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Sensationsgier
Ich werde von der monotonen Stimme eines Nachrichtensprechers empfangen. Ich werfe den Schlüsselbund auf die Ablage und stelle die Einkaufstüten, prall gefüllt mit diversen Lebensmitteln und Konserven, gefolgt von meiner Handtasche erleichtert ab. Meine Schultern schmerzen, meine Handflächen brennen noch immer von der Last, die ich drei Stockwerke an dünnen Leinenträgern hoch schleppen musste. Ich streife meine Schuhe ab, gehe barfuß in die Küche.
Jetzt dringt die Stimme sogar noch lauter in mein Ohr, einer Fliege gleich, die mich verfolgt, unablässig umschwirrt, lästig, nervtötend, unmöglich zu fangen. Schmutziges Geschirr steht auf der Anrichte, Essensreste am Tellerrand, eine halbleere Plastikdose verkaufsfertigen Kartoffelsalats vegetiert mit offenem Deckel vor sich hin. In der Spüle liegt eine Pfanne, schief, sodass sich die noch nicht angetrockneten Fettreste in einer Pfütze am Boden sammeln.
Schließlich gehe ich ins Wohnzimmer. „In der Küche herrscht Chaos“, sage ich, müde. Es gelingt mir nicht einmal, vorwurfsvoll zu klingen.
„Ja, räume ich später weg.“ Er sitzt auf der Couch, den Blick auf den Fernseher gerichtet, in der einen Hand ein Bier, in der anderen die Fernbedienung. Seinen Anzug hat er achtlos über eine Stuhllehne gehängt – er wird morgen sicher knitterig sein, wenn ich ihn nicht vorher bügle – und gegen eine Sporthose und ein weites T-Shirt getauscht. „Hast du heute schon die Nachrichten gehört?“
„Nein.“ Ich bleibe im Türrahmen stehen, meine Füße schmerzen. „Ich war einkaufen. Heute morgen war schon wieder nichts da.“
„Ach ja, ich wollte mich später darum kümmern.“ Ungeduldig winkt er mich zu sich heran, deutet auf den grellen Bildschirm an unserer Wohnzimmerwand. „Davon musst du doch etwas mitbekommen haben.“
Ich setze mich, starre auf die wechselnden Szenen, geschnittene und wieder zusammengefügte Bilder, die vor meinen Augen ineinander laufen, verschwimmen. Wie viele Menschen werden wohl täglich im Fernsehen gezeigt, wie viele Orte? Unzählige – hunderte, tausende.
„Ich sag dir, Europa geht vor die Hunde, und dieses Land wird als letztes davon profitieren. Was denken die sich eigentlich alle dabei?“ Er schüttelt scheinbar hoffnungslos den Kopf. Immer wusste er es besser.
Der Nachrichtensprecher wird wieder gezeigt. Ein Mann mittleren Alters, graue Schläfen, helle Augen. Seinem Beruf entsprechend ist sein Tonfall ernst, sachlich, sein Gesichtsausdruck kalt, ohne jede Gefühlsregung. Ich erinnere mich noch, wie mich als Kind alle Nachrichtensprecher eingeschüchtert haben, wie übermenschlich sie auf mich wirkten, mit ihren steifen Masken und dem fehlerfreien Wortschwall, der ihren Lippen entwich. „Warum lächelt er nicht?“, fragte ich dann, und meine Mutter antwortete: „Weil er über schlimme Dinge spricht.“
„Aber warum sieht er dann nicht traurig aus?“ Was meine Mutter darauf erwiderte, weiß ich leider nicht mehr.
Heute schüchtern mich Nachrichtensprecher immer noch ein wenig ein. Wie hypnotisiert folge ich seinen Lippen, wie sie unablässig Worte formen, Informationen liefern, die mich jedoch nie erreichen. Er scheint allwissend zu sein, ein Regulator der Gesellschaft, der er Zugang bietet zu all den Ereignissen, die sich fernab ihrer Wohnzimmercouch ereignen. Und doch trägt er eine Maske, hält lediglich einen Schein aufrecht. Wer weiß, wer sein Regulator ist? Wer ihn kontrolliert, so wie er uns?
„Es ist kaum zu fassen. Und für so etwas zahlen wir unser Steuergeld!“
Ich kann nicht antworten, kenne den Inhalt ja auch gar nicht, deshalb nicke ich einfach nur stumm.
„Die werden doch manipuliert. Amerika, Russland, ich weiß auch nicht wer, aber ich sag dir, da haben andere Mächte ihre Finger im Spiel.“
Manipuliert. Das Wort hallt in meinen Gedanken wieder. Du wirst doch auch manipuliert, möchte ich sagen, lasse es dann aber sein.
„Und jetzt gleich, live vor Ort, nur für Sie... “ Nur für uns. So lässt sich die Neugier der Menschen stillen, die doch am liebsten jeder Katastrophe beiwohnen würden, die sich nicht satt sehen können in ihrer Sensationsgier. Die Nachrichten sind grausam, ich kann es gar nicht anders beschreiben.
„Ich hätte jetzt gern einen Tee“, lasse ich verlauten, als die Hymne erklingt, das Ende der Informationsflut.
„Ist noch welcher da, ich hatte vorhin auch einen.“ Ich sehe es, seine leere Tasse, ein rötlicher Rand im Innern, steht ja direkt vor mir auf dem Couchtisch. Er stellt sein Bier daneben ab und greift nach seinem Mobiltelefon, das schwarze Loch, wie ich es nenne, weil es ihn und alle anderen aus der Realität heraussaugt. Es ist erschreckend, wie viel Macht es über ihn besitzt, über die Passagiere im Bus, die Jugendlichen vor den Schulen, die Mütter in den Einkaufszentren, ja, selbst über die Autofahrer vorm Steuer. Eine Flut bahnt sich an, digital, modern, unausweichlich. Faszinierend.
Ich stelle mich wieder auf meine schmerzenden Füße, die mir ganz allein von dem anstrengenden Arbeitstag erzählen. Wer sonst sollte auch zuhören, wo es doch so alltäglich ist? Seine Tasse nehme ich mit auf den Weg in die Küche, in der ich schließlich auch den Abwasch erledige und die Einkäufe einräume, während im Radio ein Nachrichtensprecher von den Nöten dieser Welt berichtet.