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Sommer, Semmeln, und Stöckelschuhe sind drei Teile meiner Kurzgeschichtensammlung "Mietshaus".
Semmeln
Semmeln
Da war sie, die Frau Semmelmayer, Kind auf dem Arm, noch keine sechs Monate alt und doch sollte es heute zum ersten Mal in den Kindergarten. Was für eine Rabenmutter. Und wie der Kleine schrie, als sie ihn in den Kindersitz zwängte. So ein ungezogener kleiner Bengel, aber was kann man bei einer Mutter, die ihren Beruf wichtiger nimmt als ihr Kind, schon anderes erwarten.
Frau Semmelmayer parkte gekonnt aus und verschwand um die Ecke. Endlich Ruhe, dachte Frau Schuhmacher, die seit einer geschlagenen Stunde am Fenster gesessen und ihre Mitbewohner dabei beobachtet hatte, wie sie ihren Tagesgeschäften nachgingen. Doch halt, sie musste eben noch schnell im Flur nachsehen...Typisch, Frau Semmelmayer hatte schon wieder den Kinderwagen im Flur stehen lassen, anstatt ihn im Keller oder in ihrer Wohnung unterzubringen. Frau Schuhmacher zückte Papier und Bleistift: “Der Kinderwagen verstellt potenzielle Fluchtwege und ist ein Feuerrisiko. Bitte wegräumen!“ Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, legte sie die Notiz in den Wagen und schlich flink wieder in ihre Wohnung zurück. Wenn Frau Semmelmayer den Kinderwagen nicht woanders abstellte, dann würde sie sich mit der Hausverwaltung in Verbindung setzten müssen, schließlich war das Zustellen des Flurs gegen die Hausordnung.
Frau Schuhmacher hatte sich gerade wieder an ihrem Fenster platziert, als Frau König mit einer Tüte Semmeln vom Bäcker heimkehrte. Endlich jemand, der ihr Leid teilen würde, dachte sich Frau Schuhmacher und war schon wieder auf dem Weg zur Tür. Sie öffnete gerade in dem Moment, als Frau König vorbei ging.
„Ah, Angelika. Wie gut, dass ich Sie treffe.“
„Guten Morgen, Rosmarie. Sehen sie sich das an. Schon wieder steht der Kinderwagen im Flur.“
„Ich weiß! Ich hab eben einen Zettel hineingelegt mit der Bitte, dass sie ihn woanders abstellen möge.“
„Endlich tut mal jemand was. Das ganze Haus verkommt sonst noch.“
„Ja, ja. Meine Rede.“
„Haben Sie den Streit am Wochenende gehört? Ich wollte ja nicht lauschen, aber mir scheint, als wenn Herr Semmelmayer bald einen Schlussstrich zieht.“
„Na kein Wunder, bei so einer Frau. Nur Arbeit im Kopf anstatt sich um ihre Familie zu kümmern. Der Kleine geht jetzt schon in den Kindergarten, wissen Sie.“
„Ach was? Erst Kinder kriegen und dann abschieben. So sind se heute.“
„Worum ging’s denn bei dem Streit?“
„Nun ja, es war nicht alles zu hören, und er ist die ganze Zeit umhergegangen, da konnte ich nicht so schnell folgen, aber es scheint schon recht arg zu sein. Sie war ganz mucksmäuschenstill, hat keinen Ton gesagt, und er in einem fort sowas wie: misch dich nicht überall ein, das geht so nicht weiter, wir müssen auch an den Kleinen denken, und so.“
„Na, wenn da mal keine Scheidung ins Haus steht. Hoffentlich zieht Sie aus und nimmt ihren Kinderwagen mit.“
„Wir werden sehn, aber dauern kann’s nicht mehr lange.“
„Gut, Angelika. Ich wünsch dir was. Ich hab noch was zu erledigen.“
„Ja, mach’s gut.“
Und damit hatte Frau Schuhmacher die Bestätigung für ihre Vermutungen erhalten. Sie verbrachte den Rest des Tages damit, bei ihrem Fenster zu sitzen und darauf zu warten, dass die Semmelmayers nachhause kommen würden. Vielleicht hätte sie das Glück das Drama ebenfalls aus erster Hand mitzuerleben.
Und schließlich war es so weit. Wie abgesprochen fuhr erst Sie vor, schnallte den Kleinen ab, und dann parkte Er hinter ihr ein. Ein flüchtiger Kuss zur Begrüßung, da ist kein Funken Leidenschaft mehr vorhanden, urteilte Frau Schuhmacher. Er, ganz Gentleman, trotzt der Situation, gab ihr den Vortritt und legte ihr die Hand auf den Rücken. Die wird so schnell nicht nochmal einen so liebenswürdigen Mann finden, der sich mit ihr abgibt.
„Danke, dass du gestern bei deiner Mutter standhaft geblieben bist.“
„Ich hätte das schon viel früher machen sollen.“
„Wie wär’s, wenn der Kleine im Bett ist, dann bestellen wir Pizza und machen uns einen romantischen Abend?“
Nun ja, vielleicht würden sie sich doch nicht so schnell scheiden lassen, aber eine ordentliche Hausfrau würde trotzdem nie Pizza bestellen.