Mitglied
- Beitritt
- 10.07.2002
- Beiträge
- 9
Selbstverwirklichung ...
Johanna wusste schon seit Längerem, sie würde es niemals schaffen. Irgendetwas tief in ihr sträubte sich vehement dagegen. Wie sie es auch anging, es wollte ihr einfach nichts richtig gelingen. Sie war mittlerweile im dritten Lehrjahr in einem kaufmännischen Beruf. Seit ihrer Kindheit war sie ein ruhiges, zurückhaltendes Mädchen gewesen. Ihre Schüchternheit und innere Zerrissenheit ließ sie manches im Leben schwieriger erreichen, als das bei ihren Klassenkammeraden der Fall war. Zweifelsohne hatte sie ihre Fähigkeiten. Sie konnte sogar manch Anderen in der Klasse „in die Tasche stecken.“ Aber wie könnten die Anderen es erfahren und vor Allem wie sollte sie es ihren Lehrern plausibel machen? Wo ihre Stärken lagen, wusste sie seit Langem, im schriftlichen Bereich. Während sie so ganz allein zu Hause saß und in ihr Tagebuch schrieb, stellt sie beim nochmaligen Lesen des Geschriebenen fest, dass es ihr literarisch an nichts mangelte.
Sie sah aus dem Fenster, mittlerweile war es dunkel geworden. Die nahe Straßenlaterne brachte nur noch gedämpftes Licht, so dass die Umgebung nur silhouettenhaft zu erkennen war. Es war Sommer, aber die Sonne brachte noch nicht die erwünschte Wärme. Frühsommer. Die Blätter des nahern Ebereschenbaumes blinzelten ihr scheinbar unter der Flut von Regentropfen zu, als wollten sie ihr eine Botschaft übermitteln. Aber was für eine Botschaft? War es überhaupt eine? Und wenn ja, wie könnte Johanna sie entschlüsseln? Oder kam alles aus ihrem Herzen? Johanna blicke wieder auf ihr Geschriebenes und da kam ihr plötzlich in den Sinn, dass sie Morgen wieder Berufsschule hatte. Wieder würde sie nur dasitzen und zuhören müssen, wie Andere sich in den Vordergrund drängten. Und sie würde wieder mittendrin sitzen und ihre literarischen und sonstigen Fähigkeiten unter der Scheffel stellen müssen. NEIN!! In großen Lettern schreib sie in ihr Tagebuch: „Ich will leben und nicht nur funktionieren!“
Sie malte sich aus, was es konkret bedeuten würde, wenn sie ihr bisheriges Berufsziel aufgeben würde. Ihre Eltern, die ihr die Lehrstelle besorgt hatten, würde ihr das wahrscheinlich nie verzeihen. Ihr Vater war in einen großen Konzern im Einkauf tätig. Es hatte damals keine Diskussion gegeben. Für ihre Eltern war klar, dass sie einen kaufmännischen Beruf erlernen sollte. Andererseits konnte Johanna durch ihre ständige Niedergeschlagenheit und ihr gewisses Desinteresse an ihrem Beruf natürlich auch keine Erfolge für sich verbuchen. Das wiederum äußerte sich in einem gewissen Motivationsverlust, den letztlich auch ihr soziales Umfeld zu spüren bekam. Die Materie war ihr einfach zu trocken. Gerne erfreute sich Johanna an den Texten lyrischer Denker, Dichter und Philosophen.
Johanna war sich sicher: Ich muss jetzt einen Schnitt machen! Die Blätter des Ebereschenbaumes nickten zustimmend im Wind. Sie blickte hinaus in die Dunkelheit. Ja, irgendetwas da draußen, sagte ihr: Vergeude nicht dein Leben!! Wirf dich nicht weg.
Sie sprach zunächst noch nicht mit ihren Eltern, stellte sie dann vor vollendete Tatsachen, was in ihnen wenig Entzücken hervorrief. Doch das war Johanna egal. Noch innerhalb der nächsten zwei Monate fand sie eine Stelle in einer Buchhandlung. Es bereite ihr sehr viel Freude, die Bücher einzusortieren. Der Geruch frisch gedruckter Bücher gefiel ihr sehr. Außerdem befand sie sich ihrer Ansicht nach von einem ganz besonderen Flair umgeben. Ihre Schüchternheit war wie verflogen und sie konnte die interessierten Leser bestes beraten, zumal sie aus einen schier unerschöpflichen Reservoir an angelesenem Wissen schöpfen konnte.
Johanna konnte ihr Glück kaum fassen. Sie hatte es wirklich geschafft, Konsequenzen zu ziehen. Der Preis, den sie dafür bezahlt hatte, war nur eine Geringer, im Gegensatz zu dem bis hierher Erreichten. Johanna war ganz gewiss auf ihre Art und Weise der glücklichste Mensch auf Erden. Sie selbst hatte ihrem Leben, das ihr nun wieder sinnvoll erschien, diese entscheidende Wendung gegeben, trotz aller Widrigkeiten, darauf war sie sehr stolz. Mittlerweile war es draußen auch wärmer geworden und nun sah Johanna, wie ihr die Blätter des Ebereschenbaumes in ihrem Garten von der Sonne angestrahlt einen schönen Gruß zuwinkten, als wollten sie sagen: Du hast die richtige Entscheidung getroffen. Auch den Konflikt mit deinem Eltern hast du nicht gescheut. Du musstest selber den ersten Schritt wagen, dein Leben zu planen und für dich selbst in die Hand zu nehmen. Und Johanna war überglücklich, dass ihr genau das gelungen war.