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Sepia
Vorsichtig zieht sie die Cabriobrille über die Augen, schüttelt den Kopf und betrachtet sich im Rückspiegel.
„Grandios!“, sagt er und startet den Motor. „Du siehst aus wie Amelia Earhart.“
„Na dann …“ Sie lacht leise und fixiert die Frontscheibe, als wäre sie eine Kinoleinwand. Ein Roadmovie mit ihr in der Hauptrolle – doch die Sonne, der Fahrtwind und der Geruch der Benzinwolken, die sie verfolgen wie eine Herde grauer Schafe, fühlen sich an, als wären sie ein Irrtum.
Es ruckelt und staubt, als sie auf einen Feldweg einbiegen, der für Autos gesperrt ist. „Besondere Umstände ...“, sagt er mit Verschwörermiene. Er hustet ein paarmal, blickt sich um und lässt den Oldtimer ausrollen. „Hier ist es, oder?“
„Kann sein“, sagt sie und wedelt mit der Hand in der Luft herum, „man sieht ja gar nichts …"
Der Wind treibt kleine Wellen über den Fluss. Sie atmet ein, schließt die Augen und hört zu, wie sich Geräusche aus der Stille herauskristallisieren: das Rascheln des Schilfes, das Sirren der Insekten und das Flüstern der Weide, deren Zweige hin- und herpendeln wie die dünnen Schwänze exotischer Tiere.
„Voilà! Zu Tisch, Madame!“, sagt er und stellt den Picknickkorb auf die Decke, die er unter dem Baum ausgebreitet hat.
„Wirklich, eine Schnapsidee!“ Sie lacht und seufzt und versucht, sich bequem hinzusetzen. Wie ein Hund, denkt sie, der sich fünfmal im Kreis dreht, bevor er die richtige Stelle gefunden hat. Wie Zorro, der irgendwann nicht mehr aufstehen konnte, und den sie, obwohl er so schwer war, in den Garten getragen und zugesehen hatte, wie seine trockene Nase ein letztes Mal Witterung aufnahm.
„Wenn ich das gewusst hätte“, sagt sie und packt die Sachen aus, die sie für das Picknick gekauft haben, „hätte ich etwas anderes angezogen.“ Sie arrangiert den Käse und die Salami auf einem Teller, nimmt die Erdbeertörtchen aus dem Papier und stellt den Rotwein dazu, den er so akribisch ausgesucht hat.
„Warum? Du hast Stil“, sagt er mit einem Seitenblick auf ihre Garderobe, während er eine Melone in Stücke schneidet. „Das kleine Schwarze passt immer!“
Stimmen sind zu hören, Lachen und Musik. Dichtes Schilf verdeckt den Blick zur Nachbarbucht.
Jo, Alter! Gib ihm, Digga!
Hoffentlich sehen die uns nicht, denkt sie.
Brüllen, Johlen, Klatschen. Eins! Zwei! Drei! Wasser spitzt auf. Gelächter hallt über den Fluss.
Zunächst hatten sie etwas hölzern beieinander gestanden, Wolfgang und sie. Er sei gerade in der Gegend, um seine Schwester zu besuchen, sagte er. „Schön“, sagte sie – und mehr fiel ihr auch nicht ein, doch dann flüsterten sie sich rückwärts durch die Jahrzehnte, bis sie sich wieder kannten. „Leichenschmaus“, raunte er ihr zu, „Leichenschmaus – was für ein Wort ...“ Zum Glück wären sie ja beide nicht dazu eingeladen, aber – er bedachte sie mit einem prüfenden Blick und beugte sich dann komplizenhaft herüber – vielleicht könnten sie ihren eigenen Schmaus abhalten, ein Leichenpicknick, genaugenommen, Christiane würde das sicher gut finden – gefunden haben ... Ob sie noch wüsste, diese Stelle am Fluss, wo sie im Sommer immer gelegen hatten, mit Peter und den anderen, von denen niemand mehr da war … Hatten sie nicht einmal sogar den Unterricht geschwänzt, um dort herumzugammeln, obwohl doch die Todesstrafe darauf stand?
Grundgütiger! Sie hielt sich die Hand vor den Mund: War sie noch ganz bei Trost? Kicherte hier herum mit diesem Hinkefuß – bei einer Beerdigung!
Sobald es möglich war, verließen sie die Trauergesellschaft, stiegen in sein Auto, fuhren zum Feinkostladen und dann runter zum Fluss.
Der Käse ist würzig; das Baguette knusprig und frisch. Sie zupft sich weiche Stücke davon ab, trinkt einen Schluck Wein; lässt den Blick ins Wasser gleiten, über den Fluss schwimmen und am anderen Ufer den Hügel hinaufklettern, auf dem sich zwei Pappeln im Wind bewegen. Ihr wird etwas schwindlig – vielleicht ist sie beschwipst. Kein Wunder wäre das! Melonensaft klebt an ihren Händen und am Kinn. Schnapsidee … Jetzt einfach losrennen, hineinspringen und alles abspülen! Himmel, denkt sie, hier komme ich nie mehr hoch.
Das Wasser gerät in Bewegung. „Waahaaah!“ Der Kopf eines rothaarigen Jungen durchbricht die Oberfläche. „Deckung, ein Tintenfisch!“, brüllt er und schleudert etwas in Richtung eines Mädchens, das jetzt ebenfalls aufgetaucht ist. Eine Entenfamilie flüchtet ins Schilf. Der Junge lacht heiser und der Sonnenbrand auf seinen Schultern leuchtet gefährlich.
„Psst!“, sagt Wolfgang und bedeutet ihr, sich flach hinzulegen, „Dort ist der Baumel ... “
„Meinst du den Peter“, flüstert sie, nur den Kopf leicht erhoben, „Peter Baumann? Ja, das könnte er wohl sein.“
„Sein Enkel“, sagt er, „oder Urenkel, vielleicht.“
„Und die dort“, sagt sie und zeigt auf einen Backfisch mit zerzausten Haaren, „das ist Christiane!“
Vorhin, auf Christianes Beerdigung, hat sie ihn gleich wiedererkannt – unverwechselbar mit dem schrägen Grinsen: Wolfgang Schrader. Seine wirre Mähne inzwischen kurzgeschoren, und er hinkt ein wenig, aber er ist immer noch drahtig und agil – wie die Leute in den Werbespots für Seniorenheime, die, wie sie vermutet, von fünfzigjährigen Marathonläufern gespielt werden, denen sie die Haare weiß pudern.
Das letzte Mal, dass sie sich gesehen haben, auf diesem Jahrgangstreffen – wie lange ist das her? Da lebte er schon in Frankreich, zwischen Pinienhainen und Weinbergen, mit Frau und Kindern und Blick weit übers Meer. Er war tatsächlich noch gewachsen, wenn auch nicht viel. Sie erinnert sich, wie er herumstolzierte, begeistert nickte, „aha“ sagte und „wirklich“, wie er den Sekt verschüttete und aussah wie Woody Allen in Manhattan.
„Du hast dich gut gehalten“, sagt sie und reißt etwas Brotkruste in kleine Stücke.
„Spätentwickler“, sagt er. Die Lachfalten um seine Augen sind Pfeile, die in alle Richtungen zielen. „Darum hatte ich ja auch nie eine Chance bei dir oder bei Christiane!“
„Aber, du … Ach was!“ Sie betrachtet die Wespe, die am Kuchen nagt; versucht sich zu erinnern, wie gemein sie früher zu ihm war. „Wir hatten doch immer Spaß zusammen, oder?“
Die Enten kommen ans Ufer geschwommen, ihr Geschnatter hinter sich herziehend wie einen langen Faden, den der Wind mit dem Plätschern des Wassers und der Hottentottenmusik von nebenan zu einem Band verknüpft – ein Band aus zeitlosen Sommergeräuschen. „Na ja …“, sagt sie mit unterdrücktem Grinsen, „wir waren vielleicht ein bisschen frech, manchmal … Graf Koks von der Gasanstalt!“
Er legt den Kopf zur Seite, verzieht einen Mundwinkel – belustigt, verletzt, oder beides zugleich. „So habt ihr mich genannt?“
„Ja, ich weiß … nicht sehr nett. Aber du warst so klein, so dünn … und so stolz auf deinem riesigen Motorrad ...“, sagt sie und wirft den Enten die Brotstücke zu.
Auf seinem Gesicht erscheint das gleiche schiefe Lächeln, das sie damals für unsicher gehalten hatte, aber jetzt erkennt sie die Gelassenheit darin und das Selbstbewusstsein, das vermutlich schon immer dagewesen ist.
„Phhh! Ihr … Hühner!“ Er kneift die Augen zusammen, wedelt die Wespe vom Erdbeertörtchen und schiebt sich das ganze Teil auf einmal in den Mund.
Lautlos gleitet ein Kanu vorüber und verschwindet wieder, als wäre es ein Untertitel in einem fremdsprachigen Film.
Wolfgang liegt neben ihr und erzählt von Frankreich, von der Weinernte, bei der er immer noch mithilft, von seiner Frau, die schon so lange tot ist, von den Enkeln – froschfressenden Rotzlöffeln, die sich lustig machen über den deutschen Akzent von Papy … Unfassbar eigentlich, im Nachhinein, dass ausgerechnet er Vater von französischen Kindern geworden ist – wo er sich immer so schwergetan hat bei Fräulein Schulze mit ihrem Futur composé oder anteriéur …
„Mademoiselle Schülz", ruft sie überrascht, „die hatte ich ja ganz vergessen, die alte Schrapnelle!"
Die Enten verstummen.
Der Wind hat sich gelegt.
Das Wasser fließt in Zeitlupe, und sie glaubt, die Fische atmen zu hören, die träge darin umhertreiben.
Alte Schrapnelle …
Es braucht nicht viel. Ein kurzer Blick in seine Augen ist der Startschuss für das Gelächter, das sie jetzt beide überrollt: unterdrücktes Prusten, hysterisches Kichern, das sich solange steigert, bis es in gnadenloses Gewieher übergeht – als hätten sie einen totalen Dachschaden, als wären sie vollkommen meschugge – und ganz sicher denken die Halbstarken nebenan das von ihnen: zwei übergeschnappte Alte, die zu viel gebechert haben –, aber – Haha – sollen sie doch! Und immer wieder von vorne, bis ihr wirklich alles wehtut. Sie atmet tief durch, trinkt einen Schluck Wein, wischt sich die Tränen aus dem Gesicht – alte Schrapnelle: Ha… –, und als sie sich endlich wieder traut, ihn anzusehen, merkt sie, dass seine Haare wachsen, wild vom Kopf abstehen, dass der Bartwuchs zurückgeht und die Falten verschwinden – Platz machen für das Schlawinergrinsen: Dass er Wolle ist, der dürre Junge mit dem überdrehten Lachen und den verrückten Ideen.
Die Sonne, der Wein und der Lachanfall haben ihre Füße in den Stützstrümpfen zum Schwitzen gebracht, aber da muss sie durch – sie kann ja schlecht ihre Hühnerbeine auspacken und auf den Picknicktisch legen. Ein Verrat wäre das an ihren eigentlichen Beinen, mit denen sie damals – braungebrannt und glatt – herumgetanzt und in den Fluss gesprungen war ... Wie ging gleich nochmal dieser Schlager? Die Beine von … Das machen nur die Beine von …
Na, egal.
„Und bei dir?“, fragt er und entfernt ein Blatt aus ihrem Haar. „Wie geht es dir denn jetzt so?“
Sie betrachtet einen Wolkenstreifen, der sich am Himmel entlangzieht wie eine weiße Straße durch blaues Feld, kneift die Augen zusammen und wartet, was ihre Gedanken darauf projizieren werden.
Irgendwann taucht eine Karawane auf: eine zähe Prozession alter Menschen mit Rollstühlen, Stöcken und Rollatoren. „Ach“, sagt sie, „na ja“, und fixiert eines der imaginären Räder; schaut zu, wie es sich dreht und dreht – wie sich auch in ihrem Kopf alles dreht –, und das Rad dreht sich weiter und weiter, bis es schließlich zu dem Kinderwagen gehört, in dem sie ihren Urenkel spazieren fährt, zu dem Tretroller und den Fahrrädern, die im Weg herumliegen, wenn sie aus dem Garten kommt mit Körben voll Obst und Gemüse, aus dem sie für die ganze Bande das Mittagessen kocht –, und manchmal, wenn sie längst fertig sind und satt bis oben hin – mit Nachtisch und allem –, kommt Gerd vom Angeln, knallt einen Fisch in die Mitte und brummt: Ich hab euch was zu essen besorgt!, und alle rufen: Oh nein, bitte keinen Nachfisch, Opa!, springen auf und rennen davon. Und mittendrin immer Zorro, der Hund.
„Das klingt schön“, sagt er und streicht eine Ameise von ihrem Unterarm.
„Das ist es wirklich“, sagt sie und blickt über den Fluss, wo sich der Hügel allmählich vor die Sonne schiebt. Die Silhouetten der Pappeln bewegen sich im Wind wie die dünnen Haare auf dem Kopf eines alten Mannes.
Es wird kühl. Sie packen zusammen und verfüttern das restliche Brot an die Enten. Unter triumphierendem Gesumm transportiert die Wespe einen Kuchenkrümel ab, als wäre sie ein Rettungshubschrauber in unwegsamen Gelände.
Wolfgang schafft es, sie so auf die Beine zu ziehen, dass es sich anfühlt wie ein Tanzschritt, Teil einer maßgeschneiderten Choreografie. Seine Hände sind fest und warm. Jetzt fällt es ihr wieder ein. „Die Beine von Dolores!“, ruft sie und schämt sich im selben Moment – sie hatten ja gar nicht darüber gesprochen … Er lacht, verstaut den Picknickkorb im Wagen und pfeift die Melodie des Refrains, als hätte er die ganze Zeit auf den Einsatz gewartet.
Die Jugendlichen stehen in der Nähe und begutachten den Oldtimer. Der Rotkopf – ein Handtuch über den Schultern – flüstert mit einem Freund. Sie kichern, machen Kussgeräusche und boxen sich in die Seiten.
„Wohin darf ich Sie bringen, Madame?“, fragt Wolle und öffnet die Beifahrertür.
Sie stellt sich vor, für immer mit ihm in diesem Cabriolet sitzenzubleiben, bis sie im Süden Frankreichs angekommen sind und die Serpentinen hoch über dem Meer entlangfahren wie Grace Kelly und Cary Grant in Über den Dächern von Nizza, und später werden sie nebeneinander im Liegestuhl in den Weinbergen sitzen, eine Flasche Carignan trinken, und aus dem Kofferradio knistert ein Chanson – Non, je ne regrette rien –, und die Wärme der Sonne wird die Falten auf ihrer Haut glätten, sie wird Lippenstift auftragen, die Strümpfe wegschleudern und tanzen –, und wenn es so weit ist – nein – bevor es so weit ist, dass sie für immer so daliegen muss: weiß wie ein Fischfilet, wie Gerd, ihr Mann, der seit zwei Jahren auf der Pflegestation eine Etage über ihr lebt –, vorher also könnte sie sich ins Cabrio setzen, Gas geben und in einer unübersichtlichen Kurve die Kontrolle darüber verlieren.
„Nach Hause“, sagt sie und zieht ihren Rock glatt.
„Und, wo genau ist das?“ Er blinzelt ihr zu, setzt die Lederkappe auf und verschwindet hinter seiner Aviator-Brille.
Sie lacht leise und schüttelt den Kopf, denn eigentlich kann das nicht sein. „Auf dem Witwenbuckel“, sagt sie. „Du weißt schon, dieses …“
„Ich weiß“, sagte er. „Eine gute Adresse.“
Der Motor brummt wie ein Shanty-Chor beim Einsingen. Die Räder drehen ein paarmal durch, wirbeln Sandwolken auf beim Losfahren, die den Fluss und die Jungs und die Weiden, die im Rückspiegel langsam kleiner werden, mit einem feinen Sepiaschleier überziehen.