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Setz über, Fährmann!
„Setz über, Fährmann“ sagte ich und atmete den modrigen Geruch des Wassers. Obwohl ich die Oberfläche nicht sehen konnte, in der nebligen Suppe die mich umgab, spürte ich es. Und als der Fährmann sein mit Algen und allerlei anderem Getier besetztes Ruder in das Wasser tauchte, hörte ich es auch. Ein dumpfer, untypischer Klang; was ich der besonderen Akustik des Nebels zuschrieb.
Der Fluss, den ich zu überqueren gewillt war, schien nicht besonders breit zu sein, wollte man der alten Karte meines Großvaters Glauben schenken, aber einige tückische Wasserfallen, in Form von Stromschnellen und Neeren durchzogen ihn wie eine Kette des Unheils, und nicht weit entfernt von mir, ganz leise, eine Art unwichtiges nebensächliches Detail des Lebens, vernahm ich die flüsternden Geräusche des einzigen Wasserfalls; keine vier Meter hoch.
„Wohin willst du, Junge?“ hörte ich den Fährmann sagen, und seine Frage hatte mehr den Charakter eines Befehles.
„Zuerst einmal, würde ich gerne ans andere Ufer“ antwortete ich ein wenig kryptisch, aber mein Reiseziel ging den alten Mann ja nun wirklich nichts an.
Er trug einen schwarzen Umhang, und seine knochigen Finger lugten darunter hervor. Aber auch wirklich nur seine Finger. Sie umklammerten das Ruder als würden sie sich daran festhalten. Sein Gesicht lag im tiefen Dunkel der Kutte, und ich fragte mich, wie der Mann wohl etwas sehen konnte, in dem Nebel und so weit in seinem Umhang steckend.
„Ans andere Ufer, wie?“ murmelte er, und die dicken Schwaden dämpften seine Worte beinahe bis ins unverständliche.
„Zuerst würde das vollkommen ausreichen“ wiederholte ich mich, und allmählich begann ich dieses eigenartige Land tatsächlich zu hassen. Die Leute hier hatten etwas ausladendes an sich, sie wirkten apathisch und irgendwie nicht anwesend. Als würden sie mit ihren Gedanken in einer anderen, mir verborgenen, weil imaginären Welt auf Wanderschaft gehen. Und dieser Fährmann war nun die Spitze des Eisberges. Ich fühlte mich wie in einer drittklassigen Verfilmung eines zweitklassigen Edgar Wallace Buches, in welchem der Protagonist binnen einer Frist von fünfundzwanzig Seiten einem Mord zum Opfer fällt, und die gesamte in Frage kommende Täterschaft eine Ansammlung ominöser Irrer war.
„Alle wollen drüben ankommen. Mehr nicht. Sie wollen nur auf die andere Seite des Flusses“ meinte der Fährmann und tauchte das Ruder wieder ins Wasser. Das Boot schwankte ein wenig und mir wurde mulmig.
„Nun, dafür werden Sie schließlich bezahlt.“
„Weißt du, Junge, ich überquere diesen Fluss immer und immer wieder. Seit einer geraumen Zeit. Wie lange, das weiß ich eigentlich nicht genau. Vielleicht sind es Fünfzig Jahre, womöglich auch schon Siebzig oder Achtzig. Aber wenn ich mich und das Boot von einer Seite des Ufers abstoße, dann ist das so, als würde ich es zum ersten Mal machen.“
„Hm“ sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel.
„Es ist, als hätte mir der liebe Gott eine Unzahl an Leben geschenkt, die ich zu nutzen aber nicht befähigt bin. Er hat mir sozusagen einen Setzbaukasten mit auf den Weg gegeben, mit dem man alles bauen kann, was das Herz begehrt, doch die Bedienungsanleitung, die hat er vergessen.“
„Ja, womöglich“ meinte ich, und mir wollte beim besten Willen nicht klar werden, was der alte Mann denn nun eigentlich von mir zu hören beabsichtigte.
Das Ruder trennte die Luft und tauchte wieder, beinahe lautlos ins Wasser. Ich suchte starr nach der anderen Seite des Flusses, doch der noch dichter zu werdende Nebel gebot mir Einhalt.
„Verstehst du, was ich dir sagen will? Sobald du auf die Welt kommst, mein Junge, stehst du vor deiner ersten Entscheidung. Du triffst sie noch nicht bewusst, aber du triffst sie. Und später, wenn sich die Erdkugel weitergedreht hat, musst du immer mehr Entscheidungen treffen. Wie an einer Wegegabelung. Du hast eine enorme Auswahl. Aber weißt du, letzten Endes führen alle Wege nur zu einem Ziel. Sie führen alle nur zum anderen Ufer des Flusses. Die asphaltierten, geradlinigen wie die steinigen, unbequemen. Ich habe diesen Faden des Lebens oft überquert, ich bin Gottes Weg schon so oft gegangen, dass ich alle Abkürzungen und Umwege kenne, und ich weiß, dass nicht mehr dahintersteckt. Es ist ganz simpel.“
„Vermutlich ist es das.“
Ich hatte zugehört, aber irgendwie nicht wirklich. Es sind die Menschen hier, wissen Sie. In einer Minute erzählen sie Ihnen die Geschichte eines ganzen Lebens, in der nächsten verfallen sie in ein ausgewachsenes Schweigen und tun so, als hätten sie Sie niemals kennen gelernt. Ich habe den Fährmann niemals wieder gesehen, vermutlich setzt er noch immer Leute über und fragt sie nach ihren Reisezielen. Und wenn er eine gute Antwort bekommt, dann bekommen sie seine Ansichten der Welt zu hören.
Nachdem der Mann seine Ausführungen beendet hatte, stoppte das Boot abrupt, und ich musste zweimal schauen, bevor ich begriff, dass wir das gegenüberliegende Ufer erreicht hatte. Mein persönlicher Edgar Wallace Krimi war vorüber, und ich schien nicht der Protagonist zu sein, den das Zeitliche segnete.
Ich verließ das schwankende, schwimmende Ding und war froh, wieder festen Boden unter den Sohlen meiner Treter zu spüren.
„Was bekommen Sie?“ fragte ich den Fährmann.
„Nichts“ winkte der Mann einsilbig ab und stieß sein Gefährt vom Ufer ab.
„Aber...“ wollte ich meinen Einspruch einlegen, aber da verschwand er auch schon in der Nebelbank.
Gerade als ich mich umdrehen wollte um meinen Weg fortzusetzen, hörte ich seine gedämpfte Stimme aus dem visuellen Nichts: „Die Leute die ich sonst frage, sagen: Aberdeen oder Newcastle. Manchmal sagen sie auch gar nichts. Aber deine Antwort, Junge, deine Antwort, so unschuldig und unbedarft sie auch war, war die einzig richtige Antwort die es auf diese Frage gibt.“
Und jetzt verstand ich.