
Aber sonst fand ich die Geschichte nicht schlecht.

gruß Niklas

 

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