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Semperoper. Eine Geschichte für den Rand der Welt.
Das zerschlagene Reich beginnt aufzuatmen. An der Winterfront im Osten dröhnt und rumort es zwar gehörig, doch es ist schon der Februar da, sagen sich die Menschen, die es bis in die Stadt geschafft haben. Dann der April, dann der Mai, dann vielleicht das Ende des Krieges, das einen Anfang für uns birgt. Doch es ist kalt im Februar und die Eiskristalle, die lautlos vom Himmel schweben und auf den Dächern und in schwarzen Astgabelungen Halt finden, ähneln noch kleinen Hakenkreuzen. Es gibt ärztliche Versorgung hier und die Aussicht auf etwas Brot. Die Flüchtlinge aus dem Osten sind dankbar darüber. Otto ist seit zwei Tagen in der Stadt und staunt über soviel unberührte Schönheit. Das kann alles nicht wahr sein, denkt Otto, der als Einziger des Maschinengewehrtrupps den Granatwerfertreffer überlebt hat. Niemand war danach übrig. Es war niemand übrig geblieben, der Otto mit einem Befehl aushelfen konnte, niemand, dem er Meldung über Verluste erstatten musste. So muss es am Rand der Welt aussehen, hatte Otto gedacht, wobei er nicht wusste, wie er sich denn tatsächlich den Rand der Welt vorzustellen hätte. Es ist so eine Redensart von Otto, das mit dem Rand der Welt. Die hat er vom Großvater und der hatte diese wiederum bei einem Kavallerieoffizier gehört, der in Verdun zwischen einem Knäuel schwerverletzter und vor Angst wahnsinnig gewordener Pferde sein eigenes suchte, um es mit einem Schuss von seinen Qualen zu erlösen. Als ich in die Augen dieser Pferde geschaut habe, wusste ich, wie es am Rand der Welt aussehen muss, hatte Otto vom Großvater gehört und nicht geahnt, dass er mit Grauen ein paar Jahre später in Russland an diesen Satz des Großvaters denken würde.
Als die Einschläge verebbt waren und dicker Qualm über dem Abschnitt lag, war Otto abgehauen.
Immer Richtung Westen und immer im Dunkel der Nächte.
Als Otto den alten Mann entdeckte, den ein zurückmarschierendes Kommando des Sicherheitsdienstes an das Haustor eines niedergebrannten Hofes genagelt hatte, fand er keine Worte für dieses Morden bis zum Ende. Er hatte der noch warmen Leiche die Hose und den löchrigen Wams abgestreift und selbst übergezogen. Dann fand er ein sicher scheinendes Plätzchen im unversehrten Heustadel zwischen den Blutlachen totgeschlagener Schweine und zitterte sich in einen unruhigen Schlaf. Am nächsten Tag nahm ihn eine flüchtende Familie aus Königsberg auf ihrem voll bepackten Leiterwagen mit und jetzt ist Otto da. Er steht vor dem Eingang der Semperoper, unschlüssig und hungrig. Bis auf weiteres geschlossen, steht auf dem Pappschild. Und darunter ein Datum vom August 1944, der Tag selbst kaum mehr zu entziffern. Otto macht sich nichts aus Opern, aber er wäre gerne einmal bei einer Aufführung dabei gewesen. Wegen Waltraud oder auch nur, um ihr zu imponieren. So guckt er sich die steinernen Figuren an der Fassade an und bläst warmen Atem gegen seine klammen Hände. Als ob sie an den Rand der Welt blicken würden, so schauen die, denkt Otto. Waltraud kennt alle Opern. Wenn alles vorbei ist, werden Waltraud und ich in die Oper gehen. Sie spricht von nichts anderem, wenn wir in unserer Wiese hinter dem Dorfanger liegen. Er weiß nicht, dass Schiller und Goethe, Shakespeare und Sophokles, Moliere und Euripides auf ihn hinunterblicken. Er weiß nicht, dass es der Abend des 13. Februar 1945 ist, an dem er beschließt, morgen in den Schwarzwald aufzubrechen. Dicht gedrängt lagern die Menschen in den Strassen. Es ist nicht wichtig, woher sie kommen – ob aus dem Sudetenland, Masuren oder Böhmen. Sie alle haben es hierher geschafft, sind dem Grauen der Panzerketten entkommen und den trunkenen Horden aus der Mongolei.
Ottos Kompanie wurde von den Russen zur Gänze aufgerieben. Den Artillerieüberfall hatte Otto als Einziger überlebt. Er grub sich zwischen Uniformfetzen und abgetrennten Beinen und zwischen den verbogenen Lafetten eines Panzerabwehrgeschützes durch den Schutt nach oben. Wie durch ein Wunder fand er den unbeschädigt gebliebenen Feldstecher seines Leutnants, an dem dessen abgerissene Finger klebten. Mehr blieb von den letzten achtundsechzig Mann der Kompanie nicht über. Als die Russen mit ihren Panzern vorstießen, begann Otto wie ein Hase um sein Leben zu rennen. Die Gedanken an den Schwarzwald und den Hof daheim mobilisierten Energien in ihm, von denen er nicht wusste, dass er sie noch aufbringen würde. Er fand tatsächlich aus dem Irrgarten der umgepflügten Schützengräben. In einem dicht bewachsenen Waldstück fiel er der Länge nach hin und verkroch sich mit letzter Kraft unter abgestorbenem Geäst. Nach dem ersten Tag in Deckung begann er seinen nächtlichen Rückzug. Die Kettenhunde der Militärstreife waren ein Problem und obwohl Otto sein Wehrdienstbuch verbrannt hatte und nun Zivilkleidung trägt, wusste er, dass sie ihn aufhängen würden, wenn sie ihn finden, weil ihn die Angst in seinen Augen verraten würde. Vielleicht aber auch nur, weil sie selbst Angst vor dem nahenden Ende hatten und ihre Genickschüsse nur noch aus Verlegenheit oder Enttäuschung an Wehrlose verteilten.
Doch er hat es geschafft, vorbei an allen Kontrollen und Straßensperren. Die Stadt hier ist voll von Menschen und es kommen immer mehr hereingeströmt. Das ist von Vorteil, wenn man Deserteur ist und den Schwarzwald wiedersehen möchte. Wenn Otto die Augen schließt, löst sich der Krieg von ihm, obwohl die Angst des getöteten Bauern aus Hose und Wams strömt und ihn wie einen Pesthauch umgibt. Ich will nach Hause zu Waltraud, sagt er leise vor sich hin. Ihre dicken Zöpfe, ihre großen Augen möchte ich wiedersehen. Sie schrieb mir, dass sie wartet. Ich möchte den Kopf zwischen Waltrauds Brüste legen und weinen. Wegen dem Verrat an uns und der Zeit, die sie uns gestohlen haben.
Otto fasst zwei Decken beim Hilfsdienst aus und dann bekommt er einen Becher mit heißer Suppe bei einer der Garküchen, die um die Semperoper aufgestellt sind. Eine Rotkreuzschwester untersucht sein zerschundenes Kniegelenk, reinigt die Wunde und legt einen Verband aus ausgewaschenen Stoffresten an. Danke, sagt Otto. Sie fragt nichts und sagt nur, dass er morgen noch einmal vorbeikommen soll, den Verband wechseln. Sie hat wie Waltraud die Haare zu zwei dicken Zöpfen geflochten. Elektrisiert lauscht Otto dem Klang ihrer Stimme. Du, Waltraud, will er sie fragen. Trotz der Kälte perlt der Schweiß auf Ottos Stirn. Er weiß mit der Stimme einer Frau nichts anzufangen, ist unsicher, schämt sich für den Geruch, den seine Kleidung verströmt. Er kennt die Geräusche der Front, kann das Kaliber der Geschosse am Geräusch der Einschläge erkennen, die Entfernung der Tiefflieger am Dröhnen der Propeller abschätzen. Das hat er im Osten gelernt. Dass es da noch etwas anderes gibt, hat ihn der Krieg vergessen lassen. Er bedankt sich leise und geht schnell weg. An der Westmauer der Semperoper sind notdürftig Unterstände errichtet. Er zwängt sich in einen der Holzverschläge. Ein paar Leute fluchen und machen dann doch Platz. Als er sich in die Decken verpackt hat, lauscht er dem Atmen der Anderen, weil ihn die zu große Müdigkeit nicht schlafen lässt.
Gegen Mitternacht ist Otto am Rand der Welt angekommen. Genau genommen wollte er zurück zu Waltraud. Doch das wurde von Arthur Harris drüben in London nicht so gesehen. Es war noch ein letzter Einsatz zu fliegen und das Bomberkommando ist seiner Berufung wie immer mit absoluter Treffergenauigkeit nachgekommen. Otto wird diesen Umstand jedoch selbst nicht mehr mitbekommen. So wie die vielen tausend Anderen, die in der unglaublichen Hitze der Nacht und auch des nächsten Tages im Knistern des flüssigen Phosphors in Sekundenschnelle zur Größe handlicher Holzscheite schmelzen werden.
Zwischen 1952 und 1956 wurde zunächst die äußere Gestalt der Semperoper wieder hergestellt, um einen späteren Aufbau zu ermöglichen. Im Jahre 1977 entschloss man sich für eine originalgetreue Rekonstruktion des Gebäudeinneren. Nach achtjähriger Bauzeit fand am 13. Februar 1985 die Eröffnungspremiere statt. Die Skulpturen, die Otto so staunen ließen, hatten den Bombenangriff fast unbeschadet überstanden und wurden in die neue Fassade des Eingangsbereiches integriert. Aufgeführt wurde Carl Maria von Webers Oper "Der Freischütz". Waltraud wartete vergebens auf Otto, hatte nach dem Krieg den Sohn einer entnazifizierten Fabrikantenfamilie des neuen, aufstrebenden Deutschlands geheiratet und für diesen ihre geliebten Wiesen im Schwarzwald verlassen. Waltraud war jedoch ihrer großen Liebe zur Oper treu geblieben. Die Macher des Wiederaufbaues trafen sich allesamt zur Eröffnungspremiere. Auch Waltraud und ihr Fabrikant fuhren hin. Beim Eingang zur Semperoper beschlich Waltraud ein Gefühl, als ob sich etwas, heiß wie Phosphor, auf ihr Herz legen würde. Sie blieb stehen und ihr Körper verkrampfte sich, als sie die Figuren links und rechts des Einganges sah. Sie haben allesamt Augen, die den Rand der Welt gesehen haben müssen, dachte Waltraud. Was ist mit dir, fragte ihr Mann, der sich die Veränderung in Waltrauds Blick nicht erklären konnte. Waltraud spürte, dass da noch etwas ganz in ihrer Nähe war. Etwas, das mit dem Duft von Wiesen zu tun hatte. Irgendwie wäre es gut, jetzt weinen zu können, dachte sie. Das tat sie dann auch und ihr Mann hatte alle Hände voll zu tun, diese Peinlichkeit gegenüber den anderen Gästen zu verbergen. Die Eröffnungspremiere war ein großer Erfolg. Danach ließ sich Waltraud aus Gründen, die sie niemandem erklären konnte oder wollte, von ihrem Mann scheiden und ging zurück in den Schwarzwald.
Seitdem sind wieder Jahre vergangen und Waltraud verlässt kaum noch das Haus. Manches Mal schläft sie unruhig. Es mag auch das Alter sein und die Inkontinenz ihrer Blase, die sie in den Nächten nicht zur Ruhe kommen lässt. Aber hin und wieder sieht Waltraud das Gesicht von Otto und sein unbekümmertes Lachen in ihren Träumen auftauchen, während sie ihm mit den Zöpfen die Wangen kitzelt. Warte auf mich, sagt er und sie verspricht es ihm. Damals war die Wiese, in der sie beide lagen und den Wolken darüber Namen gaben, der Rand ihrer Welt gewesen. Jetzt wusste sie, dass Otto vor der Semperoper gestanden und dasselbe gefühlt haben musste wie sie, damals vor der Premiere.
Draußen vor dem Fenster liegen die Wiesen und der Mond geht jede Nacht darüber spazieren. In einer solchen Nacht voll mit Träumen war Waltraud dann tatsächlich am Rand der Welt angekommen. Es bedurfte nur den Sekundenbruchteil, den ein Blutgefäß braucht, um sich zu verstopfen. Genau betrachtet hatte sie diesen Umstand jedoch selbst nicht mitbekommen, weil sie schon sehnsüchtig zum Rand der Welt blickte und es nicht erwarten konnte, mit ihren Zöpfen wieder über Ottos Lachen zu fahren.