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Septemberlicht

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16.07.2003
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Septemberlicht

>>Sie ... Krebs!<< erwiderte die Jungfrau, als ich ihr tief in die Augen schaute und dadurch signalisierte, dass ich sie zuvor nicht richtig verstanden hätte. Man könnte sagen, dafür, dass sie so undeutlich sprach, habe sie eine wirklich gute Profession. Manche Menschen haben Glück und andere eben nicht, dachte ich. Im Hintergrund summte munter und leise das Radio vor sich her und erzählte mir von einem Flugzeug, welches gerade in das New Yorker World Trade Center geflogen sei und ich dachte daran, dass ich noch nie selber mit einem geflogen bin. Das Licht der Sonne spaziert genüsslich durch das Fenster und legt sich so wie Arme Liebende umschlingen auf allem nieder. Es wirkt seltsam auf mich, denn gegen neun Uhr schlafe ich gewöhnlich noch. Heute weckte mich jedoch der Anruf jener Jungfrau, von der in der Provinz alle wissen wollen, sie habe noch nie einen Mann gehabt. Wen interessiert eigentlich, was ich will? Vom anderen Ende der Leitung befahl sie mir, sie doch persönlich aufzusuchen, da sie mich dringend sprechen müsse. Deswegen sitze ich jetzt hier, auf diesem cremefarbenen Wartezimmerzahnarztstuhl, der in dieses Ambiente gar nicht so recht hineinzupassen vermag. An der Wand hängen vier gezeichnete Gemälde, bestimmt berühmter mit dem Bild Vermählter, deren Konterfeis allesamt recht pathologisches behausen. Ihre Blicke bohren und mustern mich fortwährend mit chirurgischer Konstanz. Aber meine Blicke hier, gelten nur - - - ihr. Unverhofft trat sie in mein Leben und schon als mich ihr erster Gesichtsausdruck erreichte, war mir klar, es würde sich nun ändern. Dieses Gefühl habe ich noch immer, und es dauert bereits seit sechs Minuten an, und die aktuelle Uhrzeit beträgt genau drei Minuten vor dem zweiten Anschlag auf die Tower, von dem noch alle meinen, es handle sich um einen tragischen Unfall. Die Sekunden ziehen dahin, und wir beschäftigen uns damit, gegenseitig nichts einander zu erzählen. Sie hat wunderbare Augen, umhüllt von einem unschuldigen Weiß strahlt das Blau noch intensiver. Das Radio summt weiter, und wir scheinen uns beide bis zu dem Zeitpunkt zu gedulden, an dem der Wecker endlich auf 9:03 umspringt. Bis dahin büßt die Welt ungefähr 24 Menschenleben ein, oder anders formuliert, es sind noch genau 12 Sekunden. >>Und was kann man dagegen machen?<< frage ich besorgt. >>Das müssen wir...<< der Wecker springt um, das Radio stößt die O-Töne des Schreckens von sich. In diesem Moment wurde der Schnitt pro Sekunde um ein Vielfaches übertroffen. Das Blau in ihren Augen bleibt starr stehen, und selber wie gelähmt höre ich nur noch das Ende ihrer Antwort auf meine Frage >>... müssen wir sehen, mit Chemotherapie haben sie wahrscheinlich noch zwei Jahre, ohne stehen ihre Chancen schlechter. Der Tumor ist zu weit fortgeschritten. Sie haben einen inoperablen Krebs.<<. Bedeutungen liegen manchmal zwischen zwei Wörtern und den Dingen des Alltags - - - und meiner ist keiner mehr, und die Uhr zeigt auf einmal eine fünfzehn vor der drei - das Licht blendet entsetzlich - und ich denke daran, noch nie in Europa gewesen zu sein.

 

Hallo,

du hast es geschafft, mich zu verwirren. Allerdings soll dies nicht heißen, dass ich deshalb die Geschichte nicht interessant finde. Im Gegenteil, sie fasziniert mich. Um ehrlich zu sein, provoziert sie mich sogar, denn ich kann sie schlecht, ich kann sie kaum begreifen. Du klärst auf und verwirrst im gleichen Atemzug, du verknüpfst Themen ohne direkten Zusammenhang auf seltsam bedeutende Weise miteinander.
Alles in Allem ein sehr gelungenes Debüt, das zudem von einem hohen Sinn für Sprache und einem gehobenen Ductus zeugt.

Einziger Kritikpunkt:

Du schreibst von einem "Wartezimmerzahnarztstuhl" - dein Prot. befindet sich also scheinbar bei einer Zahnärztin, doch weshalb klärt diese später auf, dass dein Prot. an Krebs erkrankt ist? Dies übersteigt die fachliche Kompetenz einer Dentistin nun tatsächlich.

 

künstlerisch...schliesse mich in Punkte Verwirrung grösstenteils FrozenFire an. Kennt jemand den Roman "ICH" von Wolfgang Hilbig? Deine Geschichte, Rotgardistenblut, hat etwas von diesem Roman...weil da auch teils Wörter, Gedanken, Assotiationen miteinander verbunden werden, die nicht zusammen gehören. Vielleicht treibst zu sehr ein Spiel mit dem Leser, treibst die Verwirrung über die Schmerzgrenze. Aber du hast es geschafft, etwas nicht alltägliches hier rein zu setzen. Wenigstens das!

Greez

Foxtown

 

Danke erst einmal für die beiden Kommentare, darüber habe ich mich natürlich gefreut. Den Leser zu verwirren ist gar nicht unbedingt das Ziel gewesen (obgleich einige Wortspiele dies vermuten lassen), sondern vielmehr soll sie die innerliche Unruhe des lyrischen Subjektes aufzeigen.

Zu dem "Wartezimmerzahnarztstuhl" kann ich nur sagen, daß ich diese Bezeichnung bewusst gewählt habe. Für viele steht der Zahnarzt ja immer für die Erwartung unfreudiger Erlebnisse, einer Mischung aus Hoffen und Bangen, vielleicht befindet sich das lyrische Subjekt ja auch in einem solchen Zwiespalt??

Aber letztendlich sollte jeder seine eigene Interpretation dazu anstellen, das ist doch für den Leser auch viel interessanter ;-), Stefan

 

Eigene Überlegung halte ich selbst auch für interessant, allerdings sollte der Autor vom Leser nicht das Unmögliche erwarten. Ich weiss nicht, wie Andere denken - ich fühle mich überfordert damit, von dem Wort "Zahnarzt" auf eine unfreudige Situation zu schließen, in welcher der Protagonist evtl. stecken könnte...

 

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